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Wirtschaftsrecht
23.08.2023
Wirtschaftsrecht
BGH: Handwerker-Widerruf: Widerrufsrecht bei Vertragsschluss bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien außerhalb von Geschäftsräumen

BGH, Urteil vom 6.7.2023 – VII ZR 151/22

ECLI:DE:BGH:2023:060723UVIIZR151.22.0

Volltext: BB-Online BBL2023-1921-3

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Amtlicher Leitsatz

Ein Vertragsschluss bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien außerhalb von Geschäftsräumen im Sinne des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB liegt nicht vor, wenn der Verbraucher ein vom Unternehmer am Vortag unterbreitetes Angebot am Folgetag außerhalb von Geschäftsräumen lediglich annimmt.

BGB § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2

 

Sachverhalt

Die Parteien streiten - soweit für die Revision noch von Interesse - über die Wirksamkeit eines von den Klägern erklärten Widerrufs einer auf den Abschluss eines Werkvertrags gerichteten Willenserklärung.

Die Kläger sind Eigentümer eines Reihenhauses, der Beklagte führt einen Dachdeckerbetrieb. Mit einem ersten Auftrag beauftragten die Kläger den Beklagten im Sommer 2018 mit der Erneuerung von Dachrinnen und mit Abdichtungsarbeiten im Eingangsbereich ihres Reihenhauses. Während der Ausführung der Arbeiten am 22. und 23. August 2018 bemerkte ein Mitarbeiter des Beklagten, dass der Wandanschluss des Daches defekt war, und teilte dies dem Kläger mit. Nachdem der Beklagte dem Kläger die ungefähre Größenordnung der für diese Arbeiten anfallenden Vergütung sowie die voraussichtliche Dauer der Arbeiten mitgeteilt hatte, beauftragte der Kläger den Beklagten auch mit diesen Arbeiten ("Wakaflex"), die anschließend ausgeführt wurden. Die Ausführung der Arbeiten zu einem späteren Zeitpunkt wäre mit Mehrkosten für die Kläger verbunden gewesen, weil dies die erneute Aufstellung eines Gerüsts erfordert hätte. Die Arbeiten wurden vom Beklagten mangelfrei erbracht. Der für beide Aufträge vom Beklagten in Rechnung gestellte Betrag, davon 1.164,38 € brutto für den Auftrag "Wakaflex", wurde von den Klägern vollständig bezahlt.

Mit Schreiben vom 5. September 2019, welches an diesem Tag um 19:35 Uhr in den Briefkasten des Beklagten eingelegt wurde, widerriefen die Kläger beide Aufträge. Bei einem anschließenden zufälligen Treffen überreichte der Kläger dem Beklagten einen Flyer, der mit "Der Handwerker-Widerruf - Schützen Sie sich vor unseriösen Handwerkern" überschrieben war, und erklärte, dass er daraus ein neues Geschäftsmodell entwickelt habe.

Die Kläger haben die Auffassung vertreten, ihnen stünde hinsichtlich des ersten Auftrags einschließlich des Zusatzauftrags "Wakaflex" ein Widerrufsrecht wegen eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrages zu. Mit der Klage haben sie den Beklagten auf Rückzahlung der für beide Aufträge entrichteten Vergütung in Anspruch genommen.

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen und ausgeführt, die Ausübung des Widerrufsrechts durch die Kläger sei rechtsmissbräuchlich gewesen. Auf die Berufung der Kläger hat das Berufungsgericht das amtsgerichtliche Urteil teilweise abgeändert und den Beklagten zur Rückzahlung der für den Zusatzauftrag "Wakaflex" gezahlten Vergütung in Höhe von 1.164,38 € verurteilt.

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision möchte der Beklagte weiterhin die vollständige Abweisung der Klage erreichen.

Aus den Gründen

7          Die Revision des Beklagten hat Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, soweit dieses zum Nachteil des Beklagten erkannt hat.            I.

 

8          Das Berufungsgericht hat - soweit für die Revision von Interesse - zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Kläger hätten einen Anspruch auf Rückzahlung des Werklohns für den Zusatzauftrag "Wakaflex" in Höhe von 1.164,38 € gemäß § 355 Abs. 3 Satz 1, § 357 Abs. 1 BGB, da sie wirksam den Widerruf ihrer auf Erteilung des Zusatzauftrags gerichteten Willenserklärung erklärt hätten. Der zusätzliche Auftrag, den die Kläger anlässlich der Ausführung des bestehenden Auftrags erteilt hätten und der vom Beklagten zusammen mit diesem abgerechnet worden sei, unterliege einem eigenständigen Widerrufsrecht, das unabhängig davon, wie und wann der Hauptauftrag zustande gekommen sei, zu bewerten sei. Der streitgegenständliche Zusatzauftrag "Wakaflex" stehe mit der Leistung des Hauptauftrags in keinem engen technischen Zusammenhang. Es handele sich vielmehr um eine andere Leistung an einem anderen Bauteil. Es gebe allein einen wirtschaftlichen Zusammenhang, indem die gleichzeitige Ausführung beider Arbeiten spätere neue Gerüstkosten erspart habe. Die Initiative zum Zusatzauftrag sei nicht von den Klägern, sondern vom Beklagten ausgegangen, dessen Mitarbeiter ein Defekt des Wandanschlusses aufgefallen sei. Es sei eine zeitnahe Entscheidung vor Ort erforderlich gewesen, weil nach zwei Tagen das Gerüst schon wieder habe abgebaut werden sollen.

 

9          Auch ein genereller Ausschluss des Widerrufsrechts im Hinblick darauf, dass die Beauftragung im engen Zusammenhang mit der Ausführung eines bestehenden Vertragsverhältnisses und während der Erbringung vertraglich vereinbarter Leistungen stattgefunden habe, komme nicht in Betracht. Ein Ausnahmefall nach § 312 Abs. 2 BGB liege nicht vor. Es handele sich nicht um einen Verbraucherbauvertrag nach § 650i Abs. 1 BGB, da Vertragsgegenstand keine erheblichen Umbaumaßnahmen seien. § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB schließe das Widerrufsrecht ebenfalls nicht aus, da die Kläger im Hinblick auf den Zusatzauftrag den Beklagten nicht ausdrücklich aufgefordert hätten, sie aufzusuchen.

 

10        Es liege ein Fall des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB vor, da der Auftrag unstreitig vor Ort erteilt worden sei. Soweit der Beklagte sich darauf berufe, dass auch insoweit eine gestufte Vorgehensweise mit Ortstermin, Angebot und anschließender Auftragserteilung stattgefunden habe, könne letztlich dahinstehen, ob eine solche Verfahrensweise prinzipiell einem Widerrufsrecht entgegenstehe. Dem Zusatzauftrag sei unstreitig kein Ortstermin auf Wunsch des Bestellers vorausgegangen, sondern der Beklagte beziehungsweise sein Mitarbeiter seien aus einem anderen Grund vor Ort gewesen, nämlich um den Hauptauftrag auszuführen. Der Auftrag sei nach Erläuterung der Kostenhöhe und des Zeitaufwands vor Ort bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit von Kläger und Beklagtem erteilt worden.

 

11        Die Kläger hätten den Zusatzauftrag wirksam widerrufen. Der Widerruf sei rechtzeitig erfolgt. Da die Kläger über ihr Widerrufsrecht nicht belehrt worden seien, sei die Widerrufsfrist erst nach einem Jahr und 14 Tagen, mithin am 5. September 2019, abgelaufen. Der mit dem am Abend des 5. September 2019 in den Briefkasten des Beklagten eingelegten Schreiben erklärte Widerruf sei rechtzeitig gewesen, weil es gemäß § 355 Abs. 1 Satz 5 BGB auf die rechtzeitige Absendung des Widerrufs ankomme. Diese Regelung gelte auch für die "lange Widerrufsfrist" im Fall einer fehlenden Belehrung.

 

12        Die Berufung auf das Widerrufsrecht sei auch nicht treuwidrig. Dass die Kläger arglistig gehandelt hätten, indem sie es darauf angelegt hätten, den Beklagten zu schädigen oder zu schikanieren, lasse sich nicht feststellen. Hierfür reiche der Umstand, dass sie nach vollständiger und ordnungsgemäßer Ausführung des Vertrags von ihrem Widerrufsrecht Gebrauch gemacht hätten, allein nicht aus. Eine andere Beurteilung sei auch nicht vor dem Hintergrund gerechtfertigt, dass der Kläger unstreitig beabsichtigt habe, in Bezug auf den Widerruf von Bauverträgen ein Geschäftsmodell zu entwickeln. Es ergebe sich aus dem Parteivortrag nicht, dass dies auch schon zum Zeitpunkt der Erteilung des Zusatzauftrags der Fall gewesen sei und der Auftrag mit der Intention erteilt worden sei, ihn später zu widerrufen. Ein Fall unzulässiger Rechtsausübung liege auch nicht im Hinblick darauf vor, dass die Kläger durch die unmittelbare Beauftragung vor Ort einen Vorteil erlangt hätten, den sie bei einem schriftlichen Angebot mit Widerrufsbelehrung sowie Belehrung über die Folgen einer Ausführung des Vertrags vor Ablauf der Widerrufsfrist nicht gehabt hätten, nämlich die Ersparnis zusätzlicher Gerüstkosten und die zeitnahe Reparatur eines Mangels. Letztlich habe es der Unternehmer in der Hand, durch Vorhaltung entsprechender Formulare vor Ort die Belehrungen vorzunehmen und sich hierdurch vor den sich ergebenden Rechtsfolgen bei vorzeitiger Ausführung vor Ablauf der Widerrufsfrist zu schützen.

 

13        Für die Abdichtungsarbeiten schuldeten die Kläger auch keinen Wertersatz, da sie nicht über die Bedingungen, die Fristen und die Ausübung des Widerrufsrechts sowie das Muster-Widerrufsformular unterrichtet worden seien.   II.

 

14        Dies hält der rechtlichen Nachprüfung in einem entscheidenden Gesichtspunkt nicht stand.

 

15        1. Zu Recht hat das Berufungsgericht allerdings geprüft, ob den Klägern gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB i.V.m. § 312b Abs. 1 BGB hinsichtlich des Zusatzauftrags "Wakaflex" unabhängig von dem ersten Auftrag ein Widerrufsrecht zustand. Ist davon auszugehen, dass die Parteien hinsichtlich der Reparatur des defekten Wandanschlusses einen weiteren Vertrag geschlossen haben, kann den Klägern als Verbrauchern in Bezug hierauf ein eigenständiges Widerrufsrecht zustehen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts waren die mit dem Zusatzauftrag "Wakaflex" in Auftrag gegebenen Arbeiten vom ursprünglich erteilten Auftrag an den Beklagten, der die Erneuerung von Dachrinnen und Abdichtungsarbeiten im Eingangsbereich des Hauses betraf, nicht umfasst. Dies lässt Rechtsfehler nicht erkennen und wird auch von der Revision nicht angegriffen.

 

16        2. Das Berufungsgericht ist jedoch, wie die Revision mit Recht rügt, aufgrund einer fehlerhaften Würdigung des Vorbringens des Beklagten unter Verstoß gegen § 286 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG davon ausgegangen, dass den Klägern hinsichtlich des Zusatzauftrags "Wakaflex" ein Widerrufsrecht gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1, § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB zustand. Bei seiner Annahme, der Zusatzauftrag sei unstreitig bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien vor Ort erteilt worden, hat das Berufungsgericht das von ihm im Tatbestand als streitig dargestellte Vorbringen des Beklagten, wonach der Zusatzauftrag wie auch der Hauptauftrag abgestuft erteilt worden sei, nicht hinreichend beachtet.

 

17        a) Der Beklagte hat hierzu in erster Instanz unter Benennung eines Zeugen vorgetragen und in der Berufungsinstanz wiederholt, dass bei Durchführung des Hauptauftrags dem ausführenden Mitarbeiter des Beklagten aufgefallen sei, dass der Wandanschluss beschädigt gewesen sei. Er habe dies dem Kläger mitgeteilt und ihn gefragt, ob diese Zusatzarbeiten miterledigt werden sollten. Nachdem der Kläger dies bejaht habe, habe der Mitarbeiter den Beklagten über den defekten Wandanschluss und den Wunsch des Klägers telefonisch unterrichtet, dass diese Arbeiten mit durchgeführt werden sollten. Der Beklagte, dem der Mitarbeiter die erforderlichen Daten mitgeteilt habe, habe dem Kläger daraufhin mitgeteilt, dass die Arbeiten durchgeführt werden könnten, diese einen Tag in Anspruch nehmen würden und zum Nachweis zuzüglich Materialkosten ausgeführt würden. Am folgenden Tag habe der Beklagte die Baustelle persönlich aufgesucht. Der Kläger habe ihm gegenüber die Annahme des Angebots erklärt. Dieser Sachvortrag ist dahin zu verstehen, dass der Beklagte behauptet hat, er habe das Angebot für den Zusatzauftrag bereits am 22. August 2018 abgegeben, der Kläger habe dieses im Namen beider Kläger jedoch erst am 23. August 2018 bei dem Termin vor Ort angenommen.

 

18        b) Das Berufungsgericht hat demgegenüber unter Verstoß gegen § 286 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG einen Sachverhalt als unstreitig zugrunde gelegt, der im Widerspruch zu diesem als streitig erkannten Vortrag des Beklagten steht, ohne den vom Beklagten angebotenen Beweis zu erheben. Es hat in den Entscheidungsgründen im Widerspruch zu dem bezeichneten Vorbringen des Beklagten festgestellt, es sei unstreitig, dass der Zusatzauftrag nach Erläuterung der Kostenhöhe und des Zeitaufwands vor Ort bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit von Kläger und Beklagtem erteilt worden sei. Daraus geht hervor, dass das Berufungsgericht die Behauptung des Beklagten nicht hinreichend berücksichtigt hat, dem Kläger sei bereits am Vortag vor dem abschließenden Ortstermin am 23. August 2018 ein Angebot über die Ausführung der Zusatzarbeiten unterbreitet worden, das der Kläger im Ortstermin vom 23. August 2018 lediglich angenommen hat.

 

19        c) Einer Tatbestandsberichtigung gemäß § 320 Abs. 1 ZPO bedurfte es im hier gegebenen Fall widersprüchlicher Feststellungen nicht (vgl. BGH, Urteil vom 16. Dezember 2010 - I ZR 161/08 Rn. 12, NJW 2011, 1513; Urteil vom 19. November 1998 - IX ZR 116/97, NJW 1999, 641, juris Rn. 12; Urteil vom 9. März 1995 - III ZR 44/94, NJW-RR 1995, 1058, juris Rn. 29 m.w.N.). Erst recht ist keine andere Beurteilung gerechtfertigt, wenn man die Ausführungen des Berufungsgerichts unter II. 1. d) der Entscheidungsgründe dahin verstehen wollte, dass es sich um eine rechtliche Würdigung des dort in Bezug genommenen Vorbringens des Beklagten handelte. Ein Tatbestandsberichtigungsantrag nach § 320 Abs. 1 ZPO bezweckt lediglich eine Richtigstellung der vom Tatrichter getroffenen Feststellungen. Er kann jedoch nicht auf eine Änderung der für die Entscheidung maßgeblichen rechtlichen Würdigung gerichtet sein.

 

20        d) Der Verfahrensfehler ist erheblich. Ist zugunsten des Beklagten davon auszugehen, dass der Kläger das vom Beklagten bereits am 22. August 2018 unterbreitete Angebot für den Zusatzauftrag "Wakaflex" am 23. August 2018 lediglich angenommen hat, liegt kein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag im Sinne des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 BGB vor. Nach § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB sind außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge solche, die bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers und des Unternehmers an einem Ort geschlossen werden, der kein Geschäftsraum des Unternehmers ist. Nach § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB genügt es, wenn der Verbraucher unter den in Nummer 1 genannten Umständen ein Angebot für den Abschluss eines Vertrags abgegeben hat.

 

21        aa) Die Kläger sind zwar gemäß § 13 BGB als Verbraucher anzusehen, weil sie als natürliche Personen das Rechtsgeschäft nicht zu Zwecken abgeschlossen haben, die überwiegend ihrer gewerblichen oder ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können.

 

22        bb) Der Vertrag ist vor Ort aber nicht, wie nach § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB erforderlich, bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien geschlossen worden. Hierfür ist erforderlich, dass sowohl das Angebot als auch die Annahme bei gleichzeitiger Anwesenheit der Vertragspartner erklärt werden. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der Kläger hat nach dem für das Revisionsverfahren zu unterstellenden Vorbringen des Beklagten für beide Kläger in dem Termin vor Ort in Anwesenheit des Beklagten lediglich dessen am Tag zuvor abgegebenes Angebot für die Reparatur des beschädigten Wandanschlusses angenommen.

 

23        (1) Eine gegenüber dem Angebot des Unternehmers derart zeitlich versetzte Auftragserteilung wird von § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB nicht erfasst. Diese Vorschrift, mit der die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 (Verbraucherrechterichtlinie) ins deutsche Recht umgesetzt wird und die mit der Bestimmung in Art. 2 Nr. 8 a) der Verbraucherrechterichtlinie inhaltlich übereinstimmt, ist richtlinienkonform im Lichte dieser Richtlinie auszulegen, wobei bei der Auslegung zu beachten ist, dass nach Art. 4 der Richtlinie eine Vollharmonisierung der zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Vorschriften angestrebt wird. Ein Vertragsschluss bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien außerhalb von Geschäftsräumen liegt danach nicht vor, wenn der Verbraucher ein vom Unternehmer am Vortag unterbreitetes Angebot am Folgetag außerhalb von Geschäftsräumen lediglich annimmt (vgl. auch OLG Köln, Urteil vom 16. Dezember 2021 - 7 U 12/20, BauR 2022, 1358 = NZBau 2022, 222, juris Rn. 40; Grüneberg/Grüneberg, BGB, 82. Aufl., § 312b Rn. 6; Staudinger/Thüsing (2019) BGB, § 312b Rn. 19; Maume in: BeckOK BGB Hau/Poseck, Stand: 1. Mai 2023, § 312b Rn. 17).

 

24        (2) Für diese - schon nach dem Wortlaut naheliegende - Auslegung von § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB spricht auch der mit der Verbraucherrechterichtlinie verfolgte Zweck. Aus dem Erwägungsgrund Nr. 21 der Richtlinie ergibt sich, dass von der Begriffsbestimmung für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge Situationen nicht erfasst werden sollen, in denen der Unternehmer zunächst in die Wohnung des Verbrauchers kommt, um ohne jede Verpflichtung des Verbrauchers lediglich Maße aufzunehmen oder eine Schätzung vorzunehmen, und der Vertrag danach erst zu einem späteren Zeitpunkt in den Geschäftsräumen des Unternehmers auf der Grundlage der Schätzung des Unternehmers abgeschlossen wird. Dies wird damit begründet, dass der Verbraucher in einem solchen Fall Gelegenheit hatte, vor Vertragsschluss über die Schätzung des Unternehmers nachzudenken.

 

25        Die dieser Situation zugrundeliegende rechtliche Wertung erfasst auch den Fall, dass der Unternehmer dem Verbraucher aufgrund eines Aufmaßes oder einer Schätzung ein Angebot unterbreitet, das der Verbraucher nach einer Überlegungszeit bei gleichzeitiger Anwesenheit mit dem Unternehmer außerhalb von Geschäftsräumen lediglich annimmt. Auch in diesem Fall entstehen dem Verbraucher durch das vom Unternehmer erstellte Angebot unmittelbar noch keine Verpflichtungen. Findet eine Vertragsverhandlung nicht sofort im Anschluss an das Angebot statt, sondern hat der Verbraucher Gelegenheit, das Angebot des Unternehmers zu prüfen und zu überdenken, ist nach dem mit der Verbraucherrechterichtlinie verfolgten Schutzzweck der Tatbestand des bei gleichzeitiger Anwesenheit der Vertragsparteien außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags nicht erfüllt (vgl. Grüneberg/Grüneberg, BGB, 82. Aufl., § 312b Rn. 6). Eine typische Druck- oder Überraschungssituation im Sinne von Erwägungsgrund Nr. 21 der Verbraucherrechterichtlinie, vor der § 312b BGB schützen soll, liegt dann nicht vor.

 

26        Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung der Verbraucherrechterichtlinie ist nicht geboten, weil die Auslegung des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB unter Berücksichtigung der Vorschriften der Verbraucherrechterichtlinie keinem vernünftigen Zweifel unterliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 - C-561/19, NZBau 2022, 44, juris Rn. 33 m.w.N.; Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81, Slg. 1982, 3415).

 

27        (3) Danach stand den Klägern nach dem zugunsten des Beklagten in der Revision zu unterstellenden Sachverhalt hinsichtlich des Zusatzauftrags "Wakaflex" kein Widerrufsrecht gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1, § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB zu. Die Kläger sind dadurch, dass der Beklagte ihnen die Modalitäten für die Ausführung des Zusatzauftrags und die hierfür entstehenden Kosten in Form eines Angebots am 22. August 2018 mitgeteilt hatte, in die Lage versetzt worden, das Angebot bis zu dessen Annahme am 23. August 2018 zu überdenken.

 

28        cc) Es liegt auch kein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag im Sinne des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB vor. Nach dieser Vorschrift sind außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge solche, für die der Verbraucher unter den in § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB genannten Umständen ein Angebot abgegeben hat.

 

29        Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Kläger haben nicht lediglich gemäß § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB ein Angebot abgegeben, das der Beklagte zu einem späteren Zeitpunkt angenommen hat. Die Vorschrift kann über ihren Wortlaut hinaus auch nicht dahin ausgelegt werden, dass jedwede Vertragserklärung des Verbrauchers - also auch, wie hier, eine Annahmeerklärung - erfasst werden soll, die dieser bei gleichzeitiger Anwesenheit mit dem Unternehmer an einem nicht zum Geschäftsraum des Unternehmers gehörenden Ort abgibt (vgl. in diesem Sinn aber Ring in: Dauner-Lieb/Langen, BGB Schuldrecht, 4. Aufl., § 312b Rn. 19; HK-BGB/Schulte-Nölke, 11. Aufl., BGB § 312b, 6; unklar insoweit: MünchKommBGB/Wendehorst, 9. Aufl., § 312b Rn. 38 und Schinkels in Gebauer/Wiedmann, Europäisches Zivilrecht, 3. Aufl., Kap. 8 Rn. 8). Im Hinblick auf die mit der Verbraucherrechterichtlinie angestrebte Vollharmonisierung (Art. 4 der Verbraucherrechterichtlinie) kommt eine erweiternde Auslegung über den Wortlaut des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB hinaus nicht in Betracht. Der Begriff "Angebot" in § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB, der dem Wortlaut des Art. 2 Nr. 8 b) der Verbraucherrechterichtlinie entspricht, findet sich entsprechend auch in anderen Sprachfassungen der Verbraucherrechterichtlinie (vgl. z.B. "offer", "offre", "offerta", "oferta", "aanbod"). Er bezieht sich auf das für den Verbraucher bindende Angebot auf Abschluss eines Vertrags. Der Begriff des Angebots kann mit dem Begriff der Vertragserklärung dagegen nicht gleichgesetzt werden. Dieser wird vielmehr als Oberbegriff sowohl für ein auf den Abschluss eines Vertrags gerichtetes Angebot als auch für eine Annahme eines solchen verwendet.

 

30        Anhaltspunkte dafür, dass nach dem Sinn und Zweck der Verbraucherrechterichtlinie auch die Annahme eines vom Unternehmer nicht am selben Tag, sondern bereits zuvor, unterbreiteten Angebots von der Vorschrift erfasst werden soll, bestehen nach den vorstehenden Ausführungen nicht. Insbesondere besteht in einem solchen Fall nicht die Gefahr, dass der Verbraucher durch die Umstände des Vertragsschlusses zum Abschluss des Vertrags veranlasst wird, ohne zuvor seine Entscheidung hinreichend überdenken zu können. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 2 Nr. 8 b) der Verbraucherrechterichtlinie ist nicht geboten, weil die Auslegung des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB unter Berücksichtigung der Vorschriften der Verbraucherrechterichtlinie keinem vernünftigen Zweifel unterliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 - C- 561/19, NZBau 2022, 44, juris Rn. 33 m.w.N.; Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81, Slg. 1982, 3415).          III.

 

31        Danach kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben, soweit das Berufungsgericht zum Nachteil des Beklagten entschieden hat. Es ist aufzuheben und die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um diesem Gelegenheit zu geben, die erforderlichen Feststellungen nachzuholen.

 

32        Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, da sie nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).

 

33        1. Entgegen der Rüge der Revision ist das Widerrufsrecht der Kläger nicht gemäß § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift besteht kein Widerrufsrecht bei Verträgen, bei denen der Verbraucher den Unternehmer ausdrücklich aufgefordert hat, ihn aufzusuchen, um dringende Reparatur- oder Instandhaltungsmaßnahmen vorzunehmen.

 

34        Zwar haben die Kläger die Ausführung der Arbeiten, die Gegenstand des Zusatzauftrags waren, unstreitig ausdrücklich verlangt. Das allein rechtfertigt aber nicht die Anwendung der Ausnahmevorschrift. § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB bezieht sich nur auf dringende Reparatur- und Instandhaltungsmaßnahmen. Dass im vorliegenden Fall hinsichtlich des defekten Wandanschlusses ein dringender Reparaturbedarf bestand, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt und wird auch von der Revision nicht geltend gemacht. Hierfür genügt nicht, dass die Ausführung des Zusatzauftrags im Hinblick auf das bereits stehende Gerüst wirtschaftlich sinnvoll gewesen sein mag. Soweit die Revision der Auffassung ist, dass die mit dem ersten Auftrag ausgesprochene Aufforderung zur Ausführung von Dacharbeiten für die vom Zusatzauftrag erfassten Arbeiten "fortwirke", kann das für einen Ausschluss des Widerrufsrechts schon deshalb nicht genügen, weil nicht von einem Vertrag über dringende Reparaturarbeiten auszugehen ist. Aus demselben Grunde kommt es nicht entscheidend auf die von der Revision für erheblich gehaltene und ihres Erachtens zu bejahende Frage an, ob die den Gegenstand des Zusatzauftrags bildenden Arbeiten mit denjenigen des ersten Auftrags in einem engen Zusammenhang standen, erwartbar waren und nicht erheblich von den vom ersten Auftrag erfassten Leistungen abwichen. Soweit die Revision im Übrigen tragfähige Feststellungen des Berufungsgerichts dazu vermisst, ob der Ausnahmetatbestand des § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB eingreift, hat der Senat die dahingehende Verfahrensrüge geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet; von einer Begründung wird abgesehen (§ 564 ZPO).

 

35        2. Ohne Erfolg greift die Revision ferner das Berufungsurteil an, soweit das Landgericht im Einlegen des Widerrufsschreibens in den Briefkasten des Beklagten die - rechtzeitige - Absendung im Sinne von § 355 Abs. 1 Satz 5 BGB gesehen hat. Die Auffassung der Revision, der Begriff der Absendung erfasse allein den Fall, dass der Verbraucher seine verkörperte Widerrufserklärung per Briefpost aufgebe, trifft nicht zu.

 

36        Nach Art. 11 Abs. 2 der Verbraucherrechterichtlinie ist die Widerrufsfrist gewahrt, wenn der Verbraucher die Mitteilung über die Ausübung des Widerrufsrechts vor Ablauf der Widerrufsfrist absendet. Damit ist bei einer in Text- oder Schriftform verkörperten Willenserklärung der Zeitpunkt der Absendung maßgeblich. Nichts spricht dafür, dass damit ausschließlich ein Versand gerade per Briefpost maßgeblich sein soll. Das muss daher auch für die vollharmonisierte nationale Regelung in § 355 Abs. 1 Satz 5 BGB gelten. Selbst wenn - wie die Revision meint - Sinn und Zweck der Norm darin liegen sollten, den Verbraucher von dem Risiko freizustellen, dass der Widerruf aufgrund nicht vorhersehbarer längerer Postlaufzeiten nicht rechtzeitig zugehe, ist nicht nachvollziehbar, weshalb eine andere Übermittlungsform als der Postversand, insbesondere ein (rechtzeitiges) Einlegen in den Empfängerbriefkasten, keine tatbestandlich beachtliche Absendung gemäß § 355 Abs. 1 Satz 5 BGB darstellen soll. Die von der Revision angeführten Kommentarstellen (BeckOGK-Mörsdorf, Stand: 1. Juni 2022, § 355 BGB Rn. 57; BeckOK-BGB/Müller-Christmann, Stand: 1. Mai 2023, § 355 Rn. 31; MünchKommBGB/Fritsche, 9. Aufl., § 355 Rn. 57) stützen den Rechtsstandpunkt der Revision, dass nur die Absendung per Briefpost beachtlich sein soll, ebenfalls nicht. Für das von der Revision in diesem Zusammenhang für erforderlich erachtete Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV ist hiernach kein Raum.

 

37        3. Ohne Erfolg wendet die Revision sich schließlich gegen die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht abweichend vom erstinstanzlichen Urteil den Tatbestand des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) verneint hat.

 

38        Die im Einzelfall vorzunehmende wertende Betrachtung der Gesamtumstände unter dem Gesichtspunkt des § 242 BGB obliegt in erster Linie dem Tatgericht und kann vom Revisionsgericht nur eingeschränkt daraufhin überprüft werden, ob das Tatgericht die maßgeblichen Tatsachen vollständig festgestellt und gewürdigt und ob es die allgemein anerkannten Maßstäbe berücksichtigt und richtig angewandt hat (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2021 - I ZR 248/19 Rn. 28, NJW 2022, 52). Einen in diesem Sinn - insbesondere auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Mai 2023 - C-97/22, ZIP 2023, 1190, juris Rn. 21 ff.; Urteil vom 26. Februar 2019 - C-116/16, juris Rn. 70 ff.; Urteil vom 8. Juni 2017 - C-54/16, WM 2017, 1607, juris Rn. 51 ff.) - beachtlichen Rechtsfehler zeigt die Revision nicht auf.

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