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Wirtschaftsrecht
11.07.2024
Wirtschaftsrecht
EuGH: Hypothekendarlehen – Kontrolle der Transparenz von Mindestzinssatzklauseln im Rahmen einer Verbandsklage möglich

EuGH, Urteil vom 4.7.2024 – C-450/22, Caixabank SA u. a. gegen Asociación de Usuarios de Bancos, Cajas de Ahorros y Seguros de España (Adicae) u. a.

ECLI:EU:C:2024:577

Volltext: BB-Online BBL2024-1665-1

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

1. Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen sind dahin auszulegen, dass sie es einem nationalen Gericht erlauben, die Kontrolle der Transparenz einer Vertragsklausel im Rahmen einer Verbandsklage vorzunehmen, die sich gegen zahlreiche Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors richtet und eine Vielzahl von Verträgen betrifft, sofern diese Verträge die gleiche Klausel oder ähnliche Klauseln enthalten.

2. Art. 4 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 sind dahin auszulegen, dass sie es einem nationalen Gericht, das mit einer Verbandsklage befasst ist, die sich gegen zahlreiche Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors richtet und eine Vielzahl von Verträgen betrifft, erlauben, die Kontrolle der Transparenz einer Vertragsklausel auf der Grundlage der Wahrnehmung eines normal informierten und angemessen aufmerksamen sowie verständigen Durchschnittsverbrauchers vorzunehmen, wenn sich diese Verträge an spezifische Verbrauchergruppen richten und die Klausel über einen sehr langen Zeitraum hinweg verwendet wurde. Hat sich jedoch während dieses Zeitraums die Gesamtwahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers in Bezug auf diese Klausel aufgrund des Eintretens eines objektiven Ereignisses oder einer allgemein bekannten Tatsache geändert, hindert die Richtlinie 93/13 das nationale Gericht nicht daran, diese Kontrolle unter Berücksichtigung der Entwicklung der Wahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers vorzunehmen, wobei die zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Hypothekendarlehensvertrags bestehende Wahrnehmung maßgeblich ist.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Caixabank SA als Rechtsnachfolgerin der Bankia SA und der Banco Mare Nostrum SA, der Caixa Ontinyent SA, der Banco Santander SA als Rechtsnachfolgerin der Banco Popular Español SA und der Banco Pastor SA, der Targobank SA, der Credifimo SAU, der Caja Rural de Teruel SCC, der Caja Rural de Navarra SCC, der Cajasiete Caja Rural SCC, der Caja Rural de Jaén, Barcelona y Madrid SCC, der Caja Laboral Popular SCC (Kutxa), der Caja Rural de Asturias SCC, der Arquia Bank SA, vormals Caja de Arquitectos SCC, der Nueva Caja Rural de Aragón SCC, der Caja Rural de Granada SCC, der Caja Rural del Sur SCC, der Caja Rural de Albacete, Ciudad Real y Cuenca SCC (Globalcaja), der Caja Rural Central SCC, der Caja Rural de Extremadura SCC, der Caja Rural de Zamora SCC, der Unicaja Banco SA als Rechtsnachfolgerin der Liberbank SA sowie der Banco Castilla-La Mancha SA, der Banco Sabadell SA, der Banca March SA, der Ibercaja Banco SA sowie der Banca Pueyo SA einerseits und der Asociación de Usuarios de Bancos, Cajas de Ahorros y Seguros de España (Adicae), einem spanischen Verband von Banken‑, Sparkassen- und Versicherungsnutzern, M.A.G.G., M.R.E.M., A.B.C., Óptica Claravisión SL, A.T.M., F.A.C., A.P.O., P.S.C. sowie J.V.M.B. als Rechtsnachfolger von C.M.R. andererseits wegen Unterlassung der Verwendung einer Klausel in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der von diesen Kreditinstituten geschlossenen Hypothekendarlehensverträge und wegen Rückerstattung der von den Nutzern insoweit gezahlten Beträge.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Der 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13 lautet:

„Personen und Organisationen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats ein berechtigtes Interesse geltend machen können, den Verbraucher zu schützen, müssen Verfahren, die Vertragsklauseln im Hinblick auf eine allgemeine Verwendung in Verbraucherverträgen, insbesondere missbräuchliche Klauseln, zum Gegenstand haben, bei Gerichten oder Verwaltungsbehörden, die für die Entscheidung über Klagen bzw. Beschwerden oder die Eröffnung von Gerichtsverfahren zuständig sind, einleiten können. Diese Möglichkeit bedeutet jedoch keine Vorabkontrolle der in einem beliebigen Wirtschaftssektor verwendeten allgemeinen Bedingungen.“

 

4          Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeuten:

b) Verbraucher: eine natürliche Person, die bei Verträgen, die unter diese Richtlinie fallen, zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“.

 

5          Art. 4 der Richtlinie 93/13 lautet:

„(1) Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.

(2) Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.“

 

6          Art. 5 dieser Richtlinie lautet:

„Sind alle dem Verbraucher in Verträgen unterbreiteten Klauseln oder einige dieser Klauseln schriftlich niedergelegt, so müssen sie stets klar und verständlich abgefasst sein. Bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel gilt die für den Verbraucher günstigste Auslegung. Diese Auslegungsregel gilt nicht im Rahmen der in Artikel 7 Absatz 2 vorgesehenen Verfahren.“

 

7          Art. 7 der Richtlinie 93/13 lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.

(2) Die in Absatz 1 genannten Mittel müssen auch Rechtsvorschriften einschließen, wonach Personen oder Organisationen, die nach dem innerstaatlichen Recht ein berechtigtes Interesse am Schutz der Verbraucher haben, im Einklang mit den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften die Gerichte oder die zuständigen Verwaltungsbehörden anrufen können, damit diese darüber entscheiden, ob Vertragsklauseln, die im Hinblick auf eine allgemeine Verwendung abgefasst wurden, missbräuchlich sind, und angemessene und wirksame Mittel anwenden, um der Verwendung solcher Klauseln ein Ende zu setzen.

(3) Die in Absatz 2 genannten Rechtsmittel können sich unter Beachtung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getrennt oder gemeinsam gegen mehrere Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors oder ihre Verbände richten, die gleiche allgemeine Vertragsklauseln oder ähnliche Klauseln verwenden oder deren Verwendung empfehlen.“

 

Spanisches Recht

Gesetz 7/1998

8          Die Ley 7/1998 sobre condiciones generales de la contratación (Gesetz 7/1998 über Allgemeine Geschäftsbedingungen) vom 13. April 1998 (BOE Nr. 89 vom 14. April 1998, S. 12304) in geänderter Fassung sieht in Art. 12 vor:

„1. Gegen die Verwendung oder Empfehlung der Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die im Widerspruch zu den Bestimmungen dieses Gesetzes oder anderen gesetzlichen Geboten oder Verboten stehen, kann eine Unterlassungsklage und eine Widerrufsklage erhoben werden.

2. Die Unterlassungsklage ist darauf gerichtet, ein Urteil zu erwirken, mit dem der Beklagte verurteilt wird, aus seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen diejenigen Klauseln zu entfernen, die für nichtig erklärt werden, und ihre weitere Verwendung zu unterlassen, wobei gegebenenfalls der als gültig und wirksam zu betrachtende Vertragsinhalt zu bestimmen oder klarzustellen ist.

Mit der Unterlassungsklage können akzessorisch eine Klage auf Rückerstattung der Beträge, die aufgrund der streitgegenständlichen Allgemeinen Geschäftsbedingungen geleistet wurden, sowie eine Klage auf Ersatz des Schadens, der durch die Anwendung dieser Bedingungen entstanden ist, verbunden werden.

…“

 

9          Art. 17 des Gesetzes 7/1998 bestimmt:

„1. Die Unterlassungsklage ist gegen jeden Gewerbetreibenden gegeben, der für nichtig erklärte Allgemeine Geschäftsbedingungen verwendet.

4. Die in den vorstehenden Absätzen genannten Klagen können gemeinsam gegen mehrere Gewerbetreibende desselben Wirtschaftszweigs oder gegen ihre Verbände erhoben werden, die identische für nichtig erklärte Allgemeine Geschäftsbedingungen verwenden oder deren Verwendung empfehlen.“

 

Königliches Gesetzesdekret 1/2007

10        Art. 53 des Real Decreto Legislativo 1/2007 por el que se aprueba el texto refundido de la Ley General para la Defensa de los Consumidores y Usuarios y otras leyes complementarias (Königliches Gesetzesdekret 1/2007 zur Genehmigung des konsolidierten Textes des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der Verbraucher und Nutzer sowie anderer, ergänzender Gesetze) vom 16. November 2007 (BOE Nr. 287 vom 30. November 2007, S. 49181) in geänderter Fassung bestimmt:

„Die Unterlassungsklage ist darauf gerichtet, ein Urteil zu erwirken, mit dem der Beklagte zur Unterlassung seines Verhaltens verurteilt wird, und dessen künftige Wiederholung verbieten zu lassen. Die Klage kann auch erhoben werden, um ein Verhalten verbieten zu lassen, das zum Zeitpunkt der Klageerhebung beendet ist, sofern hinreichende Anzeichen bestehen, aufgrund deren zu befürchten ist, dass sich das Verhalten sofort wiederholen wird.

Für die Zwecke der Bestimmungen dieses Kapitels wird auch die Empfehlung der Verwendung missbräuchlicher Klauseln als gegen das vorliegende Gesetz im Bereich missbräuchlicher Klauseln verstoßendes Verhalten angesehen.

Auf Antrag kann die Unterlassungsklage verbunden werden mit der Klage auf Feststellung der Nichtigkeit oder Nichtigerklärung, der Klage wegen Nichterfüllung von Verpflichtungen, der Klage auf Vertragsauflösung oder ‑aufhebung und der Klage auf Rückerstattung der Beträge, die aufgrund der Durchführung der für missbräuchlich oder nicht transparent erklärten Praktiken, Bestimmungen oder Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinnahmt wurden. Über diese verbundene akzessorische Klage entscheidet dasselbe Gericht, das über die Hauptsache, d. h. über die Unterlassungsklage, entscheidet, in der im Verfahrensrecht vorgesehenen Weise.“

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11        Am 15. November 2010 erhob die Adicae beim Juzgado de lo Mercantil n° 11 de Madrid (Handelsgericht Nr. 11 Madrid, Spanien) eine Verbandsklage auf Unterlassung gegen 44 Kreditinstitute, die gegen eine sogenannte Mindestzinssatzklausel in den von diesen Kreditinstituten verwendeten Allgemeinen Geschäftsbedingungen für Hypothekendarlehensverträge gerichtet war, die einen Mindestzinssatz vorsah, unter den der variable Zinssatz nicht sinken konnte (im Folgenden: Mindestzinssatzklausel), sowie auf Rückerstattung der von den betroffenen Verbrauchern auf der Grundlage dieser Klausel gezahlten Beträge. Diese Klage wurde später zweimal erweitert, so dass letztlich 101 Kreditinstitute verklagt wurden. Nach Verbreitung dreier Aufrufe in den spanischen Medien erschienen im Ausgangsverfahren 820 Verbraucher zur Unterstützung der Anträge der Adicae individuell vor Gericht.

 

12        Der Juzgado de lo Mercantil n° 11 de Madrid (Handelsgericht Nr. 11 Madrid) gab der Klage in Bezug auf 98 der 101 vor ihm verklagten Kreditinstitute statt. Gegenüber diesen Instituten stellte das Gericht die Nichtigkeit der Mindestzinssatzklausel fest, ordnete die Unterlassung der Verwendung dieser Klausel an und stellte den Fortbestand der betreffenden Hypothekendarlehensverträge fest. Außerdem verpflichtete es die genannten Institute zur Rückzahlung der in Anwendung dieser Klausel seit dem 9. Mai 2013, dem Tag der Veröffentlichung des Urteils Nr. 241/2013 des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) – mit dem dieses entschieden hatte, dass die Feststellung der Nichtigkeit einer Mindestzinssatzklausel ex nunc wirke –, zu Unrecht erhaltenen Beträge.

 

13        Die Audiencia Provincial de Madrid (Provinzgericht Madrid, Spanien) wies fast alle Berufungen der im ersten Rechtszug verurteilten Institute zurück.

 

14        Das Provinzgericht erläuterte die Kriterien, nach denen die Kontrolle der Transparenz einer Mindestzinssatzklausel im Rahmen einer Verbandsklage vorzunehmen sei, und entschied, dass bei der Prüfung der von Kreditinstituten verwendeten Standardmustern von Hypothekendarlehensverträgen zu untersuchen sei, ob sich diese Institute so verhalten hätten, dass sie die „wirtschaftlich-vermögensbezogene Wirkung“ einer solchen Klausel verschleiert oder verheimlicht hätten. Eine solche Verschleierung oder Verheimlichung liege vor, wenn die genannten Institute diese Klausel nicht als genauso wichtig darstellten und platzierten wie die anderen Klauseln, auf die der Durchschnittsverbraucher im Allgemeinen achte, wobei Letzterer davon ausgehe, dass diese anderen Klauseln, die sich auf den Referenzindex, auf den diesem Index hinzuzurechnenden Differenzbetrag oder auf die Dauer der betreffenden Rückzahlung bezögen, die Kosten des geschlossenen Vertrags bestimmten.

 

15        Die Audiencia Provincial de Madrid (Provinzgericht Madrid) stellte zudem bestimmte Verhaltensweisen der betreffenden Kreditinstitute fest, die eine solche Verschleierungs- oder Verheimlichungsabsicht belegten. Zu diesen Verhaltensweisen gehöre, dass diese Institute die Mindestzinssatzklausel im Zusammenhang mit Begriffen darstellten, die nichts mit dem Preis des fraglichen Hypothekendarlehensvertrags hätten, oder im Zusammenhang mit Umständen, die zu einer Senkung des Preises führen könnten, und so den Eindruck erweckten, die Mindestzinswirkung von Schwankungen des Referenzzinssatzes unterliege bestimmten Voraussetzungen oder Anforderungen, die die Anwendung dieser Klausel erschwerten, dass die Institute die Mindestzinssatzklausel in der Mitte oder am Ende langer Ausführungen darstellten, die sich zunächst auf andere Punkte bezogen hätten und in denen diese Klausel nur kurz erwähnt und nicht hervorgehoben werde, so dass die Aufmerksamkeit des Durchschnittsverbrauchers von ihr abgelenkt werde, oder aber, dass die Institute diese Klausel gemeinsam mit Klauseln zur Begrenzung des Anstiegs des variablen Zinssatzes (sog. Höchstzinssatzklauseln) darstellten, so dass die Aufmerksamkeit des Verbrauchers auf die scheinbare Sicherheit einer Obergrenze gegenüber dem hypothetischen Anstieg des Referenzindexes gerichtet und so von der Bedeutung der vertraglich festgelegten Mindestuntergrenze abgelenkt werde.

 

16        Die in der Berufung unterlegenen Kreditinstitute legten daraufhin beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof), dem vorlegenden Gericht, außerordentliche Rechtsmittel wegen Verfahrensfehlern und Kassationsbeschwerden gegen das Berufungsurteil ein.

 

17        Dieses Gericht führt aus, das Ausgangsverfahren werfe zwei gleich wichtige rechtliche Problemstellungen auf. Die erste Problemstellung betreffe die Frage, ob eine Verbandsklage ein geeigneter Verfahrensweg für die Prüfung der Transparenz von Mindestzinssatzklauseln sei, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine konkrete Beurteilung aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie der dem betreffenden Verbraucher zur Verfügung gestellten vorvertraglichen Informationen erfordern würde. Diese Frage sei umso relevanter, wenn sich die Verbandsklage wie im Ausgangsverfahren nicht gegen ein einzelnes Kreditinstitut richte, sondern alle Kreditinstitute des Bankensystems eines Landes betreffe, deren einziger gemeinsamer Nenner darin bestehe, dass in ihren Hypothekendarlehensverträgen mit variablem Zinssatz Mindestzinssatzklauseln mit mehr oder weniger unterschiedlichem Inhalt verwendet würden.

 

18        Das vorlegende Gericht verweist auf seine Rechtsprechung hierzu und stellt u. a. klar, dass es die Transparenz der Mindestzinssatzklauseln im Rahmen von Verbandsklagen geprüft habe, insbesondere in der Rechtssache, in der das Urteil 241/2013 vom 9. Mai 2013 ergangen sei, wobei es als Bezugsmaßstab auf die Wahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers abgestellt und die Merkmale der Standardmuster der betreffenden „Massenverträge“ berücksichtigt habe. In diesen Fällen sei die Verbandsklage jedoch nur gegen ein einzelnes Kreditinstitut oder gegen eine sehr begrenzte Anzahl von Kreditinstituten gerichtet gewesen, so dass es einfacher gewesen sei, die betreffenden Praktiken und Klauseln zu vereinheitlichen.

 

19        Dagegen seien im vorliegenden Fall nach den Statistiken der Banco de España (Bank von Spanien) Millionen Hypothekendarlehensverträge mit einer Vielzahl von Mustern und Formulierungen von Mindestzinssatzklauseln betroffen. Überdies seien diese Klauseln in der Zeit von Dezember 1989 bis Juni 2019 rechtmäßig verwendet worden, so dass sie aufeinanderfolgenden Regelungen unterlegen hätten, während sich die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses beziehen müsse.

 

 

20        Wenn eine Verbandsklage gegen eine beträchtliche Anzahl von Kreditinstituten erhoben werde, die Verwendung von Mindestzinssatzklauseln über einen sehr langen Zeitraum hinweg im Einklang mit aufeinanderfolgenden Regelungen betreffe und es nicht ermögliche, die vorvertraglichen Informationen zu überprüfen, die den betroffenen Verbrauchern in jedem Einzelfall zur Verfügung gestellt worden seien, sei es folglich äußerst schwierig, die Transparenz dieser Klauseln gemäß Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 zu überprüfen.

 

21        Die zweite vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Problematik betrifft die Schwierigkeit, den Durchschnittsverbraucher in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens zu bestimmen. Insoweit stellt das vorlegende Gericht klar, dass sich der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zwar auf einen normal informierten und angemessen aufmerksamen sowie verständigen Durchschnittsverbraucher beziehe (Urteil vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 51), dass aber der Aufmerksamkeitsgrad eines Verbrauchers aufgrund mehrerer Faktoren, u. a. den nationalen oder sektoriellen Werberegeln oder auch den Sprachelementen, die in den bereitgestellten Geschäftsinformationen verwendet würden, unterschiedlich hoch sein könne.

 

22        Im Ausgangsverfahren richteten sich die Mindestzinssatzklauseln an verschiedene spezifische Verbrauchergruppen, nämlich insbesondere an Verbraucher, die von Bauträgern geschlossene Hypothekendarlehen übernommen hätten, an Verbraucher, die unter Programme zur Finanzierung von Sozialwohnungen oder zum Zugang zu öffentlichen Wohnungen nach bestimmten Altersgruppen fielen, oder an Verbraucher, die aufgrund ihres Berufs Sonderkredite in Anspruch genommen hätten, so dass es schwierig sei, den Begriff „Durchschnittsverbraucher“ bei der Prüfung der Transparenz dieser Klauseln anzuwenden.

 

23        Unter diesen Umständen hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist es mit Art. 4 Abs. 1 (Bezugnahme auf alle den Vertragsabschluss begleitenden Umstände) und Art. 7 Abs. 3 (Bezugnahme auf ähnliche Klauseln) der Richtlinie 93/13 vereinbar, Klauseln, die von über 100 Finanzinstituten in Millionen von Bankverträgen verwendet wurden, mit dem Ziel der Transparenzkontrolle im Rahmen einer Verbandsklage abstrakt zu beurteilen, ohne die Qualität der zur Verfügung gestellten vorvertraglichen Informationen über die rechtlichen und wirtschaftlichen Nachteile der jeweiligen Klausel oder die übrigen im jeweiligen Einzelfall den Vertragsabschluss begleitenden Umstände zu berücksichtigen?

2. Ist es mit Art. 4 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 vereinbar, eine abstrakte Transparenzkontrolle aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers vorzunehmen, wenn mehrere Vertragsangebote an verschiedene spezifische Verbrauchergruppen gerichtet sind oder wenn die verwendenden Unternehmen zahlreich sind, wirtschaftlich und geografisch sehr unterschiedliche Tätigkeitsbereiche aufweisen und die fraglichen Klauseln über einen sehr langen Zeitraum hinweg verwendet haben, in dem sich das öffentliche Bewusstsein darüber nach und nach entwickelt hat?

Vorlagefragen

Zur ersten Frage

24        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass sie es einem nationalen Gericht erlauben, die Kontrolle der Transparenz einer Vertragsklausel im Rahmen einer Verbandsklage vorzunehmen, die sich gegen zahlreiche demselben Wirtschaftssektor angehörende Gewerbetreibende richtet und eine Vielzahl von Verträgen betrifft.

 

25        Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Verbraucher in dem durch die Richtlinie 93/13 geschaffenen Schutzsystem ihre in dieser Richtlinie anerkannten Rechte sowohl im Wege einer Individualklage als auch im Wege einer Verbandsklage geltend machen können.

 

26        Neben dem subjektiven Recht des Verbrauchers, ein Gericht mit der Prüfung der Missbräuchlichkeit einer Klausel eines von ihm geschlossenen Vertrags zu befassen, erlaubt der in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 vorgesehene Mechanismus den Mitgliedstaaten, eine Kontrolle der in Musterverträgen enthaltenen missbräuchlichen Klauseln mit von Verbraucherschutzvereinigungen im öffentlichen Interesse erhobenen Unterlassungsklagen einzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2016, Sales Sinués und Drame Ba, C‑381/14 und C‑385/14, EU:C:2016:252, Rn. 21).

 

27        Nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 können sich derartige Klagen unter Beachtung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getrennt oder gemeinsam gegen mehrere Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors oder ihre Verbände richten, die gleiche allgemeine Vertragsklauseln oder ähnliche Klauseln verwenden oder deren Verwendung empfehlen.

 

28        Die in der Richtlinie 93/13 anerkannten Rechte können somit zwar mittels einer Individualklage oder einer Verbandsklage geltend gemacht werden, doch haben diese Klagen im Rahmen der Richtlinie unterschiedliche Gegenstände und Rechtswirkungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2016, Sales Sinués und Drame Ba, C‑381/14 und C‑385/14, EU:C:2016:252, Rn. 30).

 

 

29        Folglich verlangt die bestehende Ungleichheit zwischen einem Verbraucher und dem betreffenden Gewerbetreibenden, auf der das mit der Richtlinie 93/13 geschaffene Schutzsystem beruht, in Bezug auf Individualklagen ein positives Eingreifen des nationalen Gerichts, das von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel – wie Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie verlangt – unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des betreffenden Vertrags sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln dieses Vertrags oder eines Vertrags, von dem dieser abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses prüfen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2016, Sales Sinués und Drame Ba, C‑381/14 und C‑385/14, EU:C:2016:252, Rn. 21 bis 24 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

30        Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 ergibt, lässt jedoch die Berücksichtigung aller den Abschluss eines Vertrags begleitenden konkreten Umstände, die für Individualklagen kennzeichnend ist, die Anwendung von Art. 7 der Richtlinie unberührt und darf daher der Erhebung einer Verbandsklage nicht entgegenstehen.

 

31        Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass der präventive Charakter und der Abschreckungszweck der Unterlassungsklagen, die von den in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 genannten Personen oder Organisationen, die ein berechtigtes Interesse am Schutz der Verbraucher haben, erhoben werden, sowie die Unabhängigkeit dieser Klagen von einzelnen konkreten Streitigkeiten zur Folge haben, dass diese Klagen auch dann zur Verfügung stehen müssen, wenn die Klauseln, deren Verbot beantragt wird, nicht konkret in Verträgen verwendet worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2016, Sales Sinués und Drame Ba, C‑381/14 und C‑385/14, EU:C:2016:252, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

32        Was insbesondere das Verhältnis zwischen Individualklagen und Verbandsklagen betrifft, ist es mangels Harmonisierung der für dieses Verhältnis geltenden verfahrensrechtlichen Mittel in der Richtlinie 93/13 Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, entsprechende Regeln festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der den Verbrauchern durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2016, Sales Sinués und Drame Ba, C‑381/14 und C‑385/14, EU:C:2016:252, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Regeln dürfen somit nicht die tatsächliche Ausübung der den Verbrauchern in der Richtlinie 93/13 eröffneten Wahlmöglichkeit beeinträchtigen, ihre Rechte entweder im Wege einer Individualklage geltend zu machen oder im Wege einer Verbandsklage, indem sie sich durch eine Organisation vertreten lassen, die ein berechtigtes Interesse an ihrem Schutz hat.

 

33        Im vorliegenden Fall stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, inwieweit eine Verbandsklage ein geeigneter gerichtlicher Mechanismus ist, um die Transparenz einer Mindestzinssatzklausel in Hypothekendarlehensverträgen überprüfen zu lassen, wenn diese Klage gegen zahlreiche Gewerbetreibende gerichtet ist, die über einen langen Zeitraum hinweg zahlreiche derartige Verträge geschlossen haben.

 

34        Erstens ist zum Begriff „Transparenz“ im Kontext der Richtlinie 93/13 darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis der Transparenz von Vertragsklauseln eine allgemeine Regel darstellt, die auf die Abfassung von Klauseln in Verbraucherverträgen anwendbar ist. Art. 5 der Richtlinie sieht insoweit vor, dass im Fall von Verträgen, bei denen alle dem Verbraucher unterbreiteten Klauseln oder einige dieser Klauseln schriftlich niedergelegt sind, diese Klauseln „stets klar und verständlich abgefasst sein [müssen]“.

 

35        Der Umfang dieser Pflicht zur klaren und verständlichen Abfassung, in der das für Gewerbetreibende bestehende Transparenzgebot zum Ausdruck kommt, hängt nicht von der Klageart – Individual- oder Verbandsklage – ab, mit der ein Verbraucher oder eine Organisation, die ein berechtigtes Interesse am Schutz des Verbrauchers hat, die in der Richtlinie 93/13 anerkannten Rechte geltend machen will.

 

36        Daher ist die aus Individualklagen hervorgegangene Rechtsprechung zum Transparenzgebot auf Verbandsklagen übertragbar. Dieses Gebot kann nach der genannten Rechtsprechung nicht auf die bloße Verständlichkeit einer Klausel in formaler und grammatikalischer Hinsicht beschränkt werden, sondern ist im Gegenteil umfassend zu verstehen, da das mit der Richtlinie 93/13 eingeführte Schutzsystem auf dem Gedanken beruht, dass der Verbraucher gegenüber dem Gewerbetreibenden u. a. einen geringeren Informationsstand besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. März 2023, Caixabank [Provision für die Bereitstellung des Darlehens], C‑565/21, EU:C:2023:212, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

37        Das Transparenzgebot verlangt somit nicht nur, dass eine Klausel in formaler und grammatikalischer Hinsicht für den Verbraucher nachvollziehbar sein muss, sondern auch, dass ein normal informierter und angemessen aufmerksamer sowie verständiger Durchschnittsverbraucher in die Lage versetzt werden muss, die konkrete Funktionsweise dieser Klausel zu verstehen und somit auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien die möglicherweise beträchtlichen wirtschaftlichen Folgen einer solchen Klausel für seine finanziellen Verpflichtungen einzuschätzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, BNP Paribas Personal Finance, C‑776/19 bis C‑782/19, EU:C:2021:470, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

38        Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass in dem durch die Richtlinie 93/13 geschaffenen Schutzsystem die gerichtliche Kontrolle der Transparenz von Vertragsklauseln nicht auf Klauseln beschränkt werden kann, die Gegenstand von Individualklagen sind. Keine Bestimmung dieser Richtlinie lässt nämlich die Annahme zu, dass diese Kontrolle in Bezug auf Klauseln ausgeschlossen wäre, die Gegenstand von Verbandsklagen sind, allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie eingehalten werden, nämlich, dass sich eine Verbandsklage, wenn sie gegen mehrere Gewerbetreibende angestrengt wird, gegen Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors richtet, die zudem gleiche allgemeine Vertragsklauseln oder ähnliche Klauseln verwenden oder deren Verwendung empfehlen.

 

39        Zweitens ist zu der vom nationalen Gericht im Rahmen einer Verbandsklage vorzunehmenden Prüfung der Transparenz einer Vertragsklausel festzustellen, dass sich diese Prüfung bereits ihrem Wesen nach nicht auf die Umstände einzelner Situationen beziehen kann, sondern standardmäßige Praktiken von Gewerbetreibenden betrifft.

 

40        Daher ist die Verpflichtung des nationalen Gerichts, im Rahmen einer Individualklage unter Berücksichtigung der den Abschluss des betreffenden Vertrags begleitenden Umstände sowie der vor Abschluss dieses Vertrags erfolgten Information über die Vertragsbedingungen und die Folgen des Vertragsschlusses zu prüfen, ob dem betreffenden Verbraucher sämtliche Tatsachen mitgeteilt wurden, die sich auf seine Verpflichtung auswirken könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 38 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), an die Besonderheiten von Verbandsklagen anzupassen, insbesondere unter Berücksichtigung des präventiven Charakters von Verbandsklagen und ihrer Unabhängigkeit von einzelnen konkreten Streitigkeiten (siehe oben, Rn. 31).

 

41        So hat das nationale Gericht im Rahmen einer Verbandsklage bei der Beurteilung der Transparenz einer Vertragsklausel, wie z. B. einer Mindestzinssatzklausel, unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand der betreffenden Verträge sind, zu prüfen, ob der normal informierte und angemessen aufmerksame sowie verständige Durchschnittsverbraucher zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in der Lage ist, die Funktionsweise dieser Klausel zu verstehen und die möglicherweise beträchtlichen wirtschaftlichen Folgen dieser Klausel einzuschätzen. Zu diesem Zweck hat das nationale Gericht sämtliche standardmäßigen Vertrags- und vorvertraglichen Praktiken des jeweils betroffenen Gewerbetreibenden zu berücksichtigen, zu denen insbesondere der Wortlaut der in Rede stehenden Klausel und ihre Stellung in den vom jeweiligen Gewerbetreibenden verwendeten Musterverträgen, die Werbung für die von der Verbandsklage betroffenen Vertragstypen, die Verbreitung allgemeiner vorvertraglicher Angebote an Verbraucher sowie alle anderen Umstände gehören, die das nationale Gericht als relevant für die Ausübung seiner Kontrolle in Bezug auf den jeweiligen Beklagten ansieht.

 

42        Drittens ist zur Frage, ob die Komplexität einer Rechtssache wegen der Vielzahl der Beklagten, der über einen langen Zeitraum hinweg geschlossenen Verträge und der vielfältigen Formulierungen der betreffenden Klauseln einer Kontrolle der Transparenz dieser Klauseln entgegenstehen kann, zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13, wie in Rn. 38 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Erhebung einer Verbandsklage gegen mehrere Gewerbetreibende von zwei Voraussetzungen abhängig macht, nämlich zum einen, dass eine solche Klage gegen Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors gerichtet ist, und zum anderen, dass diese Gewerbetreibenden gleiche allgemeine Vertragsklauseln oder ähnliche Klauseln verwenden oder deren Verwendung empfehlen.

 

43        In Bezug auf die erste dieser Voraussetzungen ist im vorliegenden Fall unstreitig, dass die Beklagten des Ausgangsverfahrens demselben Wirtschaftssektor angehören, nämlich dem der Kreditinstitute. Der Umstand, dass sich die im Ausgangsverfahren erhobene Klage gegen eine beträchtliche Anzahl von Kreditinstituten richtet, ist kein maßgebliches Kriterium für die Beurteilung der Verpflichtung des nationalen Gerichts, die Transparenz ähnlicher Vertragsklauseln im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 zu prüfen, da Verbandsklagen, wie sich aus dieser Bestimmung ergibt, getrennt oder gemeinsam gegen mehrere Gewerbetreibende desselben Sektors erhoben werden können. Die Komplexität einer Rechtssache darf nämlich nicht die Wirksamkeit der den Verbrauchern durch die Richtlinie 93/13 zuerkannten subjektiven Rechte beeinträchtigen, die durch die organisatorischen Herausforderungen einer Rechtssache nicht in Frage gestellt werden darf.

 

44        Zur zweiten dieser Voraussetzungen ist festzustellen, dass das nationale Gericht unter Beachtung seines innerstaatlichen Rechts festzustellen hat, ob zwischen den von einer Verbandsklage betroffenen Vertragsklauseln hinreichende Ähnlichkeit besteht, um die Erhebung dieser Klage zuzulassen. Insoweit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13, dass diese Klauseln nicht identisch sein müssen. Außerdem kann eine solche Ähnlichkeit nicht allein dadurch ausgeschlossen werden, dass die Verträge, in denen die Klauseln enthalten sind, zu verschiedenen Zeitpunkten oder unter der Geltung verschiedener Regelungen geschlossen wurden, da andernfalls Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 93/13 weitgehend ausgehöhlt und damit die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung beeinträchtigt würde.

 

45        Im vorliegenden Fall enthalten die Mindestzinssatzklauseln, die in den betreffenden Hypothekendarlehensverträgen verwendet werden, vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen offensichtlich im Wesentlichen die Angabe eines Mindestzinssatzes, unter den der variable Zinssatz nicht sinken kann, wobei der Mechanismus ihrer Funktionsweise grundsätzlich immer derselbe ist. Diese Klauseln scheinen daher als „ähnlich“ im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 eingestuft werden zu können.

 

46        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass sie es einem nationalen Gericht erlauben, die Kontrolle der Transparenz einer Vertragsklausel im Rahmen einer Verbandsklage vorzunehmen, die sich gegen zahlreiche Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors richtet und eine Vielzahl von Verträgen betrifft, sofern diese Verträge die gleiche Klausel oder ähnliche Klauseln enthalten.

 

Zur zweiten Frage

47        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 es einem nationalen Gericht, das mit einer Verbandsklage befasst ist, die sich gegen zahlreiche Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors richtet und eine Vielzahl von Verträgen betrifft, erlauben, die Kontrolle der Transparenz einer Vertragsklausel auf der Grundlage der Wahrnehmung eines normal informierten und angemessen aufmerksamen sowie verständigen Durchschnittsverbrauchers vorzunehmen, wenn sich diese Verträge an spezifische Verbrauchergruppen richten und die Klausel über einen sehr langen Zeitraum hinweg verwendet wurde, in dem sich der Kenntnisstand über die Klausel geändert hat.

 

48        Hierzu ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung und wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt die Transparenz einer Vertragsklausel und das Ausmaß, in dem diese Klausel es ermöglicht, ihre Funktionsweise zu verstehen und ihre möglicherweise beträchtlichen wirtschaftlichen Folgen einzuschätzen, unter Berücksichtigung der Wahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers geprüft werden, der als normal informiert und angemessen aufmerksam sowie verständig definiert wird (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile vom 20. September 2017, Andriciuc u. a., C‑186/16, EU:C:2017:703, Rn. 51, und vom 20 April 2023, Ocidental – Companhia Portuguesa de Seguros de Vida, C‑263/22, EU:C:2023:311, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

49        Analog zum Oberbegriff „Verbraucher“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 93/13, der objektiven Charakter hat und unabhängig von den konkreten Kenntnissen und Informationen ist, über die die betreffende Person tatsächlich verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2019, Pouvin und Dijoux, C‑590/17, EU:C:2019:232, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann durch die Verwendung eines abstrakten Bezugskriteriums für die Kontrolle der Transparenz einer Vertragsklausel vermieden werden, dass diese Kontrolle vom Vorliegen eines komplexen Bündels subjektiver Faktoren abhängig gemacht wird, deren Nachweis schwierig oder sogar unmöglich ist.

 

50        Wie die Generalanwältin sinngemäß in Nr. 83 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, können, da im Rahmen einer Individualklage die besonderen Kenntnisse, die einem Verbraucher unterstellt werden, nicht geeignet sind, eine Abweichung vom Kenntnisstand des Durchschnittsverbrauchers zu rechtfertigen, die individuellen Merkmale verschiedener Verbrauchergruppen erst recht nicht im Rahmen einer Verbandsklage berücksichtigt werden.

 

51        Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Verbandsklage im Ausgangsverfahren wegen der beträchtlichen Anzahl von Gewerbetreibenden, die Hypothekendarlehensverträge geschlossen hätten, ihrer geografischen Verteilung über das gesamte Staatsgebiet und des langen Zeitraums der Verwendung der Mindestzinssatzklauseln, in dem aufeinanderfolgende Regelungen erlassen worden seien, spezifische Verbrauchergruppen betreffe, die schwer zu bündeln seien, nämlich insbesondere Verbraucher, die von Bauträgern geschlossene Darlehen übernommen hätten, Verbraucher, die unter Programme zur Finanzierung von Sozialwohnungen oder zum Zugang zu öffentlichen Wohnungen nach bestimmten Altersgruppen fielen, oder auch Verbraucher, die aufgrund ihres Berufs Sonderkredite in Anspruch genommen hätten.

 

52        Gerade wegen der Heterogenität der betroffenen Verkehrskreise, aufgrund deren es unmöglich ist, die individuelle Wahrnehmung aller diese Verkehrskreise bildenden Einzelpersonen zu prüfen, ist es jedoch erforderlich, auf die rechtliche Fiktion des Durchschnittsverbrauchers zurückzugreifen, die darin besteht, Letzteren als ein und dieselbe abstrakte Einheit zu begreifen, deren Gesamtwahrnehmung für die Prüfung relevant ist.

 

53        Folglich wird das vorlegende Gericht im Rahmen seiner Prüfung der Transparenz der Mindestzinssatzklauseln zum Zeitpunkt des Abschlusses der betreffenden Hypothekendarlehensverträge auf die Wahrnehmung des normal informierten und angemessen aufmerksamen sowie verständigen Durchschnittsverbrauchers abzustellen haben, und zwar unabhängig von den Unterschieden zwischen den einzelnen Verbrauchern, an die diese Verträge gerichtet sind, insbesondere hinsichtlich des Kenntnisstands über die Mindestzinssatzklausel, der Einkommenshöhe, des Alters oder der beruflichen Tätigkeit. Der Umstand, dass sich diese Verträge an spezifische Verbrauchergruppen richten, kann zu keinem anderen Ergebnis führen. Ein nationales Gericht kann sich nämlich bei der Prüfung der Transparenz von Klauseln, die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen aller dieser Verträge enthalten sind und deren Funktionsweise im Wesentlichen identisch ist, da sie die Senkung des variablen Zinssatzes über eine bestimmte Höhe hinaus begrenzen, weder auf die Wahrnehmung eines unterdurchschnittlich noch auf die eines überdurchschnittlich verständigen Verbrauchers stützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2023, mBank [polnisches Verzeichnis unzulässiger Klauseln], C‑139/22, EU:C:2023:692, Rn. 66).

 

54        Es kann jedoch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass das vorlegende Gericht aufgrund des Eintretens eines objektiven Ereignisses oder einer allgemein bekannten Tatsache, wie einer Änderung der anwendbaren Regelung oder einer vielfach verbreiteten und besprochenen Entwicklung der Rechtsprechung der Auffassung ist, dass sich die Gesamtwahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers in Bezug auf die Mindestzinssatzklausel während des Referenzzeitraums geändert und es dem Durchschnittsverbraucher ermöglicht habe, sich der möglicherweise beträchtlichen wirtschaftlichen Folgen dieser Klausel bewusst zu werden.

 

55        In einem solchen Fall steht die Richtlinie 93/13 dem nicht entgegen, dass die Entwicklung der Wahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers in diesem Zeitraum berücksichtigt wird, so dass der Informationsstand und der Aufmerksamkeitsgrad des Durchschnittsverbrauchers vom Zeitpunkt des Abschlusses der Hypothekendarlehensverträge abhängen können. Das vorlegende Gericht muss jedoch von dieser Möglichkeit auf der Grundlage konkreter und objektiver Umstände Gebrauch machen, die eine solche Änderung belegen; bloßer Zeitablauf reicht für die Vermutung einer Änderung nicht aus.

 

56        Im vorliegenden Fall könnte dieses objektive Ereignis oder diese allgemein bekannte Tatsache, wie sich aus den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ergibt, in dem für die 2000er Jahre kennzeichnenden Zusammenbruch der Zinssätze, der zur Anwendung der Mindestzinssatzklauseln und somit dazu geführt hat, dass sich die Verbraucher der wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Klauseln bewusst wurden, oder in der Verkündung des Urteils Nr. 241/2013 des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vom 9. Mai 2013 bestehen, mit dem festgestellt wurde, dass diese Klauseln nicht transparent seien. Das vorlegende Gericht wird zum Zweck der Kontrolle der Transparenz dieser Klauseln zu prüfen haben, ob der Zusammenbruch der Zinssätze oder die Verkündung dieses Urteils im Lauf der Zeit eine Änderung des Aufmerksamkeitsgrads und des Informationsstands des Durchschnittsverbrauchers zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Hypothekendarlehensvertrags zur Folge haben konnte.

 

57        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass sie es einem nationalen Gericht, das mit einer Verbandsklage befasst ist, die sich gegen zahlreiche Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors richtet und eine Vielzahl von Verträgen betrifft, erlauben, die Kontrolle der Transparenz einer Vertragsklausel auf der Grundlage der Wahrnehmung eines normal informierten und angemessen aufmerksamen sowie verständigen Durchschnittsverbrauchers vorzunehmen, wenn sich diese Verträge an spezifische Verbrauchergruppen richten und die Klausel über einen sehr langen Zeitraum hinweg verwendet wurde. Hat sich jedoch während dieses Zeitraums die Gesamtwahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers in Bezug auf diese Klausel aufgrund des Eintretens eines objektiven Ereignisses oder einer allgemein bekannten Tatsache geändert, hindert die Richtlinie 93/13 das nationale Gericht nicht daran, diese Kontrolle unter Berücksichtigung der Entwicklung der Wahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers vorzunehmen, wobei die zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Hypothekendarlehensvertrags bestehende Wahrnehmung maßgeblich ist.

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