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Wirtschaftsrecht
28.09.2023
Wirtschaftsrecht
BGH: Geltendmachung des Widerspruchsrechts gem. § 5a Abs. 1 S. 1 VVG a. F. widerspricht auch bei fehlender oder fehlerhafter Widerspruchsbelehrung ausnahmsweise Treu und Glauben

BGH, Urteil vom 19.7.2023 – IV ZR 268/21

ECLI:DE:BGH:2023:190723UIVZR268.21.0

Volltext: BB-Online BBL2023-2241-2

unter www.betriebs-berater.de

Amtliche Leitsätze

a) Der Senat hält auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteile vom 24. Februar 2022, A u. a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513; vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u. a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40 [BB 2021, 2575]; vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u. a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667) daran fest, dass die Geltendmachung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG (hier in der Fassung vom 21. Juli 1994) auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung ausnahmsweise Treu und Glauben (§ 242 BGB) widersprechen und damit unzulässig sein kann, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind (Fortführung des Senatsurteils vom 15. März 2023 – IV ZR 40/21, VersR 2023, 631 Rn. 21 [BB 2023, 834]).

b) Zum Einwand von Treu und Glauben ist keine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union geboten (Fortführung des Senatsurteils vom 15. Februar 2023 – IV ZR 353/21, r+s 2023, 298 Rn. 27 ff. [BB 2023, 641]).

BGB §§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, 242 Cc;

VVG vom 21. Juli 1994 § 5a Abs. 1 Satz 1

 

Sachverhalt

Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche auf bereicherungsrechtliche Rückabwicklung einer kapitalbildenden Lebensversicherung nach Widerspruch geltend.

Diese Versicherung wurde auf Antrag der Klägerin vom 11. Mai 1999 mit Versicherungsbeginn zum 1. Juni 1999 nach dem sogenannten Policenmodell des § 5a VVG in der seinerzeit gültigen Fassung (im Folgenden: § 5a VVG a.F.) abgeschlossen. Die Klägerin wurde über ihr Widerspruchsrecht nicht ordnungsgemäß belehrt. Mit einer dem Versicherungsantrag beigefügten Abtretungserklärung vom 11. Mai 1999 trat sie alle gegenwärtigen und künftigen Ansprüche aus dem abzuschließenden Versicherungsvertrag zur Sicherung eines Baudarlehens an die E      AG (im Folgenden: Bank) ab. Sie zahlte fortan die Beiträge.

Mit Schreiben vom 5. Juli 2018 widersprach die Klägerin dem Abschluss der Lebensversicherung. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück.

Mit der Klage begehrt die Klägerin Rückzahlung der geleisteten Beiträge und Herausgabe von Nutzungen abzüglich Risikokosten, insgesamt 113.816,74 €. Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Aus den Gründen

5          Die Revision hat keinen Erfolg.

 

6          I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist ein Bereicherungsanspruch der Klägerin nach § 242 BGB wegen widersprüchlichen Verhaltens ausgeschlossen. Zwar könne im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Widerspruchsbelehrung der Versicherer grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand des Vertrages in Anspruch nehmen, weil er die Situation des "ewigen Widerspruchsrechts" selbst herbeigeführt habe. Etwas anderes könne sich im Einzelfall aber ergeben, wenn der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten den Eindruck erweckt habe, den Vertrag unbedingt fortsetzen zu wollen, und sein nachträglicher Widerspruch deshalb als treuwidrig erscheine. Erforderlich seien besonders gravierende Umstände. Auch unter Zugrundelegung dieser hohen Anforderungen sei der im Jahr 2018 erklärte Widerspruch der Klägerin als treuwidrig anzusehen. Sie habe im Versicherungsantrag angegeben, Anlass für den Abschluss der Lebensversicherung sei der Erwerb einer eigengenutzten Immobilie, und der Beklagten zeitgleich eine Abtretungserklärung übersandt, aus der sich ergeben habe, dass das Baufinanzierungsdarlehen aus der beantragten Lebensversicherung zurückgezahlt werden solle und deshalb alle gegenwärtigen und künftigen Rechte aus dem Lebensversicherungsvertrag an die Bank abgetreten werden würden. Da die Abtretung zur Tilgung des Baufinanzierungsdarlehens erfolgt sei und ausdrücklich auch die Todesfallleistung umfasst habe, habe sie nur bei Bestehen eines wirksamen Lebensversicherungsvertrages ihren Zweck erfüllt. Dieser Umstand sowie der unmittelbare zeitliche Zusammenhang zwischen dem Abschluss des Versicherungsvertrages und dessen Einsatz zur Kreditsicherung habe bei der Beklagten ein schutzwürdiges Vertrauen in den unbedingten Bestand des Vertrages begründet. Diese vertrauensbegründende Wirkung sei für die Klägerin auch erkennbar gewesen. Dass die Beklagte auf die Wirksamkeit des Versicherungsvertrages tatsächlich vertraut und entsprechende Vermögensdispositionen getroffen habe, ergebe sich bereits daraus, dass sie den Versicherungsvertrag als wirksam behandelt, die von der Klägerin gezahlten Prämien in die vertraglich vereinbarte Produktklasse investiert und in der Vergangenheit Versicherungsschutz gewährt habe. Europarechtliche Erwägungen stünden diesem Ergebnis nicht entgegen.

 

7          II. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand. Das Berufungsgericht hat der nicht ordnungsgemäß über ihr Widerspruchsrecht belehrten Klägerin einen bereicherungsrechtlichen Rückabwicklungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB zu Recht versagt.

 

8          1. Eine rechtsmissbräuchliche Ausübung des Widerspruchsrechts hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler deshalb bejaht, weil die Klägerin zeitgleich mit dem Versicherungsantrag alle Rechte aus der Lebensversicherung als Sicherheit für ein Baufinanzierungsdarlehen an die Bank abgetreten und der Beklagten die Abtretungserklärung übersandt hatte.

 

9          a) Nach der Rechtsprechung des Senats kann der Versicherer bei einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung zwar grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen, weil er die Situation selbst herbeigeführt hat (vgl. Senatsurteil vom 26. September 2018 - IV ZR 304/15, r+s 2018, 647 Rn. 23 m.w.N.). Aber auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung kann die Geltendmachung des Widerspruchsrechts ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind (Senatsurteil vom 15. März 2023 - IV ZR 40/21, VersR 2023, 631 Rn. 21 m.w.N.; vgl. auch Senatsbeschluss vom 27. Januar 2016 - IV ZR 130/15, r+s 2016, 230 Rn. 16). Dementsprechend hat der Senat bereits tatrichterliche Entscheidungen gebilligt, die in Ausnahmefällen mit Rücksicht auf besonders gravierende Umstände des Einzelfalles auch dem nicht oder nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer die Geltendmachung eines Bereicherungsanspruchs nach § 242 BGB verwehrt haben (Senatsurteil vom 15. März 2023 aaO m.w.N.).

 

10        Allgemein gültige Maßstäbe dazu, ob und unter welchen Voraussetzungen eine fehlerhafte Belehrung der Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung des Widerspruchsrechts entgegensteht, können nicht aufgestellt werden. Vielmehr obliegt die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben im Einzelfall dem Tatrichter. Auch in Fällen eines fortbestehenden Widerspruchsrechts kann die Bewertung des Tatrichters in der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht, alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder von einem falschen Wertungsmaßstab ausgeht (vgl.Senatsbeschluss vom 8. September 2021 - IV ZR 133/20, VersR 2021, 1479 Rn. 17 m.w.N.).

 

11        b) Die Annahme besonders gravierender Umstände billigt der Senat nur in wenigen Konstellationen, etwa bei der Sicherungsabtretung einschließlich der Todesfallleistung in engem Zusammenhang mit dem Abschluss eines Darlehensvertrages (vgl. Senatsbeschluss vom 27. Januar 2016 - IV ZR 130/15, r+s 2016, 230 Rn. 16). Allein der einmalige Einsatz der Lebensversicherung als Kreditsicherungsmittel ist jedoch in der Regel nicht als besonders gravierender Umstand zu werten, der dem Versicherungsnehmer die Geltendmachung seines Anspruchs verwehrt. Der Einsatz der Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag zur Sicherung der Rechte eines Dritten aus einem Darlehensvertrag lässt keinen zwingenden Schluss darauf zu, dass der Versicherungsnehmer in Kenntnis seines Lösungsrechtes vom Vertrag an diesem festgehalten und von seinem Recht keinen Gebrauch gemacht hätte. Hingegen kann ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers auf den Bestand des Versicherungsvertrages etwa bei einem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Abschluss des Versicherungsvertrages und dessen Einsatz zur Kreditsicherung oder bei einer mehrfachen Abtretung angenommen werden (Senatsurteil vom 15. März 2023 - IV ZR 40/21, VersR 2023, 631 Rn. 22 m.w.N.).

 

12        c) Unter Beachtung dieser Maßstäbe hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei angenommen, dass ein Bereicherungsanspruch der Klägerin wegen eines unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Abschluss des Versicherungsvertrages und dessen Einsatz zur Sicherung des Baufinanzierungsdarlehens nach Treu und Glauben ausgeschlossen ist. Nach den tatrichterlichen Feststellungen übersandte die Klägerin der Beklagten zeitgleich mit dem Versicherungsantrag eine Abtretungserklärung, aus der sich ergab, dass das Baufinanzierungsdarlehen aus der beantragten Lebensversicherung zurückgezahlt werden solle und deshalb alle gegenwärtigen und künftigen Rechte aus dem Lebensversicherungsvertrag an die Bank abgetreten würden. Dass die Klägerin - anders als sie noch im Berufungsverfahren behauptet hatte - nicht die bloße Absicht einer Abtretung anzeigte, sondern der Beklagten die gegenüber der Bank erklärte Abtretung übermittelte und die Abtretungsvereinbarung tatsächlich zustande kam, hat das Berufungsgericht ebenfalls festgestellt. Dies greift die Revision - zu Recht - nicht an. Die Abtretung der Rechte aus dem Versicherungsvertrag umfasste auch die Todesfallleistung; dies setzt zwingend das Bestehen eines wirksamen Vertrages voraus (vgl. Senatsbeschluss vom 27. Januar 2016 - IV ZR 130/15, r+s 2016, 230 Rn. 16). Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen dem Abschluss des Versicherungsvertrages und dessen Einsatz zur Kreditsicherung durfte bei der Beklagten für die Klägerin erkennbar ein schutzwürdiges Vertrauen auf den unbedingten Bestand des Vertrages begründen, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat. Dass die Beklagte auf die Wirksamkeit des Versicherungsvertrages tatsächlich vertraute und entsprechende Vermögensdispositionen traf, hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei daraus abgeleitet, dass sie den Versicherungsvertrag als wirksam behandelte, die von der Klägerin gezahlten Prämien unstreitig in die vereinbarte Produktklasse investierte und Versicherungsschutz gewährte.

 

13        2. Zum Einwand von Treu und Glauben ist auch hier eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nicht geboten. Der Senat hat bereits entschieden und im Einzelnen begründet, dass auch im Falle einer unterstellten Unionsrechtswidrigkeit des Policenmodells zum Einwand von Treu und Glauben eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nicht erforderlich ist, wenn dem (im Wesentlichen) ordnungsgemäß über sein Widerspruchsrecht belehrten Versicherungsnehmer nach jahrelanger Durchführung des Vertrages die Berufung auf dessen angebliche Unwirksamkeit nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt wird (Fortführung der Senatsurteile vom 26. April 2023 - IV ZR 300/22, VersR 2023, 830 Rn. 30 ff.; vom 15. Februar 2023 - IV ZR 353/21, r+s 2023, 298 Rn. 27 f.; jeweils m.w.N.). Aber auch bei einer nicht nur geringfügig fehlerhaften oder fehlenden Widerspruchsbelehrung gilt, dass die Maßstäbe für eine Berücksichtigung der Gesichtspunkte von Treu und Glauben in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt sind. Die Annahme rechtsmissbräuchlichen Verhaltens steht in Fällen wie dem vorliegenden in Einklang mit dieser Rechtsprechung. Die Anwendung auf den Einzelfall obliegt dem nationalen Gericht und beeinträchtigt hier die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts und den Sinn und Zweck des Widerspruchsrechts nicht. Eine Vorlagepflicht ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass das Landgericht Erfurt (Beschluss vom 14. Oktober 2022 - 8 O 1462/20, juris Rn. 25 f.) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (C-718/22, juris) gerichtet hat, das die gleiche Problematik betrifft (Anschluss an EuGH, Urteil vom 9. September 2015, X und van Dijk, C-72/14, C-197/14, EU:C:2015:564 = juris Rn. 56-63).

 

14        a) Die Frage, ob verbraucherschützende Widerspruchsrechte durch nationale Vorschriften zum Rechtsmissbrauch beschränkt werden dürfen, berührt zwar das Gebot der praktischen Wirksamkeit. Der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben und des Verbots widersprüchlicher Rechtsausübung steht dies aber nicht entgegen, weil die Ausübung dieser Rechte in das nationale Zivilrecht eingebettet bleibt und die nationalen Gerichte ein missbräuchliches Verhalten auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union berücksichtigen dürfen (Fortführung des Senatsurteil vom 15. Februar 2023 - IV ZR 353/21, r+s 2023, 298 Rn. 29 m.w.N.).

 

15        b) Etwas anderes ergibt sich entgegen der Ansicht der Revision nicht aus den Ausführungen des Gerichtshofs der Europäischen Union zum unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs in dessen Entscheidung vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40), die zu der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. 2008 L 133, S. 66; im Folgenden: Verbraucherkreditrichtlinie) ergangen ist und den nicht ordnungsgemäß belehrten Verbraucher betrifft. Danach ist es dem Kreditgeber verwehrt, sich im Fall der Ausübung des Widerrufsrechts nach Art. 14 Abs. 1 Verbraucherkreditrichtlinie durch den Verbraucher auf den Einwand der Verwirkung oder des Rechtsmissbrauchs zu berufen, wenn eine der in Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen zwingenden Angaben weder im Kreditvertrag enthalten noch nachträglich mitgeteilt worden ist (Anschluss an EuGH aaO Rn. 113 ff., 119 ff.; vgl. auch Senatsurteil vom 15. Februar 2023 - IV ZR 353/21, r+s 2023, 298 Rn. 30)

 

16        aa) Ob diese Entscheidung auf das Widerspruchsrecht des Versicherungsnehmers nach § 5a VVG a.F. übertragen werden kann, ist in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung und in der Literatur umstritten (dagegen: OLG Hamm VersR 2022, 1215 [juris Rn. 18 ff.]; OLG Karlsruhe VersR 2022, 352 [juris Rn. 5-14]; Looschelders, r+s 2022, 622, 623 f.; dafür: OLG Rostock, Urteil vom 8. März 2022 - 4 U 51/21, juris Rn. 117 f., 129; LG Erfurt VuR 2022, 146 Rn. 33, 40; Ebers, VuR 2022, 203, 205 ff.; Mährlein, VuR 2022, 145 f.; Schwintowski, VuR 2022, 83, 88 f.; Tiedemann, jurisPR-BKR 1/2022 Anm. 3 unter C und D) und erscheint nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz (VersR 2022, 1252 Rn. 63-67) nicht nur als entfernte Möglichkeit. Vor diesem Hintergrund hat der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz (aaO Rn. 34 ff., 69 ff.) die Voraussetzungen einer Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV in einem Fall eines nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmers bejaht.

 

17        bb) Entgegen der Ansicht des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz (VersR 2022, 1252 Rn. 39) stellen sich in Verfahren wie dem vorliegenden nicht die (vorlagepflichtigen) Fragen, ob es mit Unionsrecht vereinbar ist, dem Versicherungsnehmer ein auf Grundlage der Lebensversicherungsrichtlinien eingeräumtes Widerspruchsrecht, über das er nicht ordnungsgemäß belehrt worden war, wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens zu verwehren, und ob die Voraussetzungen für einen Rechtsmissbrauch unter Berücksichtigung der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts allein nach nationalem Recht bestimmt werden dürfen, auch wenn danach ein subjektives Tatbestandsmerkmal nicht vorausgesetzt wird. Aus der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40 Rn. 113 ff., 119 ff.) ergibt sich keine unklare Rechtslage bei der Beschränkung des Widerspruchsrechts des nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmers durch den Einwand von Treu und Glauben.

 

18        (1) Zu den Lebensversicherungsrichtlinien hat der Gerichtshof der Europäischen Union nicht ausdrücklich entschieden, ob und unter welchen Voraussetzungen der Ausübung des Rücktrittsrechts ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmers entgegengehalten werden kann (so auch Verfassungs-gerichtshof Rheinland-Pfalz VersR 2022, 1252 Rn. 41-54). Allerdings hat der Gerichtshof der Europäischen Union für den Bereich der Lebensversicherungen festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts und der Mitteilung von Informationen, insbesondere zur Ausübung dieses Rechts, im Einzelnen regeln können, womit naturgemäß Einschränkungen des Rücktrittsrechts einhergehen können. Das gilt sowohl für die Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG - Zweite Richtlinie Lebensversicherung, ABl. L 330 S. 50 und die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG - Dritte Richtlinie Lebensversicherung, ABl. L 360 S. 1 als auch für die Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen, ABl. L 345 S. 1 und die Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit - Solvabilität II, ABl. L 335 S. 1 (Senatsurteil vom 15. Februar 2023 - IV ZR 353/21, r+s 2023, 298 Rn. 31; vgl. EuGH, Beschluss vom 28. Mai 2020, WWK Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit, C-803/19, EU:C:2020:413 = juris Rn. 27 f. zur Richtlinie 2002/83/EG und Solvabilität II-Richtlinie; Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667 Rn. 55, 62 zur Zweiten und Dritten Richtlinie Lebensversicherung). Dabei müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinien gewährleistet ist (Senatsurteil vom 15. Februar 2023 aaO; vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 aaO).

 

19        Diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof im Anschluss an seine Entscheidung vom 9. September 2021 (Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40) für die Rechtsfolgen der Nichterfüllung oder der nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der in den Richtlinien vorgesehenen vorvertraglichen Mitteilungspflicht sowie in Bezug auf das dort niedergelegte Recht des Versicherungsnehmers auf Rücktritt vom Versicherungsvertrag bestätigt (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Februar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513 Rn. 120, 123 zur Richtlinie 2002/83/EG). Es ist Sache der Mitgliedstaaten, diese Aspekte des Versicherungsvertragsrechts zu regeln und dabei dafür zu sorgen, dass unter Berücksichtigung des mit den Richtlinien verfolgten Zwecks deren praktische Wirksamkeit gewährleistet ist (Senatsurteil vom 15. Februar 2023 - IV ZR 353/21, r+s 2023, 298 Rn. 32; vgl. EuGH aaO Rn. 120). Insoweit ist es Sache der nationalen Gerichte zu prüfen, ob die praktische Wirksamkeit des Rücktrittsrechts und der Mitteilungspflicht gewährleistet ist (Fortführung des Senatsurteil vom 15. Februar 2023 aaO; so auch EuGH aaO Rn. 123, 125; vgl. auch EuGH, Urteil vom 23. März 2000, Diamantis, C-373/97, EU:C:2000:150 = ZIP 2000, 663 Rn. 34 f.).

 

20        (2) Anders als der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz (VersR 2022, 1252 Rn. 50-54) meint, bleibt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht offen, ob die bei der Regelung der Modalitäten des Rücktrittsrechts zu gewährleistende praktische Wirksamkeit der mit der Richtlinie verfolgten Zwecke gewahrt wird, wenn der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht trotz fehlerhafter Belehrung wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens verlieren kann. Zwar liegt es in der Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union, dem nationalen Gericht alle geeigneten Auslegungskriterien für die Beurteilung der Frage, ob die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet ist, an die Hand zu geben (Senatsurteil vom 15. Februar 2023 - IV ZR 353/21, r+s 2023, 298 Rn. 34; so auch EuGH, Urteile vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, EU:C:2013:864 = VersR 2014, 225 Rn. 19; und vom 23. März 2000, Diamantis, C-373/97, EU:C:2000:150 = ZIP 2000, 663 Rn. 34 f.; vgl. auch BVerfG NJW 2022, 2828 Rn. 19). Die von den Lebensversicherungsrichtlinien verfolgten Zwecke sind aber in der Rechtsprechung des Gerichtshofs für den vorliegenden Fall hinreichend geklärt.

 

21        (a) Danach verfolgen die Lebensversicherungsrichtlinien den Informationszweck, eine genaue Belehrung des Versicherungsnehmers insbesondere über sein Rücktrittsrecht vor Abschluss des Vertrages sicherzustellen (Senatsurteil vom 15. Februar 2023 - IV ZR 353/21, r+s 2023, 298 Rn. 35; so auch EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667 Rn. 63-71). Zudem haben sie das Ziel, dem Versicherungsnehmer einen gewissen Zeitraum zur Verfügung zu stellen, um unter den verschiedenen verfügbaren Versicherungsverträgen den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen und auf informierter Grundlage zu entscheiden, ob er sich vertraglich binden will (Senatsurteil vom 15. Februar 2023 aaO; so auch EuGH, Urteil vom 24. Februar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513 Rn. 115). Er soll deshalb von einem Vertrag zurücktreten können, bei dem sich nach dessen Abschluss innerhalb der für die Ausübung des Rücktrittsrechts vorgesehenen Überlegungsfrist herausstellt, dass er nicht seinen Bedürfnissen entspricht (Fortführung des Senatsurteil vom 15. Februar 2023 aaO; EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 aaO Rn. 101). Des Weiteren ist geklärt, dass sich der Versicherer nicht mit Erfolg auf Gründe der Rechtssicherheit berufen kann, um einer Situation abzuhelfen, die er dadurch selbst herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung bestimmter Informationen nicht nachgekommen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 aaO Rn. 69). Im Übrigen ist zu vermeiden, dass der Versicherer nicht ausreichend dazu motiviert würde, seiner Verpflichtung zur zutreffenden Belehrung nachzukommen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 aaO Rn. 89).

 

22        (b) Die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben beeinträchtigt angesichts der im Streitfall vorliegenden besonderen Umstände die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts und den Sinn und Zweck des Widerspruchsrechts nicht.

 

23        (aa) Die Erwägungen der Lebensversicherungsrichtlinien, eine genaue Belehrung der Versicherungsnehmer über ihr Rücktrittsrecht vor Abschluss des Vertrages sicherzustellen, werden hier nicht berührt. Gleiches gilt für das Ziel, dem Versicherungsnehmer auf informierter Grundlage die Auswahl des seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrages zu ermöglichen und ihm ein Rücktrittsrecht für den Fall zu gewähren, dass sich der Vertrag nach dessen Abschluss als nicht seinen Bedürfnissen entsprechend herausstellt. Ob die Klägerin ordnungsgemäß über den Vertragsinhalt informiert und über das Widerspruchsrecht belehrt wurde, ist hier ausnahmsweise nicht entscheidungserheblich. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass die Klägerin unter Berücksichtigung der besonders gravierenden Umstände des Einzelfalles durch ihr über die übliche Vertragsabwicklung hinausgehendes Verhalten bei der Beklagten den Eindruck erweckt hat, unabhängig von einem Lösungsrecht den Vertrag unbedingt fortsetzen zu wollen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 22. März 2016 - IV ZR 130/15, r+s 2016, 231 Rn. 4; vom 13. Januar 2016 - IV ZR 117/15, juris Rn. 5 zu § 8 Abs. 5 VVG a.F.).

 

24        (bb) Es ist nicht zu befürchten, dass der Versicherer nicht ausreichend dazu motiviert würde, seiner Verpflichtung zur zutreffenden Belehrung nachzukommen; nicht durchgreifen kann auch eine etwaige Intention der Lebensversicherungsrichtlinien, den Versicherer, der die dort vorgesehenen Informationen nicht (ordnungsgemäß) erteilt, zu sanktionieren (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40 Rn. 124 f. zur Verbraucherkreditrichtlinie). Der Versicherer wird von einer solchen Pflichtverletzung hinreichend dadurch abgeschreckt, dass die Widerspruchsfrist gemäß § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. voraussetzt, dass dem Versicherungsnehmer der Versicherungsschein und die Unterlagen nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F., darunter die Verbraucherinformation gemäß § 10a VAG a.F., vollständig vorliegen und er ordnungsgemäß über sein Widerspruchsrecht belehrt worden ist. Im Falle eines Pflichtverstoßes hat der Versicherer mit einem wirksamen Widerspruch des Versicherungsnehmers auch nach Ablauf der gesetzlich vorgesehenen Widerspruchsfrist zu rechnen. Da die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerspruchsrechts nur ausnahmsweise in Betracht kommt, kann der Versicherer im Regelfall einen hierauf gestützten Einwand nicht mit Erfolg erheben. Die regelhafte Folge einer Pflichtverletzung liegt vielmehr in der Rückabwicklung der Vertragsbeziehung, und zwar auch dann, wenn seit dem Vertragsschluss erhebliche Zeit verstrichen ist (vgl. auch BGH, Beschluss vom 31. Januar 2022 - XI ZR 113/21 u.a., WM 2022, 420 Rn. 89 zur Verbraucherkreditrichtlinie).

 

25        (c) Der Möglichkeit, dass dem Versicherungsnehmer die Ausübung des Widerspruchsrechts nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) unter Wahrung der praktischen Wirksamkeit der Lebensversicherungsrichtlinien verwehrt sein kann, steht nicht die Annahme des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. Urteil vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40 Rn. 126) entgegen, der Kreditgeber, der dem Verbraucher die in Art. 10 der Verbraucherkreditrichtlinie genannten Informationen nicht erteilt hat, könne diesem im Fall der Ausübung des Widerrufsrechts keinen Missbrauch vorwerfen, auch wenn zwischen dem Vertragsschluss und dem Widerruf durch den Verbraucher erhebliche Zeit vergangen sei.

 

26        (aa) Diese Ausführungen des Gerichtshofs beziehen sich auf die Anwendung des allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, wonach sich der Einzelne nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Vorschriften dieses Rechts berufen darf. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die Feststellung eines Missbrauchs zum einen eine Gesamtheit objektiver Umstände voraus, aus denen sich ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40 Rn. 120 ff.). Um einen solchen Fall geht es aber nicht, wenn dem nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer die Berufung auf ein "ewiges" Widerspruchsrecht nach dem (nationalen) Einwand von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt wird (vgl. auch BVerfG VersR 2015, 693 Rn. 45; MünchKomm-BGB/Schubert, 9. Aufl. § 242 Rn. 112). Insoweit ist vielmehr entscheidend, dass sich im Einzelfall aus besonders gravierenden Umständen ein widersprüchliches Verhalten des Versicherungsnehmers ergibt, das über die übliche Vertragsabwicklung hinausgeht und für ihn erkennbar bei dem Versicherer den Eindruck erweckt hat, unabhängig von einem Lösungsrecht den Vertrag unbedingt fortsetzen zu wollen.

 

27        (bb) Zu beachten ist auch der unterschiedliche Harmonisierungsgrad der Verbraucherkreditrichtlinie und der Lebensversicherungsrichtlinien (vgl. OLG Karlsruhe VersR 2022, 352 [juris Rn. 13]; a.A. Ebers, VuR 2022, 203, 207).

 

28        Die Mitgliedstaaten dürfen in dem durch die Verbraucherkreditrichtlinie vollharmonisierten Bereich für die Vertragsparteien keine Verpflichtungen einführen, die nicht in der Richtlinie vorgesehen sind. Unter diese Harmonisierung durch die Verbraucherkreditrichtlinie fallen auch die zeitlichen Voraussetzungen der Ausübung des Widerrufsrechts durch den Verbraucher. Da die Verbraucherkreditrichtlinie jedoch keine zeitliche Beschränkung der Ausübung des Widerrufsrechts durch den Verbraucher für den Fall vorsieht, dass ihm diese Informationen nicht erteilt wurden, darf eine solche Beschränkung mithin auch nicht in einem Mitgliedstaat durch die nationalen Rechtsvorschriften auferlegt werden (Anschluss an EuGH, Urteil vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40 Rn. 108, 115-117). Vor diesem Hintergrund und weil die Verbraucherkreditrichtlinie keine Vorschriften enthält, die die Frage des Missbrauchs der ihm von dieser Richtlinie eingeräumten Rechte durch den Verbraucher regeln, hat der Gerichtshof sodann den unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs geprüft und entschieden, dass der Kreditgeber dem nicht ordnungsgemäß informierten Verbraucher keinen Missbrauch seines Widerrufsrechts vorwerfen könne, auch wenn zwischen dem Vertragsschluss und dem Widerruf durch den Verbraucher erhebliche Zeit vergangen sei (vgl. EuGH aaO Rn. 119 ff.; Looschelders, r+s 2022, 622, 623).

 

29        Zum Versicherungsvertragsrecht hat der Gerichtshof hingegen entschieden, dass die nicht vollharmonisierten Lebensversicherungs-richtlinien die Regelung der Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts und der Mitteilung von Informationen, insbesondere zur Ausübung dieses Rechts, den Mitgliedstaaten überlassen, womit naturgemäß Einschränkungen des Rücktrittsrechts einhergehen können (vgl. EuGH, Beschluss vom 28. Mai 2020, WWK Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit, C-803/19, EU:C:2020:413 = juris Rn. 27 f. zur Richtlinie 2002/83/EG und Solvabilität II-Richtlinie; Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667 Rn. 55, 62 zur Zweiten und Dritten Richtlinie Lebensversicherung). Grenzen ergeben sich hier lediglich aus dem Gebot der praktischen Wirksamkeit (vgl. EuGH, Urteile vom 24. Februar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513 Rn. 120, 123 zur Richtlinie 2002/83/EG; vom 19. Dezember 2019 aaO).

 

30        (d) Schließlich bestehen entgegen der Auffassung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz (VersR 2022, 1252 Rn. 58-62, 73) keine Bedenken dagegen, dass für den aus widersprüchlichem Verhalten hergeleiteten Einwand von Treu und Glauben (§ 242 BGB) unredliche Absichten oder ein Verschulden des Versicherungsnehmers nicht erforderlich sind (vgl. Senatsurteil vom 15. Februar 2023 - IV ZR 353/21, r+s 2023, 298 Rn. 39 m.w.N.). Dass der Gerichtshof der Europäischen Union für die Feststellung eines Missbrauchs neben einer Gesamtheit objektiver Umstände auch ein subjektives Element fordert (vgl. EuGH, vom 9. September 2021, Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40 Rn. 122), betrifft - wie bereits ausgeführt - den unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs und damit nicht den hier vorliegenden Fall.

 

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