OLG Jena: Geltungsbereich des Drittelbeteiligungsgesetzes bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrats
OLG Jena, Beschluss vom 14.6.2011 - 6 W 47/11
leitsatz
§ 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG ist im Wege der teleologischen Reduktion nach Sinn und Zweck des Gesetzes dahin auszulegen, dass Aktiengesellschaften mit weniger als fünf Arbeitnehmern nicht erfasst werden.(Rn.21)(Rn.26)
sachverhalt
I. Die Beteiligten streiten über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Antragsgegnerin (die Antragsgegnerin im Folgenden: DEWB AG).
Wegen des Tatbestandes wird zunächst Bezug genommen auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Beschluss.
Das Landgericht Gera hat durch Beschluss vom 18.11.2010 festgestellt, dass sich der Aufsichtsrat der DEWB AG nach §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) zusammensetzt.
Der Beschwerdeführer hat gegen diesen am 03.12.2010 im elektronischen Bundesanzeiger bekannt gemachten Beschluss mit einem beim Landgericht Gera am 21.12.2010 eingegangenen Schriftsatz Beschwerde eingelegt.
Er vertritt die von der DEWB AG in erster Instanz vertretene Ansicht, das Drittelbeteiligungsgesetz sei erst ab drei bzw. fünf Arbeitnehmern anwendbar und gelte daher nicht für die DEWB AG mit nur zwei Arbeitnehmern.
Der Beschwerdeführer beantragt,
unter Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts Gera vom 18.11.2010 den Antrag des Antragstellers vom 16.04.2010, dass der Aufsichtrat der DEWB AG nach den Bestimmungen des DrittelbG zu bilden ist, zurückzuweisen.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Beschwerdebegründung des Beschwerdeführers vom 21.12.2010 (Bl. 73 ff. d.A.) und seine Schriftsätze vom 16.03.2011 (Bl. 103 ff. d.A.) und 23.05.2011 (Bl. 116 f. d.A.) sowie auf die Beschwerdeerwiderung des Antragstellers vom 14.01.2011 (Bl. 91 ff. d.A.) und seinen Schriftsatz vom 11.05.2011 (Bl. 111 ff. d.A.).
Die Aufsichtsratsmitglieder der DEWB AG hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
aus den gründen
II. Die Beschwerde ist statthaft (§ 99 Abs. 3 Satz 2 AktG) und auch im Übrigen in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden; insbesondere ist die Beschwerde form- und fristgemäß eingelegt (§ 99 Abs. 3 Satz 4, Abs. 4 Satz 4 AktG, § 99 Abs. 1 AktG i.V.m. § 63 Abs. 1, 64 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 FamFG). Die Beschwerdebefugnis des Beschwerdeführers ergibt sich aus §§ 99 Abs. 4 Satz 3, 98 Abs. 2 Nr. 1 AktG.
Die Beschwerde ist auch begründet.
Die Entscheidung des Landgerichts Gera beruht auf einer Verletzung des Gesetzes.
1. Zutreffend hat das Landgericht erkannt, dass der Antragsteller antragsbefugt ist nach § 98 Abs. 2 Nr. 2 AktG. Nach dieser Vorschrift ist „jeder Aktionär" antragsberechtigt. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist § 245 Nr. 1 und 3 AktG mangels Regelungslücke nicht analog anzuwenden.
2. Entgegen der Auffassung des Landgerichts setzt sich aber der Aufsichtsrat der DEWB AG nicht gemäß § 96 Abs. 1 AktG i.V.m. §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 DrittelbG aus Mitgliedern der Aktionäre und der Arbeitnehmer zusammen.
Für die DEWB AG gilt das DrittelbG nicht.
Sie unterliegt nicht dem Geltungsbereich des DrittelbG.
Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG besteht zwar ein Mitbestimmungsrecht im Aufsichtsrat in einer Aktiengesellschaft mit in der Regel weniger als 500 Arbeitnehmern, die vor dem 10.08.1994 eingetragen worden ist und keine Familiengesellschaft ist.
Der Wortlaut enthält auch keine Einschränkung dahin, dass ein Mitbestimmungsrecht nicht besteht, wenn in der Aktiengesellschaft weniger als fünf Arbeitnehmer beschäftigt sind.
Nach Auffassung des Senats ist § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG aber im Wege der teleologischen Reduktion, nach Sinn und Zweck des Gesetzes dahin auszulegen, dass Aktiengesellschaften mit weniger als fünf Arbeitnehmern nicht erfasst werden. Gegen den vordergründigen, nur scheinbar eindeutigen Wortlaut des Gesetzes ist eine verfassungskonforme Auslegung zulässig, wenn eine verdeckte Regelungslücke besteht, die eine teleologische Reduktion in Richtung auf das eigentliche Ziel des Gesetzgebers ermöglicht (BGH, Beschluss vom 20.01.2005 - Az. IX ZB 134/04, NJW 2005, 1508-1512, juris Rn. 16). Eine Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion setzt eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus (BGH, Urteil vom 26.11.2008 - Az. VII ZR 200/05, BGHZ 179, 27-43, juris Rn. 22). Soweit eine Lücke vorliegt, wird die Norm auf Sachverhalte die unter ihren Wortlaut fallen, aber vom Normzweck nicht erfasst werden, nicht angewendet (Palandt/Sprau, BGB, 70. Auflage 2011, Einleitung Rn. 49). Dies ist hier der Fall.
a) In § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG besteht eine verdeckte Regelungslücke (so auch GK-Kraft, BetrVG, 6. Auflage 1998, § 76 BetrVG 1952 Rn. 6; Röder/Gneiting, DB 1993, 1618 ff.; Rüthers, BB 1977, 605 ff; a.A. Kirschner, DB 1971, 2063 ff. [zur Regelung in §§ 76 Abs. 6 Satz 1 bis 3, 77 Abs. 1 bis 3 BetrVG 1952, abgelöst durch § 1 Abs. 1 DrittelbG bei unverändert gebliebenem Anwendungsbereich; vgl. Begründung zu § 1 Abs. 1 DrittelbG im Gesetzentwurf, BT-Drs. 15/2542, S. 11,]; a.A. auch Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Auflage 2010, § 96 Rn. 21 [zu § 1 Abs. 1 DrittelbG]). Es wäre mit dem gesetzlichen Zweck der Mitbestimmung unvereinbar, wenn das Unternehmen etwa nur einen oder zwei Arbeitnehmer beschäftigten würde, diese sogleich - gleichsam von „Amts wegen" - in den Aufsichtsrat einrücken zu lassen (Rüthers, BB 1977, 605 ff).
Entgegen der Auffassung des Antragstellers steht dem nicht entgegen, dass der Gesetzgeber bei Erlass des DrittelbG davon abgesehen hat, in das Gesetz eine Regelung einzufügen, wonach Aktiengesellschaften mit weniger als fünf Arbeitnehmern nicht erfasst werden. Das Gegenteil ist der Fall. Zur Feststellung der planwidrigen Regelungslücke kann von der in der Gesetzesbegründung niedergelegten gesetzgeberischen Absicht ausgegangen werden (Palandt/Sprau, aaO, Einleitung Rn. 49). In der Begründung des Gesetzentwurfs zum Zweiten Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat heißt es zu § 1 Abs. 1 DrittelbG (BT-Drs. 15/2542, S. 11): „Die Vorschrift beschreibt den Anwendungsbereich des DrittelbG. Der Anwendungsbereich bleibt gegenüber der Regelung in § 76 Abs. 6 Satz 1 bis 3 und § 77 Abs. 1 bis 3 BetrVG 1952 unverändert." Der Anwendungsbereich der Regelung in § 76 Abs. 6 Satz 1 bis 3 und § 77 Abs. 1 bis 3 BetrVG 1952 war aber aufgrund des Vorliegens einer Regelungslücke im Wege richterlicher Rechtsfortbildung bereits dahin eingeschränkt worden, dass ein Mitbestimmungsrecht nicht besteht, wenn in der Aktiengesellschaft weniger als fünf Arbeitnehmer beschäftigt sind (vgl. LG Frankfurt/Main, Beschluss vom 04.11.1955 - Az. 3/1 T 2/50, NJW 1956, 598; ArbG Frankfurt/Main, Beschluss vom 03.11.1953 - Az. 5 B 8/53, NJW 1954, 656; weitere Rechtsprechung zur Anwendung des § 1 Abs. 1 DrittelbG bzw. der §§ 76 Abs. 6 Satz 1 bis 3, 77 Abs. 1 bis 3 BetrVG 1952 auf Aktiengesellschaften mit weniger als fünf Arbeitnehmern ist - soweit ersichtlich - nicht veröffentlicht). Daraus, dass an dem Anwendungsbereich nichts geändert werden sollte, ergibt sich, dass die Absicht des Gesetzgebers auch dahin ging, an der Ausfüllung der - ursprünglichen - Regelungslücke nichts zu ändern. Entgegenstehende Anhaltspunkte sind der Gesetzesbegründung nicht zu entnehmen.
b) Nach dem Normzweck des § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG werden Aktiengesellschaften mit weniger als fünf Arbeitnehmern nicht erfasst.
Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, dass nach Sinn und Zweck des Gesetzes (nur) Aktiengesellschaften mit weniger als drei Arbeitnehmern nicht erfasst werden (vgl. MünchKommAktG/Gach, 3. Auflage 2008, DrittelbG § 1 Rn. 13; MünchKommAktG/Habersack, 3. Auflage 2008, § 96 Rn. 18), überzeugen die dafür angebrachten Argumente nicht. Von den Vertretern der vorgenannten Auffassung wird zur Begründung im Wesentlichen angeführt, dass die Wahlordnung zum Drittelbeteiligungsgesetz (WODrittelbG) einen aus drei wahlberechtigten Arbeitnehmern bestehenden Wahlvorstand verlangt. Daher könne erst - und bereits - in einem Unternehmen, das mindestens in diesem Umfang Arbeitnehmer beschäftigt, eine Beteiligung im Aufsichtsrat in Betracht kommen (MünchKommAktG/Gach, aaO, DrittelbG § 1 Rn. 13). Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Verfahrensregel für sich allein keinen hinreichenden Rückschluss auf die materiellen Voraussetzungen eines grundlegenden Beteiligungsrechts der Arbeitnehmer geben kann (Röder/Gneiting, DB 1993, 1618 ff.).
Der Senat teilt die in der Rechtsprechung (vgl. LG Frankfurt/Main aaO; ArbG Frankfurt/Main aaO) und in der Literatur (vgl. Hüffer, AktG, 8. Auflage 2008, § 96 Rn. 12; GK-Kraft, BetrVG, 6. Auflage 1998, § 76 BetrVG 1952 Rn. 5 ff.; Röder/Gneiting, DB 1993, 1618 ff.; Rüthers, BB 1977, 605 ff.; Köhler, BB 1953, 562 ff.) vertretene Auffassung, dass Aktiengesellschaften mit weniger als fünf Arbeitnehmern nicht erfasst werden. Denn es geht auch bei der Mitbestimmung im Aufsichtsrat nicht einfach um die Beteiligung von Arbeitnehmern, sondern um die kollektive Interessenvertretung der Belegschaft im Aufsichtsrat durch Wahl von Arbeitnehmervertretern. Das BetrVG lässt erkennen, dass erst von einer bestimmten Arbeitnehmerzahl an, nämlich von fünf regelmäßig beschäftigen Arbeitnehmern an, eine solche kollektive Vertretung für notwendig und sinnvoll erachtet wird (GK-Kraft, BetrVG, 6. Auflage 1998, § 76 BetrVG 1952 Rn. 7; so auch Röder/Gneiting, DB 1993, 1618 ff.). Nach dem Willen des Gesetzgebers, der sich dem BetrVG entnehmen lässt, kann nur eine Belegschaft, die mindestens fünf Mitarbeiter umfasst, Träger der einer Belegschaft zustehenden Rechte sein (vgl. Köhler, BB 1953, 562 ff.).
Dem steht nicht entgegen, dass die WODrittelbG Regelungen enthält auch für den Fall, dass ein Betriebsrat nicht gebildet worden ist oder werden konnte (vgl. § 1 Satz 1 „... teilt dem Betriebsrat oder, soweit ein solcher nicht besteht, ..." und § 2 Abs. 4 Satz 2 „Besteht kein Betriebsrat ..."). Die von der Bundesregierung erlassene WODrittelbG enthält nur Verfahrensregeln und kann daher für sich allein nicht dazu dienen, den Zweck des § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG zu bestimmen.
Im Übrigen regeln §§ 5 ff. DrittelbG, dass das Beteiligungsrecht durch Wahlen ausgeübt werden soll. Wirkliche Wahlen setzen aber eine Mindestzahl von Betriebsangehören voraus; ihre Zahl ist dort zu suchen, wo die betriebliche Organisation zur Geltendmachung von Gemeinschaftsrechten zu regeln ist, nämlich im BetrVG (vgl. LG Frankfurt/Main aaO).
Nach alledem wird § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG auf Aktiengesellschaften mit weniger als fünf Arbeitnehmern (wie hier die DEWB AG mit nur zwei Arbeitnehmern) nicht angewendet.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 99 Abs. 6 Satz 7 und 9 AktG.
Der Geschäftswert bestimmt sich nach § 99 Abs. 6 Satz 6 AktG, § 30 Abs. 2 KostO.
Die Rechtsbeschwerde war gemäß § 99 Abs. 1 AktG i.V.m. § 70 Abs. 1 und 2 Nr. 1 Alt. 1 FamFG zuzulassen. Eine höchstrichterliche Entscheidung ist zur Fortbildung des Rechts (nur) erforderlich, wenn der Einzelfall - wie hier - Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen (BGH, Beschluss vom 04.07.2002 - Az. V ZB 16/02, BGHZ 151, 221-229, juris Rn. 6).