EuGH: Handelsvertretervertrag – zur Ausgleichsabfindung an Haupt- und Untervertreter
EuGH, Urteil vom 13.10.2022 – C‑593/21, NY gegen Herios SARL
ECLI:EU:C:2022:784
Volltext: BB-Online BBL2022-2433-1
Tenor
Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter ist dahin auszulegen, dass die Ausgleichsabfindung, die der Unternehmer dem Hauptvertreter in dem Umfang gezahlt hat, in dem der Untervertreter Kundschaft geworben hat, für den Hauptvertreter einen erheblichen Vorteil darstellen kann. Die Zahlung einer Ausgleichsabfindung an den Untervertreter kann jedoch als unbillig im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden, wenn dieser seine Tätigkeiten als Handelsvertreter gegenüber denselben Kunden und für dieselben Produkte, aber im Rahmen einer unmittelbaren Beziehung zu dem Hauptunternehmer fortsetzt, und zwar anstelle des Hauptvertreters, der ihn zuvor eingestellt hatte.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. 1986, L 382, S. 17).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NY und der Herios SARL wegen einer Ausgleichsabfindung, die NY von der Herios SARL aufgrund des Umsatzes fordert, den Herios im Jahr 2016 dank den von NY zu ihren Gunsten geworbenen neuen Kunden erzielt haben soll.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 1 der Richtlinie 86/653 lautet folgendermaßen:
„(1) Die durch diese Richtlinie vorgeschriebenen Harmonisierungsmaßnahmen gelten für die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Rechtsbeziehungen zwischen Handelsvertretern und ihren Unternehmern regeln.
(2) Handelsvertreter im Sinne dieser Richtlinie ist, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für eine andere Person (im folgenden Unternehmer genannt) den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen.
…“
4 Kapitel IV der Richtlinie trägt die Überschrift „Abschluss und Beendigung des Handelsvertretervertrages“. In diesem Kapitel bestimmt Art. 17:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen dafür, dass der Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses Anspruch auf Ausgleich nach Absatz 2 oder Schadensersatz nach Absatz 3 hat.
(2) a) Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit
– er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht und
– die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass zu diesen Umständen auch die Anwendung oder Nichtanwendung einer Wettbewerbsabrede im Sinne des Artikels 20 gehört.
…“
5 Art. 19 der Richtlinie lautet:
„Die Parteien können vor Ablauf des Vertrages keine Vereinbarungen treffen, die von Artikel 17 und 18 zum Nachteil des Handelsvertreters abweichen.“
Belgisches Recht
6 Die Bestimmungen über Handelsvertreterverträge wurden durch Art. 3 der Loi du 2 avril 2014, portant insertion du livre X « Contrats d’agence commerciale, contrats de coopération commerciale et concessions de vente » dans le Code de droit économique, et portant insertion des définitions propres au livre X, dans le livre 1er du Code de droit économique (Gesetz vom 2. April 2014 zur Einfügung von Buch X „Handelsvertreterverträge, Vereinbarungen über Handelspartnerschaften und Vertriebsverträge“ in das Wirtschaftsgesetzbuch und zur Einfügung der Buch X eigenen Begriffsbestimmungen in Buch I des Wirtschaftsgesetzbuches, Moniteur belge vom 28. April 2014, S. 35053) in das Wirtschaftsgesetzbuch aufgenommen.
7 Art. X.5 Wirtschaftsgesetzbuch sieht vor:
„Außer bei anders lautender Klausel können Handelsvertreter für die Ausführung ihres Auftrags auf von ihnen vergütete Untervertreter zurückgreifen, für die sie haften und deren Auftraggeber sie werden.“
8 In Art. X.18 Wirtschaftsgesetzbuch heißt es:
„Nach Beendigung des Handelsvertretervertrags hat der Handelsvertreter Anspruch auf eine Ausgleichsabfindung, wenn er neue Kunden für den Auftraggeber geworben oder die Geschäftsverbindungen mit der bestehenden Kundschaft wesentlich erweitert hat, soweit dies dem Auftraggeber noch erhebliche Vorteile einbringen kann.
Ist im Vertrag eine Wettbewerbsabrede vorgesehen, wird davon ausgegangen, dass der Auftraggeber – außer bei Beweis des Gegenteils – noch erhebliche Vorteile haben wird.
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
9 Herios schloss mit der deutschen Gesellschaft Poensgen einen Handelsvertretervertrag, der ihr das Exklusivrecht einräumte, die Produkte von Poensgen in Belgien, Frankreich und Luxemburg zu verkaufen. Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, haben Herios und NY eingeräumt, dass zwischen ihnen im Laufe des Jahres 2009 ein Vertrag geschlossen worden war.
10 Im Rahmen ihrer Vertragsbeziehung wurde Herios der Unternehmer von NY und NY wurde ihr Handelsvertreter mit der Aufgabe, im Gebiet dieser Mitgliedstaaten die Produkte von Poensgen zu verkaufen.
11 Ende 2015 nahmen NY, Herios und Poensgen Gespräche mit dem Ziel auf, dass NY nach Einstellung der Tätigkeiten von Herios unmittelbar die Handelsvertretung fortsetze. Diese Gespräche führten letztlich zu keinem Ergebnis, und Poensgen stellte Herios am 8. Juni 2016 die Kündigung des zwischen ihnen bestehenden Vertrags zu. Ihre vertraglichen Beziehungen endeten am 31. Dezember 2016 nach Ablauf einer sechsmonatigen Kündigungsfrist.
12 Mit Schreiben vom 23. Februar 2017 kündigte Herios ihrerseits den mit NY geschlossenen Vertrag wegen außergewöhnlicher Umstände, die jede berufliche Zusammenarbeit zwischen dem Unternehmer und dem Handelsvertreter endgültig unmöglich machten, nämlich der Beendigung des Hauptvertragsverhältnisses zwischen Poensgen und Herios. In der Zwischenzeit war NY im Übrigen Handelsvertreter von Poensgen geworden.
13 Am 22. Mai 2017 vereinbarten Herios und Poensgen u. a. die Zahlung einer Ausgleichsabfindung an Herios.
14 Da NY der Auffassung war, dass auch er für die neuen Kunden, die er für Herios geworben hatte und für die Herios von Poensgen einen Ausgleich erhielt, Anspruch auf eine Ausgleichsabfindung habe, verklagte er Herios auf Zahlung einer Ausgleichsabfindung, die er anhand des Umsatzes bezifferte, den Herios im Jahr 2016 dank den geworbenen neuen Kunden erzielt haben soll.
15 Mit Urteil in erster Instanz wurde der Klage von NY stattgegeben. Dagegen änderte die Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich, Belgien) diese Entscheidung mit Urteil vom 16. Januar 2020 ab und ging davon aus, dass keine Ausgleichsabfindung geschuldet werde. NY legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde bei der Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) ein, dem hier vorlegenden Gericht.
16 Im Rahmen seiner Kassationsbeschwerde bemängelt NY am Urteil der Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich), ihm werde darin eine Ausgleichsabfindung mit der Begründung verweigert, dass der Herios gewährte Ausgleich keinen „erheblichen Vorteil“ im Sinne von Art. X.18 Abs. 1 Wirtschaftsgesetzbuch, der Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 umsetze, darstelle. Nach Ansicht der Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich) könne es sich nicht um einen solchen Vorteil handeln, da zum einen der von Herios erhaltene Ausgleich kein künftiger Vorteil, sondern ein gesetzlich geschuldeter Ausgleich sei. Zum anderen arbeite NY weiter und ziehe weiterhin Vorteile aus dem mit dem früheren Hauptauftraggeber gebildeten Kundenstock.
17 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Prüfung des von NY geltend gemachten Kassationsbeschwerdegrundes eine Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 erforderlich mache, um festzustellen, ob die Ausgleichsabfindung, die Herios erhalten habe, einen „erheblichen Vorteil“ im Sinne dieser Bestimmung darstelle. Sollte dies zu bejahen sein, hätte NY somit die Möglichkeit, von Herios gemäß dieser Bestimmung die Zahlung einer Ausgleichsabfindung wegen der Beendigung des zwischen ihnen geschlossenen Handelsvertretervertrags zu fordern.
18 Vor diesem Hintergrund hat die Cour de cassation (Kassationshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der vorliegenden die dem Hauptvertreter zustehende Ausgleichsabfindung im Umfang der vom Untervertreter geworbenen Kundschaft kein „erheblicher Vorteil“ ist, der dem Hauptvertreter gewährt wird?
Zur Vorlagefrage
19 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren, aber auch unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2019, Plessers, C‑509/17, EU:C:2019:424, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Da der Gerichtshof im vorliegenden Fall nach der Tragweite von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 unter den besonderen Umständen gefragt wird, dass der Handelsvertreter eine Ausgleichsabfindung erhalten hat, nachdem der von ihm angestellte Untervertreter infolge der Beendigung des Haupthandelsvertretervertrags selbst Handelsvertreter des Hauptunternehmers geworden war, ist die Vorlagefrage dahin zu verstehen, dass damit im Wesentlichen geklärt werden soll, ob Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster und zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 86/653 dahin auszulegen ist, dass die vom Hauptvertreter erhaltene Ausgleichsabfindung in dem Umfang, in dem der Untervertreter Kundschaft geworben hat, für den Hauptvertreter einen erheblichen Vorteil darstellen kann, wenn dieser Untervertreter Haupthandelsvertreter des Unternehmers geworden ist.
21 Dies vorausgeschickt, ist bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, im vorliegenden Fall von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653, nicht nur der Wortlaut dieser Bestimmung, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.
22 Nach dem ersten Gedankenstrich dieser Bestimmung hat der Handelsvertreter Anspruch auf einen Ausgleich nach Beendigung des Vertragsverhältnisses, wenn und soweit er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht.
23 Aus der Verwendung der Begriffe „noch“ und „erhebliche“ sowie aus der Klarstellung, dass die Vorteile, die der Unternehmer zieht, aus Geschäftsbeziehungen mit den vom Handelsvertreter geworbenen Kunden oder aus einer wesentlichen Erweiterung der Geschäftsbeziehungen stammen müssen, leitet sich ab, dass der Unternehmer nach Beendigung des Vertragsverhältnisses einen Vorteil genießen muss, der zum einen von gewisser Bedeutung ist und zum anderen mit den früheren Leistungen des Vertreters in Zusammenhang steht. Dagegen enthält der Wortlaut dieser Bestimmung keine näheren Angaben zur Natur dieses Vorteils.
24 Daher kann der Begriff „erhebliche Vorteile“ im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 alle Vorteile umfassen, die der Unternehmer nach Beendigung des Vertragsverhältnisses aus den Anstrengungen des Vertreters zieht, einschließlich der Ausgleichsabfindung, die er von seinem eigenen Unternehmer erhalten hat.
25 Dieses Ergebnis wird durch die Ziele bestätigt, die mit dieser Richtlinie verfolgt werden.
26 Die Richtlinie 86/653 zielt u. a. auf den Schutz des Handelsvertreters in seiner Beziehung zum Unternehmer ab (Urteil vom 19. April 2018, CMR, C‑645/16, EU:C:2018:262, Rn. 33).
27 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 17 dieser Richtlinie von entscheidender Bedeutung ist. Art. 17 Abs. 2 dieser Richtlinie ist folglich in einem Sinne auszulegen, der zu diesem Schutz des Handelsvertreters beiträgt und folglich seine Verdienste beim Zustandekommen der ihm anvertrauten Geschäfte vollständig berücksichtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2016, Marchon Germany, C‑315/14, EU:C:2016:211, Rn. 33). Jede Auslegung dieser Bestimmung, die sich für den Handelsvertreter als nachteilig erweisen könnte, ist ausgeschlossen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. März 2009, Semen, C‑348/07, EU:C:2009:195, Rn. 21 und vom 19. April 2018, CMR, C‑645/16, EU:C:2018:262, Rn. 35).
28 Eine Auslegung, wonach der Begriff „erhebliche Vorteile“ im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 u. a. nicht eine Ausgleichsabfindung umfassen würde, die der Unternehmer in dem Umfang erhalten hat, in dem der Handelsvertreter Kundschaft geworben hat, für die er nicht mehr vergütet wird, könnte diesen Vertreter schädigen.
29 Wie NY in seinen schriftlichen Erklärungen ausführt, würde eine enge Auslegung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 nämlich in Fällen, in denen die Beendigung der Vertragsbeziehung u. a. die Folge einer Unternehmensveräußerung oder der Übertragung des Geschäftsvermögens des Unternehmers ist und in denen der Preis je nach Gewichtigkeit der Kundschaft variiert, den Handelsvertreter um Entschädigungen in Bezug auf den Geschäftswert bringen, den er dem Unternehmer immerhin verschafft hat.
30 Folglich ist davon auszugehen, dass eine Auslegung, wonach der Begriff „erhebliche Vorteile“ im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 nicht eine Ausgleichsabfindung umfasse, die der Unternehmer in dem Umfang erhalten hat, in dem der Handelsvertreter Kundschaft geworben hat, für die dieser nicht mehr vergütet wird, dem mit der Richtlinie 86/653 verfolgten Ziel des Schutzes des Handelsvertreters zuwiderliefe.
31 Nach alledem ist Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen, dass die Ausgleichsabfindung, die der Unternehmer dem Hauptvertreter in dem Umfang gezahlt hat, in dem der Untervertreter Kundschaft geworben hat, für den Hauptvertreter einen erheblichen Vorteil darstellen kann.
32 Um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben, ist jedoch noch zu klären, ob sich der Umstand, dass der Untervertreter selbst Vertreter des Hauptunternehmers geworden ist, auf seinen Anspruch auf die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausgleichsabfindung auswirkt.
33 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Verhalten des Handelsvertreters ein Gesichtspunkt ist, der im Rahmen der Prüfung der Billigkeit der Ausgleichsabfindung berücksichtigt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2010, Volvo Car Germany, C‑203/09, EU:C:2010:647, Rn. 44), wobei die Billigkeit eine conditio sine qua non für die Zahlung dieses Ausgleichs im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 ist.
34 Nach dieser Bestimmung hat der Handelsvertreter nämlich Anspruch auf eine Ausgleichsabfindung, wenn und soweit die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen aus Geschäften mit von ihm geworbenen Kunden oder mit Kunden, mit denen er die Geschäftsverbindungen wesentlich erweitert hat, der Billigkeit entspricht.
35 Unter diesen Umständen gehört die Kundschaft, von der der Vertreter für sich selbst oder zugunsten eines anderen Unternehmers profitieren kann, zwangsläufig zu den in Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 genannten „Umständen“, die bei der Zahlung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausgleichs zu berücksichtigen sind.
36 Der in Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 vorgesehene Ausgleichsanspruch hat nämlich aus der Sicht des Vertreters im Wesentlichen den Zweck einer Entlohnung. Eine solche Ausgleichszahlung ist somit dazu bestimmt, ihn für die von ihm unternommenen Anstrengungen zu vergüten, soweit der Unternehmer auch nach Beendigung des Handelsvertretervertrags weiterhin von den wirtschaftlichen Vorteilen aus diesen Anstrengungen profitiert (vgl. dazu Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Quenon K.,C‑338/14, EU:C:2015:503, Nrn. 35 und 36).
37 Zwar kann diese Bestimmung, wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht eng ausgelegt werden, damit der Handelsvertreter nicht um die Entschädigungen in Bezug auf den Geschäftswert gebracht wird, den er dem Unternehmer immerhin verschafft hat, hingegen kann der in dieser Bestimmung vorgesehene Ausgleich keine Schäden abdecken, die nicht unmittelbar mit dem Verlust von Kundschaft beim Handelsvertreter zusammenhängen.
38 Wie jedoch in dem von der Kommission am 23. Juli 1996 vorgelegten Bericht über die Anwendung von Artikel 17 der Richtlinie 86/653 (KOM/96/364 endg.) ausgeführt wird, würde, wenn der Vertreter weiterhin denselben Kunden für dieselben Produkte aber für Rechnung eines anderen Unternehmers zur Verfügung steht, die Zahlung eines Ausgleichs nicht der Billigkeit entsprechen, weil ja der spezifische Schaden, den er ausgleichen soll, nicht vorliegt, da der Vertreter seinen Kundenstock nicht verliert.
39 Wenn also der Untervertreter seine Tätigkeiten als Handelsvertreter gegenüber denselben Kunden und für dieselben Produkte, aber im Rahmen einer unmittelbaren Beziehung zu dem Hauptunternehmer fortsetzt, und zwar anstelle des Hauptvertreters, der ihn zuvor eingestellt hatte, erleidet dieser Untervertreter a fortiori durch die Beendigung seines Handelsvertretervertrags mit diesem Hauptvertreter keine negativen Folgen.
40 Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, die Billigkeit der Zahlung der Ausgleichsabfindung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls, mit dem es befasst ist, zu beurteilen.
41 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass die Ausgleichsabfindung, die der Unternehmer dem Hauptvertreter in dem Umfang gezahlt hat, in dem der Untervertreter Kundschaft geworben hat, für den Hauptvertreter einen erheblichen Vorteil darstellen kann. Die Zahlung einer Ausgleichsabfindung an den Untervertreter kann jedoch als unbillig im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden, wenn dieser seine Tätigkeiten als Handelsvertreter gegenüber denselben Kunden und für dieselben Produkte, aber im Rahmen einer unmittelbaren Beziehung zu dem Hauptunternehmer fortsetzt, und zwar anstelle des Hauptvertreters, der ihn zuvor eingestellt hatte.