EuGH: Festsetzung von Mindesthonoraren durch Berufsverband der Rechtsanwälte und „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung
EuGH, Urteil vom 25.1.2024 – C-438/22, Em akaunt BG ЕООD gegen Zastrahovatelno aktsionerno druzhestvo Armeets AD
ECLI:EU:C:2024:71
Volltext: BB-Online BBL2024-257-2
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Tenor
1. Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn es feststellen sollte, dass eine nach einer nationalen Regelung verbindliche Verordnung, mit der die Mindesthonorare der Anwälte festgesetzt werden, gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstößt, die Anwendung dieser nationalen Regelung auf die zur Zahlung der den Anwaltshonoraren entsprechenden Kosten verurteilte Partei ablehnen muss, und zwar auch dann, wenn diese Partei keinen Vertrag über Anwaltsdienstleistungen und Anwaltshonorare abgeschlossen hat.
2. Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung, die es zum einen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten nicht erlaubt, eine Vergütung zu vereinbaren, die unter dem Mindestbetrag liegt, der durch eine von einem Berufsverband der Rechtsanwälte wie dem Visshia advokatski savet (Oberster Rat der Anwaltschaft) erlassene Verordnung festgesetzt wurde, und es zum anderen dem Gericht nicht gestattet, die Erstattung eines unter diesem Mindestbetrag liegenden Honorarbetrags anzuordnen, als „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist. Bei Vorliegen einer solchen Beschränkung können die angeblich mit dieser nationalen Regelung verfolgten legitimen Ziele nicht geltend gemacht werden, um das fragliche Verhalten dem in Art. 101 Abs. 1 AEUV enthaltenen Verbot von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen und Verhaltensweisen zu entziehen.
3. Art. 101 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn es feststellt, dass eine nach einer nationalen Regelung verbindliche Verordnung, mit der die Mindesthonorare der Anwälte festgesetzt werden, dem Verbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV zuwiderläuft, die Anwendung dieser nationalen Regelung ablehnen muss, und zwar auch dann, wenn die in dieser Verordnung vorgesehenen Mindestbeträge die tatsächlichen Marktpreise der Anwaltsdienstleistungen widerspiegeln.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 Abs. 1 und 2 AEUV in Verbindung mit Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Em akaunt BG EOOD und der Zastrahovatelno aktsionerno druzhestvo Armeets AD wegen der Forderung einer Sachversicherungsentschädigung für den Diebstahl eines Pkw sowie einer Entschädigung wegen Verzugs.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 („Beweislast“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:
„In allen einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Verfahren zur Anwendung der Artikel [101 und 102 AEUV] obliegt die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Artikel [101] Absatz 1 oder Artikel [102 AEUV] der Partei oder der Behörde, die diesen Vorwurf erhebt. Die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des Artikels [101] Absatz 3 [AEUV] vorliegen, obliegt den Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, die sich auf diese Bestimmung berufen.“
Bulgarisches Recht
GPK
4 Art. 78 („Kostenfestsetzung“) des Grazhdanski protsesualen kodeks (Zivilprozessordnung, im Folgenden: GPK) bestimmt:
„(1) Die vom Kläger entrichteten Gebühren, Verfahrenskosten und Anwaltshonorare, falls er einen Anwalt hatte, hat der Beklagte in dem Verhältnis zu tragen, in dem der Forderung stattgegeben wurde.
…
(5) Ist das von einer Partei gezahlte Anwaltshonorar im Hinblick auf die rechtliche und tatsächliche Schwierigkeit der Rechtssache übermäßig hoch, kann das Gericht auf Antrag der Gegenseite die Kosten insoweit niedriger festsetzen, dabei aber die gemäß Art. 36 [des Zakon za advokaturata (Gesetz über die Anwaltschaft)] festgelegte Mindesthöhe nicht unterschreiten.
…“
5 In Art. 162 GPK heißt es, dass „das Gericht …, wenn der Antrag begründet ist, die Angaben zum Betrag jedoch unzureichend sind, diesen Betrag nach seinem Ermessen [bestimmt] oder … die Stellungnahme eines Sachverständigen [einholt]“.
6 Art. 248 GPK sieht vor:
„(1) Innerhalb der Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels sowie, wenn gegen die Entscheidung kein Rechtsmittel gegeben ist, innerhalb einer Frist von einem Monat ab Verkündung der Entscheidung kann das Gericht auf Antrag der Parteien die erlassene Entscheidung in dem Teil, der die Kosten betrifft, ergänzen oder abändern.
(2) Das Gericht übermittelt den Antrag auf Ergänzung oder Abänderung des Urteils der Gegenpartei und fordert sie auf, innerhalb einer Frist von einer Woche darauf zu antworten.
(3) Der Kostenfestsetzungsbeschluss ergeht in nicht öffentlicher Sitzung und wird den Parteien zugestellt. Gegen diesen Beschluss kann unter denselben Modalitäten ein Rechtsmittel eingelegt werden wie gegen die Entscheidung.“
ZAdv
7 Art. 36 Abs. 1 und 2 des Zakon za advokaturata (Gesetz über die Anwaltschaft) (DV Nr. 55 vom 25. Juni 2004; letzte Änderung veröffentlicht im DV Nr. 17 vom 26. Februar 2021) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZAdv) lautet wie folgt:
„(1) Der Anwalt oder der Anwalt aus der Europäischen Union hat Anspruch auf Vergütung seiner Arbeit.
(2) Die Höhe des Honorars wird durch Vertrag zwischen dem Anwalt oder dem Anwalt aus der Europäischen Union und dem Mandanten bestimmt. Diese Höhe muss angemessen und gerechtfertigt sein und darf nicht niedriger sein als in der Verordnung des Visshia advokatski savet (Oberster Rat der Anwaltschaft, Bulgarien) für die entsprechende Art von Tätigkeit vorgesehen.“
8 Art. 38 des ZAdv bestimmt:
„(1) Ein Anwalt oder ein Anwalt aus der Europäischen Union kann folgenden Personen kostenlos rechtliche Hilfe und Beistand leisten: …
(2) Werden in den in Abs. 1 genannten Fällen die Kosten in dem betreffenden Verfahren der Gegenpartei auferlegt, so hat der Anwalt oder Anwalt aus der Europäischen Union Anspruch auf ein Anwaltshonorar. Das Gericht legt das Honorar auf einen Betrag fest, der nicht niedriger sein darf als in der in Art. 36 Abs. 2 genannten Verordnung vorgesehen, und verurteilt die andere Partei zu dessen Zahlung.“
Verordnung Nr. 1 über die Mindesthonorare der Anwälte
9 Art. 1 der Naredba n° 1 za minimalnite razmeri na advokatskite vaznagrazhdenia (Verordnung Nr. 1 über die Mindesthonorare der Anwälte) vom 9. Juli 2004 (DV Nr. 64 vom 23. Juli 2004) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1 über die Mindesthonorare der Anwälte) sieht vor:
„Die Höhe der Vergütung für die vom Rechtsanwalt erbrachte Rechtshilfe wird durch freie Vereinbarung auf der Grundlage eines schriftlichen Vertrags mit dem Mandanten festgelegt, darf aber nicht niedriger sein als die in dieser Verordnung für die entsprechende Art von Hilfe festgelegte Mindesthöhe.“
10 Gemäß Art. 2 Abs. 5 dieser Verordnung wird die Vergütung für die rechtliche Vertretung, die Verteidigung und den Beistand in Zivilverfahren nach Art und Zahl der erhobenen Klagen für jede einzelne von ihnen gesondert festgesetzt, unabhängig von der Form ihrer Verbindung.
11 Art. 7 Abs. 2 der Verordnung legt bestimmte Honorarbeträge fest für die Vertretung, die Verteidigung und den rechtlichen Beistand nach Maßgabe insbesondere des Werts des verteidigten Interesses.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Em akaunt BG erhob beim Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) Klage gegen Zastrahovatelno aktsionerno druzhestvo Armeets, ihren Versicherer, auf Zahlung einer Sachversicherungsentschädigung für den Diebstahl eines Pkw in Höhe von 16 112,32 bulgarischen Leva (BGN) (ca. 8 241 Euro) zuzüglich einer Entschädigung wegen Verzugs zum gesetzlichen Zinssatz in Höhe von 1 978,24 BGN (ca. 1 012 Euro).
13 Diese Schadensersatzklage umfasste die Anwaltshonorare der Klägerin des Ausgangsverfahrens, die nach einer zuvor zwischen der Klägerin des Ausgangsverfahrens und ihrem Anwalt geschlossenen Vereinbarung berechnet wurden. Diese Honorare beliefen sich auf 1 070 BGN (ca. 547 Euro). Die Beklagte des Ausgangsverfahrens machte geltend, dass die geforderten Honorare überhöht seien, und beantragte deren Herabsetzung.
14 Mit Urteil vom 16. Februar 2022 entschied das vorlegende Gericht über den Rechtsstreit und gab der Schadensersatzklage teilweise statt. Was die Kosten angeht, hielt es den Betrag der geforderten Honorare für überhöht und setzte ihn auf 943 BGN (ca. 482 Euro) herab.
15 In seiner Begründung der Herabsetzung der Anwaltshonorare verwies das vorlegende Gericht auf Art. 78 Abs. 5 GPK, wonach das angerufene Gericht den Betrag der geschuldeten Anwaltshonorare herabsetzen könne, wenn sie im Hinblick auf die rechtliche und tatsächliche Schwierigkeit der Rechtssache übermäßig hoch erschienen. Diese Vorschrift erlaube es dem Gericht jedoch nicht, einen Betrag festzusetzen, der niedriger als der in Art. 36 ZAdv vorgesehene Mindestbetrag sei.
16 Das vorlegende Gericht war ferner der Ansicht, dass sich aus dem Urteil vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), ergebe, dass die in Art. 78 Abs. 5 GPK enthaltene Regelung in Verbindung mit Art. 36 ZAdv Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV nicht zuwiderlaufe, da sie für die Erreichung eines legitimen Ziels erforderlich sei. Das mit dieser Regelung verfolgte legitime Ziel bestehe darin, die Erbringung hochwertiger juristischer Dienstleistungen gegenüber der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Die Einführung eines Mindesthonorars sei zur Verfolgung dieses Ziels geeignet und verhältnismäßig, da sie dem Anwalt ein hinreichendes Einkommen sichere, das ihm eine würdige Existenz, die Erbringung hochwertiger Dienstleistungen und Fortbildungen ermögliche. Das Bruttohonorar, bis zu dessen Höhe die Vergütung im Sinne der nationalen Regelung über Mindesthonorare nicht überhöht sei, belaufe sich auf 42 BGN (ca. 21 Euro) pro Stunde.
17 Das vorlegende Gericht weist im Übrigen darauf hin, dass es dem Ergebnis nicht zustimme, zu dem der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) in seinem Beschluss Nr. 28, Zweite Kammer für Handelssachen, vom 21. Januar 2022 in der Rechtssache Nr. 2347/2021 gelangt sei, in dem im Wesentlichen entschieden worden sei, dass „die festgesetzten Mindesthonorare es an sich nicht verhindern können, dass ein Anwalt minderwertige Dienstleistungen anbietet“, da auch die Wirkung zu berücksichtigen sei, die sich aus dem Zusammenspiel mit den beruflichen und ethischen Regeln für die Anwaltschaft ergebe.
18 Beide Parteien des Ausgangsverfahrens legten gegen die Entscheidung des vorlegenden Gerichts über die Schadensersatzklage Rechtsmittel ein. In der Folge stellt die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht ferner einen Antrag auf Überprüfung der Kostenentscheidung mit der Begründung, dass die Anwaltshonorare auf einen Betrag festgesetzt worden seien, der unter der in der nationalen Regelung vorgesehenen Schwelle liege.
19 Das vorlegende Gericht hegt Zweifel hinsichtlich der Art und Weise, in der es diese Prüfung angesichts der Erläuterungen des Gerichtshofs im Urteil vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), durchzuführen hat.
20 Unter diesen Umständen hat der Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV, ausgelegt im Sinne des Urteils vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), dahin zu verstehen, dass die nationalen Gerichte eine nationale Rechtsvorschrift, nach der das Gericht nicht berechtigt ist, der unterlegenen Partei Kosten der Anwaltsvergütung in einer Höhe aufzuerlegen, die unter einem Mindestbetrag liegt, der durch eine allein von einer Standesorganisation der Rechtsanwälte wie dem Obersten Rat der Anwaltschaft erlassenen Verordnung festgelegt worden ist, unangewendet lassen können, wenn sie nicht auf die Erreichung legitimer Ziele beschränkt ist, und zwar nicht nur gegenüber den Vertragsparteien, sondern auch gegenüber Dritten, die zur Zahlung der Kosten des Verfahrens verurteilt werden könnten?
2. Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV, ausgelegt im Sinne des Urteils vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), dahin zu verstehen, dass die legitimen Ziele, die die Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift rechtfertigen, nach der das Gericht nicht berechtigt ist, der unterlegenen Partei Kosten der Anwaltsvergütung in einer Höhe aufzuerlegen, die unter einem Mindestbetrag liegt, der durch eine von einer Standesorganisation der Rechtsanwälte wie dem Obersten Rat der Anwaltschaft erlassene Verordnung festgelegt worden ist, als gesetzlich festgelegt anzusehen sind und das Gericht die nationale Regelung unangewendet lassen kann, wenn es nicht feststellt, dass diese Ziele im konkreten Fall überschritten werden, oder ist vielmehr davon auszugehen, dass die nationale rechtliche Regelung unanwendbar ist, sofern nicht die Erreichung dieser Ziele festgestellt wird?
3. Welche Partei hat gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 in einem Zivilrechtsstreit, in dem der unterlegenen Partei die Kosten auferlegt werden, das Vorliegen eines legitimen Ziels und die Verhältnismäßigkeit seiner Verfolgung durch eine von einer Standesorganisation der Rechtsanwälte erlassene Verordnung über die niedrigstmögliche Höhe der Anwaltsvergütung nachzuweisen, wenn eine Herabsetzung der Anwaltsvergütung wegen Überhöhung beantragt wird: die Partei, die die Verurteilung in die Kosten beantragt, oder die unterlegene Partei, die die Herabsetzung der Vergütung beantragt?
4. Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV, ausgelegt im Sinne des Urteils vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), dahin zu verstehen, dass eine staatliche Behörde wie die Narodnoto sabranie (Nationalversammlung, Bulgarien), wenn sie die Annahme von Mindestpreisen durch eine Verordnung an eine Standesorganisation der Rechtsanwälte delegiert, ausdrücklich spezifische Methoden benennen muss, anhand deren die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung zu bestimmen ist, oder ist der Standesorganisation aufzugeben, diese beim Erlass der Verordnung zu erörtern (z. B. in der Begründung des Entwurfs oder in anderen vorbereitenden Dokumenten), und hat das Gericht gegebenenfalls, wenn solche Methoden nicht berücksichtigt werden, die Anwendung der Verordnung abzulehnen, ohne die konkreten Beträge zu prüfen, und ist das Vorhandensein einer begründeten Erörterung solcher Methoden ausreichend, um anzunehmen, dass die Regelung auf das beschränkt ist, was zur Erreichung der gesetzten legitimen Ziele erforderlich ist?
5. Falls die vierte Frage zu verneinen ist: Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV, ausgelegt im Sinne des Urteils vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), dahin zu verstehen, dass das Gericht die legitimen Ziele, die die Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift rechtfertigen, nach der das Gericht nicht berechtigt ist, der unterlegenen Partei Kosten der Anwaltsvergütung in einer Höhe aufzuerlegen, die unter einem Mindestbetrag liegt, der durch eine von einer Standesorganisation der Rechtsanwälte wie dem Obersten Rat der Anwaltschaft erlassene Verordnung festgelegt worden ist, und ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Auswirkungen auf den für die Rechtssache konkret vorgesehenen Betrag zu beurteilen und die Anwendung dieses Betrags, wenn er das zur Erreichung der Ziele Erforderliche übersteigt, abzulehnen hat, oder muss das Gericht die Art der in der Verordnung für die Festlegung eines Betrags vorgesehenen Kriterien und ihre Ausprägung grundsätzlich erforschen und, wenn es feststellt, dass sie in bestimmten Fällen das zur Erreichung der Ziele Erforderliche übersteigen können, die betreffende Regel in allen Fällen unangewendet lassen?
6. Wenn als legitimes Ziel der Mindestvergütung die Gewährleistung hochwertiger juristischer Dienstleistungen angenommen wird, erlaubt Art. 101 Abs. 1 AEUV dann, dass die Mindestbeträge allein auf der Grundlage der Art der Rechtssache (Streitgegenstand), des materiellen Interesses an der Rechtssache und teilweise der Zahl der durchgeführten Sitzungen festgelegt werden, ohne andere Kriterien wie das Vorliegen einer Komplexität in tatsächlicher Hinsicht, die anwendbaren nationalen und internationalen Vorschriften usw. zu berücksichtigen?
7. Wenn die Antwort auf die fünfte Frage lautet, dass das nationale Gericht für jeden Prozess gesondert zu prüfen hat, ob die legitimen Ziele der Gewährleistung eines wirksamen rechtlichen Beistands die Anwendung der rechtlichen Regelung des Mindestbetrags für die Vergütung rechtfertigen können, anhand welcher Kriterien hat das Gericht dann die Verhältnismäßigkeit des Mindestbetrags für die Vergütung in der konkreten Rechtssache zu beurteilen, wenn es der Ansicht ist, dass ein Mindestbetrag mit dem Ziel geregelt ist, einen wirksamen rechtlichen Beistand auf nationaler Ebene zu gewährleisten?
8. Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen, dass bei der Beurteilung der siebten Frage eine von der Exekutivgewalt gebilligte Regelung über die vom Staat an von Amts wegen bestellte Anwälte zu zahlende Vergütung zu berücksichtigen ist, die – kraft einer gesetzlichen Verweisung – den Höchstbetrag für die Erstattung an die durch einen Justiziar vertretene, in der Rechtssache obsiegende Partei darstellt?
9. Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass das nationale Gericht bei der Beurteilung der siebten Frage verpflichtet ist, eine Höhe für die Vergütung anzugeben, die zur Erreichung des Ziels der Gewährleistung eines hochwertigen rechtlichen Beistands ausreicht und die es mit derjenigen vergleichen muss, die sich aus der rechtlichen Regelung ergibt, und die Gründe für die von ihm nach seinem Ermessen festgelegte Höhe darlegen muss?
10. Ist Art. 101 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit den Grundsätzen der Effektivität innerstaatlicher verfahrensrechtlicher Mittel und des Verbots des Rechtsmissbrauchs dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn es feststellt, dass eine Entscheidung einer Unternehmensvereinigung gegen die Verbote der Wettbewerbsbeschränkung verstößt, indem sie Mindesttarife für ihre Mitglieder festlegt, ohne dass es triftige Gründe für die Zulassung eines solchen Eingriffs gibt, verpflichtet ist, die in dieser Entscheidung festgelegten Mindesttarifsätze anzuwenden, da sie die tatsächlichen Marktpreise der Dienstleistungen widerspiegeln, auf die sich die Entscheidung bezieht, weil alle Personen, die die betreffende Dienstleistung erbringen, zur Mitgliedschaft in dieser Vereinigung verpflichtet sind?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
21 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und inwieweit nationale Gerichte bei der Festlegung des Kostenbetrags, dessen Erstattung als Anwaltskosten verlangt werden kann, durch eine von einem Berufsverband der Rechtsanwälte – dem Rechtsanwälte nach dem Gesetz zwingend angehören – erlassene Honorarordnung gebunden sind, in der Mindesthonorare festgesetzt sind.
22 Das Gericht ersucht im Wesentlichen um Erläuterungen zum Umfang und zur Art der Kontrolle, die es im Ausgangsverfahren angesichts des in Art. 101 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Kartellverbots in der Auslegung insbesondere im Urteil vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), hinsichtlich der Gültigkeit einer solchen Honorarordnung durchzuführen hat.
23 Mit diesem Urteil, das auf zwei Vorabentscheidungsersuchen des vorlegenden Gerichts zur Auslegung von Art. 101 AEUV hin ergangen ist, hat der Gerichtshof erstens entschieden, dass eine nationale Regelung – wie die bulgarische Regelung über Anwaltshonorare, um die es in der Rechtssache ging, in der dieses Urteil ergangen ist –, die es zum einen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten nicht erlaubt, eine Vergütung zu vereinbaren, die unter dem Mindestbetrag liegt, der durch eine von der Unternehmensvereinigung, die ein Berufsverband der Rechtsanwälte darstellt, erlassene Verordnung festgesetzt wurde, und es zum anderen den angerufenen nationalen Gerichten nicht gestattet, die Erstattung eines unter diesen Mindestbeträgen liegenden Honorarbetrags anzuordnen, den Wettbewerb im Binnenmarkt im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV beeinträchtigen kann (Urteil vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International, C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890, Rn. 49 und 52).
24 Zweitens hat der Gerichtshof, nach einem Verweis auf die Rechtsprechung zur insbesondere im Urteil vom 19. Februar 2002, Wouters u. a. (C‑309/99, EU:C:2002:98) (im Folgenden: Urteil Wouters) genannten Möglichkeit, bestimmte Verhaltensweisen, deren wettbewerbsbeschränkende Wirkungen notwendig mit der Verfolgung legitimer Ziele verbunden sind, als nicht unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fallend anzusehen, ausgeführt, dass er anhand der ihm vorliegenden Akte nicht beurteilen konnte, ob die fragliche nationale Regelung als für die Umsetzung eines legitimen Ziels notwendig angesehen werden konnte. Er hat daher festgestellt, dass es Sache des vorlegenden Gerichts war, in Ansehung des Gesamtzusammenhangs, in dem die vom Obersten Rat der Anwaltschaft erlassene Verordnung zustande gekommen war oder ihre Wirkungen entfaltete, zu beurteilen, ob die Regeln, die die in den Ausgangsverfahren fraglichen Beschränkungen auferlegten, in Anbetracht aller ihm vorliegenden erheblichen Gesichtspunkte als für die Umsetzung dieses Zieles notwendig angesehen werden konnten (Urteil vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International, C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890, Rn. 53 bis 57).
25 Dieser zweite Teil der Würdigung des Gerichtshofs ist das Herzstück der Fragen des vorlegenden Gerichts. Dieses vertritt nämlich die Ansicht, dass der Gerichtshof es dem nationalen Gericht überlasse, zu entscheiden, ob es möglich ist, dass ein Organ einer Vereinigung von Unternehmen, die diese Dienstleistungen erbringen und ein wettbewerbswidriges Interesse haben, Mindestpreise für Dienstleistungen festlegt, d. h., ob es möglich ist, Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot des Art. 101 AEUV aufzustellen. Die nationale Rechtsprechung und die nationalen Vorschriften würfen zahlreiche Zweifel in Bezug darauf auf, wie die Verordnung Nr. 1 über die Mindesthonorare der Anwälte anzuwenden und wie zu bestimmen sei, ob die Honorare, die die unterliegende Partei zu erstatten habe, unangemessen seien.
26 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Rolle des Gerichtshofs im Verfahren nach Art. 267 AEUV, der auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, auf die Auslegung derjenigen Bestimmungen des Unionsrechts beschränkt, zu denen ihm Fragen vorgelegt werden, hier Art. 101 Abs. 1 AEUV. Folglich ist es nicht Sache des Gerichtshofs, sondern des vorlegenden Gerichts, abschließend zu beurteilen, ob die fragliche Vereinbarung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens und seines wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs Wettbewerbsbeschränkungen bezweckt (Urteile vom 18. November 2021, Visma Enterprise, C‑306/20, EU:C:2021:935, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 29. Juni 2023, Super Bock Bebidas, C‑211/22, EU:C:2023:529, Rn. 28).
27 Der Gerichtshof kann jedoch bei seiner Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren auf der Grundlage der ihm vorliegenden Akten bestimmte Punkte klarstellen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben, damit es den Rechtsstreit entscheiden kann (Urteile vom 18. November 2021, Visma Enterprise, C‑306/20, EU:C:2021:935, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 29. Juni 2023, Super Bock Bebidas, C‑211/22, EU:C:2023:529, Rn. 29).
28 In der vorliegenden Rechtssache ist es erforderlich, Erläuterungen zur Tragweite der Verweisung auf das Urteil Wouters zu geben, die der Gerichtshof in den Rn. 53 bis 55 des Urteils vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), vorgenommen hat.
29 Diese Verweisung könnte nämlich zu der Annahme verleiten, dass selbst ein Verhalten eines Unternehmens, das eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellt, wie die horizontale Festsetzung von vorgeschriebenen Mindesttarifen, dem in dieser Bestimmung – eventuell in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV – festgelegten Verbot entgehen kann, wenn die sich aus diesem Verhalten ergebenden wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen notwendig mit der Verfolgung legitimer Ziele verbunden sind.
30 Aus ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich zwar, dass nicht jede Vereinbarung zwischen Unternehmen oder jeder Beschluss einer Unternehmensvereinigung, durch die die Handlungsfreiheit der Unternehmen, die Partei dieser Vereinbarung sind oder diesen Beschluss beachten müssen, beschränkt wird, zwangsläufig unter das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt. Die Prüfung des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs, in den sich einige dieser Vereinbarungen und Beschlüsse einfügen, kann nämlich zu der Feststellung führen, dass erstens diese durch die Verfolgung eines oder mehrerer legitimer im Allgemeininteresse liegender Ziele gerechtfertigt sind, die an sich keinen wettbewerbswidrigen Charakter haben, zweitens die zur Verfolgung dieser Ziele eingesetzten konkreten Mittel zu diesem Zweck tatsächlich erforderlich sind, und drittens, selbst wenn sich herausstellt, dass diese Mittel notwendig – zumindest potenziell – eine Wettbewerbsbeschränkung oder ‑verzerrung bewirken, diese notwendige Wirkung nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, insbesondere indem jeglicher Wettbewerb ausgeschaltet wird (Urteil vom 21. Dezember 2023, European Superleague Company, C‑333/21, EU:C:2023:1011, Rn. 183).
31 Diese Rechtsprechung kann insbesondere bei Vereinbarungen oder Beschlüssen in Form von Vorschriften anzuwenden sein, die von einer Vereinigung wie einem Berufsverband oder einem Sportverband erlassen wurden, um bestimmte ethische oder berufsständische Ziele zu verfolgen und ganz allgemein einen Rahmen für die Ausübung einer Berufstätigkeit zu schaffen, wenn die betreffende Vereinigung nachweist, dass die vorstehend genannten Bedingungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Februar 2002, Wouters u. a., C‑309/99, EU:C:2002:98, Rn. 97, vom 18. Juli 2006, Meca-Medina und Majcen/Kommission, C‑519/04 P, EU:C:2006:492, Rn. 42 bis 48, sowie vom 28. Februar 2013, Ordem dos Técnicos Oficiais de Contas, C‑1/12, EU:C:2013:127, Rn. 93, 96 und 97).
32 Die genannte Rechtsprechung kann jedoch keine Anwendung finden bei Verhaltensweisen, die sich nicht darauf beschränken, notwendig die „Wirkung“ zu haben, dass sie – zumindest potenziell – den Wettbewerb einschränken, indem sie die Handlungsfreiheit bestimmter Unternehmen beschränken, sondern vielmehr diesen Wettbewerb in einer Weise beeinträchtigen, die die Annahme rechtfertigt, dass sie gerade den „Zweck“ haben, den Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen. Somit ist nur, wenn sich nach der Prüfung des in einem bestimmten Fall in Rede stehenden Verhaltens erweist, dass dieses Verhalten nicht den Zweck hat, den Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen, anschließend festzustellen, ob dieses Verhalten unter diese Rechtsprechung fallen kann (Urteil vom 21. Dezember 2023, European Superleague Company, C‑333/21, EU:C:2023:1011, Rn. 186 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Bei Verhaltensweisen, die den Zweck haben, den Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen, kann somit nur nach Art. 101 Abs. 3 AEUV und sofern alle in dieser Bestimmung vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind, eine Ausnahme vom in Art. 101 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Verbot gewährt werden. Wenn die Wettbewerbswidrigkeit des gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßenden Verhaltens bezweckt ist, d. h., wenn dieses eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs darstellt, und wenn dieses Verhalten im Übrigen geeignet ist, verschiedene Kategorien von Nutzern oder Verbrauchern zu beeinträchtigen, ist für die Zwecke einer solchen Ausnahme insbesondere festzustellen, ob und gegebenenfalls inwieweit sich dieses Verhalten trotz der damit verbundenen Beeinträchtigung auf jede dieser Kategorien günstig auswirkt (Urteil vom 21. Dezember 2023, European Superleague Company, C‑333/21, EU:C:2023:1011, Rn. 187 und 194 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Aus alledem ergibt sich, dass der Gerichtshof zwar in den Rn. 51 und 53 des Urteils vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), im Fall einer nationalen Regelung, die eine horizontale Vereinbarung über Preise vorschrieb, auch auf das Urteil Wouters verwiesen hat, dies jedoch nur getan hat, um dem vorlegenden Gericht für den Fall, dass es nach Prüfung des Sachverhalts zu dem Schluss gelangen sollte, dass diese nationale Regelung einem eine Wettbewerbsbeschränkung lediglich „bewirkenden“ Beschluss einer Unternehmensvereinigung Verbindlichkeit verlieh, eine Richtschnur zu geben. Aus den Rn. 56 und 57 des Urteils vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International (C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890), ergibt sich nämlich, dass der Gerichtshof festgestellt hatte, dass er nicht über alle Angaben zum Gesamtzusammenhang verfügte, in dem die Verordnung des Obersten Rates der Anwaltschaft erlassen worden war oder ihre Wirkungen entfaltete.
35 Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind im Licht dieser einleitenden Bemerkungen zu beantworten.
Zur ersten Frage
36 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, wenn es feststellen sollte, dass eine nach einer nationalen Regelung verbindliche Verordnung, mit der die Mindesthonorare der Anwälte festgesetzt werden, gegen diese Bestimmung verstößt, die Anwendung dieser nationalen Regelung auf die zur Zahlung der den Anwaltshonoraren entsprechenden Kosten verurteilte Partei ablehnen kann, und zwar auch dann, wenn diese Partei keinen Vertrag über Anwaltsdienstleistungen und Anwaltshonorare abgeschlossen hat.
37 Nach ständiger Rechtsprechung ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen erzeugt und in deren Person Rechte entstehen lässt, die die nationalen Gerichte zu wahren haben (Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Sollte ein nationales Gericht feststellen, dass die Wettbewerbsbeschränkungen, die sich aus der Verordnung über die Mindesthonorare der Anwälte ergeben, nicht mit der Verfolgung legitimer Ziele notwendig verbunden sind, wäre die nationale Regelung, die dieser Verordnung Verbindlichkeit verleiht, daher mit Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV unvereinbar.
40 In einem solchen Fall muss dieses Gericht die streitige nationale Regelung unangewendet lassen. Art. 101 AEUV betrifft zwar nur das Verhalten von Unternehmen und nicht als Gesetz oder Verordnung ergangene Maßnahmen der Mitgliedstaaten, aber in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, der eine Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten begründet, verbietet er es den Mitgliedstaaten, Maßnahmen, auch in Form von Gesetzen oder Verordnungen, zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten (Urteil vom 21. September 2016, Etablissements Fr. Colruyt, C‑221/15, EU:C:2016:704, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, wenn es feststellen sollte, dass eine nach einer nationalen Regelung verbindliche Verordnung, mit der die Mindesthonorare der Anwälte festgesetzt werden, gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstößt, die Anwendung dieser nationalen Regelung auf die zur Zahlung der den Anwaltshonoraren entsprechenden Kosten verurteilte Partei ablehnen muss, und zwar auch dann, wenn diese Partei keinen Vertrag über Anwaltsdienstleistungen und Anwaltshonorare abgeschlossen hat.
Zu den Fragen 2 bis 9
42 Mit seinen Fragen 2 bis 9, die zusammen zu beantworten sind, ersucht das vorlegende Gericht um Erläuterungen hinsichtlich erstens „der legitimen Ziele“, denen eine nationale Regelung, die es zum einen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten nicht erlaubt, eine Vergütung zu vereinbaren, die unter dem Mindestbetrag liegt, der durch eine von einem Berufsverband der Rechtsanwälte wie dem Obersten Rat der Anwaltschaft erlassene Verordnung festgesetzt wurde, und es zum anderen dem Gericht nicht gestattet, die Erstattung eines unter diesem Mindestbetrag liegenden Honorarbetrags anzuordnen, genügen muss, um im Einklang mit Art. 101 Abs. 1 AEUV zu stehen, und zweitens der Kontrolle, die dieses Gericht in diesem Kontext vorzunehmen hat.
43 Das vorlegende Gericht erklärt, dass kein Zweifel daran bestehe, dass das vom bulgarischen Gesetzgeber verfolgte Ziel, auch wenn es an einem entsprechenden Hinweis fehle, in der Sicherung der Qualität der von Anwälten erbrachten Dienstleistungen liege. Es fragt sich jedoch, wie und auf der Grundlage welcher Parameter die Legitimität dieses Ziels sowie die Angemessenheit und die Verhältnismäßigkeit der fraglichen Maßnahme – der Honorarordnung, in der die Mindesthonorare festgesetzt sind – im Hinblick auf dieses Ziel zu beurteilen ist.
44 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass bereits entschieden worden ist, dass der Oberste Rat der Anwaltschaft, dessen Mitglieder alle Rechtsanwälte sind, die von ihren Berufskollegen gewählt wurden, in Ermangelung einer von einer öffentlichen Stelle ausgeübten Kontrolle und von Bestimmungen, die sicherstellen können, dass er als Repräsentanz der öffentlichen Gewalt handelt, als Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 101 AEUV tätig wird, wenn er Verordnungen zur Festsetzung der Mindestbeträge der Anwaltsvergütung erlässt (Urteil vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International, C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890, Rn. 47 bis 49).
45 Soweit die Fragen 2 bis 9 die Voraussetzungen der Anwendung der Rechtsprechung im Urteil Wouters betreffen, ist daher vorab im Licht der Erwägungen in den Rn. 30 bis 33 des vorliegenden Urteils zu prüfen, ob diese Rechtsprechung auf eine Entscheidung einer Unternehmensvereinigung zur Festlegung der Mindesthonorare der Anwälte, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, anzuwenden ist.
46 Hierfür ist festzustellen, ob sich eine solche Entscheidung darauf beschränkt, notwendig die „Wirkung“ zu haben, dass sie – zumindest potenziell – den Wettbewerb einschränkt, indem sie die Handlungsfreiheit bestimmter Unternehmen beschränkt, oder ob sie vielmehr diesen Wettbewerb in einer Weise beeinträchtigt, die die Annahme rechtfertigt, dass sie gerade den „Zweck“ hat, den fraglichen Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen.
47 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Vereinbarungen nur dann unter das in Art. 101 Abs. 1 AEUV aufgestellte Verbot fallen, wenn sie eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts „bezwecken oder bewirken“. Nach ständiger Rechtsprechung seit dem Urteil vom 30. Juni 1966, LTM (56/65, EU:C:1966:38), erfordert es der durch die Konjunktion „oder“ gekennzeichnete alternative Charakter dieser Voraussetzung, zunächst den Zweck der Vereinbarung als solchen heranzuziehen. Steht der wettbewerbswidrige Zweck einer Vereinbarung fest, brauchen daher ihre Auswirkungen auf den Wettbewerb nicht geprüft zu werden (Urteil vom 29. Juni 2023, Super Bock Bebidas, C‑211/22, EU:C:2023:529, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Nach gefestigter Rechtsprechung liegt das wesentliche rechtliche Kriterium bei der Ermittlung, ob eine – horizontale oder vertikale – Vereinbarung eine „bezweckte Wettbewerbsbeschränkung“ enthält, in der Feststellung, dass eine solche Vereinbarung in sich selbst eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs erkennen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. September 2014, CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 57, und vom 18. November 2021, Visma Enterprise, C‑306/20, EU:C:2021:935, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Bei der Prüfung, ob dieses Kriterium erfüllt ist, ist auf den Inhalt ihrer Bestimmungen und die mit ihr verfolgten Ziele sowie auf den wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang, in dem sie steht, abzustellen. Im Rahmen der Beurteilung dieses Zusammenhangs sind auch die Art der betroffenen Waren und Dienstleistungen, die auf dem betreffenden Markt oder den betreffenden Märkten bestehenden tatsächlichen Bedingungen und die Struktur dieses Marktes oder dieser Märkte zu berücksichtigen (Urteile vom 11. September 2014, CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 53, und vom 12. Januar 2023, HSBC Holdings u. a./Kommission, C‑883/19 P, EU:C:2023:11, Rn. 107 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Zu Entscheidungen von Unternehmensvereinigungen, mit denen die Mindesthonorare der Anwälte festgesetzt werden, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die die Mindestbeträge der Anwaltsvergütung verbindlich vorschreibt, der nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verbotenen horizontalen Festlegung erzwungener Mindesttarife entspricht (Urteil vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International, C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Bekanntlich können bestimmte kollusive Verhaltensweisen, wie z. B. diejenigen, die zur horizontalen Festsetzung der Preise führen, als derart geeignet angesehen werden, negative Auswirkungen auf insbesondere den Preis, die Menge oder die Qualität der Waren und Dienstleistungen zu haben, dass für die Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV der Nachweis, dass sie konkrete Auswirkungen auf den Markt haben, als überflüssig erachtet werden kann. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass solche Verhaltensweisen Minderungen der Produktion und Preiserhöhungen nach sich ziehen, die zu einer schlechten Verteilung der Ressourcen zulasten insbesondere der Verbraucher führen (Urteil vom 2. April 2020, Budapest Bank u. a., C‑228/18, EU:C:2020:265, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Diese Verhaltensweisen müssen somit als „bezweckte Beschränkungen“ eingestuft werden, da sie den Wettbewerb, unabhängig von der Höhe des festgesetzten Mindestpreises, hinreichend beeinträchtigen.
53 Solche Beschränkungen können daher nach der in Rn. 32 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsprechung auf keinen Fall durch die Verfolgung „legitimer Ziele“ wie derjenigen, die angeblich mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung über die Mindesthonorare der Anwälte verfolgt werden, gerechtfertigt sein.
54 Nach alledem ist auf die Fragen 2 bis 9 zu antworten, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass eine nationale Regelung, die es zum einen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten nicht erlaubt, eine Vergütung zu vereinbaren, die unter dem Mindestbetrag liegt, der durch eine von einem Berufsverband der Rechtsanwälte wie dem Obersten Rat der Anwaltschaft erlassene Verordnung festgesetzt wurde, und es zum anderen dem Gericht nicht gestattet, die Erstattung eines unter diesem Mindestbetrag liegenden Honorarbetrags anzuordnen, als „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist. Bei Vorliegen einer solchen Beschränkung können die angeblich mit dieser nationalen Regelung verfolgten legitimen Ziele nicht geltend gemacht werden, um das fragliche Verhalten dem in Art. 101 Abs. 1 AEUV enthaltenen Verbot von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen und Verhaltensweisen zu entziehen.
Zur zehnten Frage
55 Mit seiner zehnten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 Abs. 2 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, wenn es feststellt, dass eine nach einer nationalen Regelung verbindliche Verordnung, mit der die Mindesthonorare der Anwälte festgesetzt werden, dem Verbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV zuwiderläuft, dennoch verpflichtet ist, die nach dieser Verordnung vorgesehenen Mindestbeträge zu verwenden, soweit diese Beträge die tatsächlichen Marktpreise der Anwaltsdienstleistungen widerspiegeln.
56 Wie sich auch aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, muss ein nationales Gericht, wenn es feststellt, dass eine Verordnung, mit der die Mindesthonorare der Anwälte festgesetzt werden, gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstößt, die Anwendung der nationalen Regelung ablehnen, die dieser Verordnung Verbindlichkeit verleiht.
57 Außerdem haben die Verfasser des AEU-Vertrags, da Art. 101 AEUV eine grundlegende Bestimmung darstellt, die für die Erfüllung der Aufgaben der Union und insbesondere für das Funktionieren des Binnenmarkts unerlässlich ist, in Art. 101 Abs. 2 AEUV ausdrücklich vorgesehen, dass die nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen und Beschlüsse nichtig sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Juni 1999, Eco Swiss, C‑126/97, EU:C:1999:269, Rn. 36, und vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C‑453/99, EU:C:2001:465, Rn. 20 und 21).
58 Diese Nichtigkeit, die von jedem geltend gemacht werden kann, hat das Gericht zu beachten, sofern der Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt ist und die betroffene Vereinbarung die Gewährung einer Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht rechtfertigen kann. Da die Nichtigkeit nach Art. 101 Abs. 2 AEUV absolut ist, erzeugt eine nach dieser Vorschrift nichtige Vereinbarung zwischen den Vertragspartnern keine Wirkungen und kann Dritten nicht entgegengehalten werden. Darüber hinaus erfasst diese Nichtigkeit die getroffenen Vereinbarungen oder Beschlüsse in allen ihren vergangenen oder zukünftigen Wirkungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C‑453/99, EU:C:2001:465, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 In der vorliegenden Rechtssache fragt sich das vorlegende Gericht, ob es nicht in jedem Fall verpflichtet sein sollte, die in der Verordnung Nr. 1 über die Mindesthonorare der Anwälte vorgesehenen Beträge anzuwenden, d. h., auch in dem Fall, dass diese Verordnung nach Art. 101 Abs. 2 AEUV für nichtig erklärt werden müsste. Es begründet diese Frage damit, dass die in dieser Verordnung vorgesehenen Beträge die tatsächlichen Marktpreise für anwaltliche Dienstleistungen widerspiegelten, da alle Anwälte verpflichtet seien, Mitglieder des Verbands zu sein, der die Verordnung erlassen habe.
60 Der Preis für eine Dienstleistung, der in einer Vereinbarung oder einem Beschluss festgelegt ist, die bzw. der von allen Marktteilnehmern geschlossen bzw. erlassen wurde, kann jedoch nicht als tatsächlicher Marktpreis angesehen werden. Vielmehr verhindert die Absprache über die Preise der Dienstleistungen durch alle Marktteilnehmer, die eine schwerwiegende Verzerrung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellt, gerade die Anwendung tatsächlicher Marktpreise.
61 Nach alledem ist auf die zehnte Frage zu antworten, dass Art. 101 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, wenn es feststellt, dass eine nach einer nationalen Regelung verbindliche Verordnung, mit der die Mindesthonorare der Anwälte festgesetzt werden, dem Verbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV zuwiderläuft, die Anwendung dieser nationalen Regelung ablehnen muss, und zwar auch dann, wenn die in dieser Verordnung vorgesehenen Mindestbeträge die tatsächlichen Marktpreise der Anwaltsdienstleistungen widerspiegeln.