BGH: Fehlende Beifügung des angefochtenen Urteil nebst Aktenzeichen und Verkündungsdatum in Berufungsschrift
BGH, Beschluss vom 14.3.2023 – X ZB 4/22
ECLI:DE:BGH:2023:140323BXZB4.22.1
Volltext: BB-Online BBL2023-1154-6
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Amtliche Leitsätze
Wenn in einer Berufungsschrift, der das angefochtene Urteil nicht beigefügt ist, das Aktenzeichen und das Verkündungsdatum nicht oder nicht zutreffend angegeben sind, steht dies der Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht entgegen, sofern das Berufungsgericht und die gegnerische Partei anhand der innerhalb der Berufungsfrist eingereichten Unterlagen das angefochtene Urteil dennoch zweifelsfrei bestimmen können (Bestätigung von BGH, Beschluss vom 25. Februar 1993 – VII ZB 22/92, NJW 1993, 1719).
ZPO § 519 Abs. 2 Nr. 1
Sachverhalt
I. Die klagende Partei wendet sich dagegen, dass sie bei der Nutzung von Angeboten der beklagten Vertriebsgesellschaft der Deutschen Bahn zwischen einer Anrede als Herr oder Frau auswählen muss und in Fahrkarten und sonstigen Schreiben sowie in gespeicherten Daten als Herr oder Frau bezeichnet wird.
Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß zur Unterlassung verurteilt und die Klage abgewiesen, soweit sie auf Zahlung einer Entschädigung gerichtet war. Das Urteil ist der klagenden Partei am 9. September und der Beklagten am 10. September 2021 zugestellt worden.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 22. September 2021 Berufung eingelegt. In dem Schriftsatz werden die Parteien und das erstinstanzliche Gericht zutreffend bezeichnet. Die Angaben zum Aktenzeichen (2-13 O 154/20 statt 2-30 O 154/20), zum Verkündungsdatum (26. Juli statt 26. August 2021) und zum Zustellungsdatum (9. statt 10. September 2021) sind fehlerhaft. Eine Kopie der angefochtenen Entscheidung war dem Schriftsatz nicht beigefügt.
Auf die Aktenanforderung des Berufungsgerichts teilte das Landgericht am 12. Oktober 2021 mit, das angegebene Aktenzeichen sei unzutreffend. Am Tag darauf teilte das Büro der Prozessbevollmächtigten der Beklagten auf telefonische Anfrage das korrekte Aktenzeichen mit.
Die klagende Partei legte am 6. Oktober 2021 ebenfalls Berufung ein. Sie hat ihr Rechtsmittel später zurückgenommen.
Das Berufungsgericht hat den von der Beklagten am 15. November 2021 vorsorglich gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten, der die klagende Partei entgegentritt.
Aus den Gründen
7 II. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
8 Eine Berufung der Beklagten sei nicht wirksam innerhalb der Berufungsfrist eingelegt worden. In der Berufungsschrift der Beklagten sei das angefochtene Urteil nicht ausreichend bezeichnet. Das Fehlen oder die fehlerhafte Angabe von Aktenzeichen und Verkündungsdatum sei nur dann unschädlich, wenn damit keine unbehebbaren Identitätszweifel verbunden seien. Daran fehle es, weil das angefochtene Urteil mehrfach fehlerhaft bezeichnet worden sei; insbesondere die doppelte Fehlerhaftigkeit von Aktenzeichen und Verkündungsdatum sei von einiger Relevanz.
9 Eine hinreichende Bezeichnung des angefochtenen Urteils habe sich auch nicht in Zusammenschau mit der Berufung der Gegenseite ergeben. Dieser sei ebenfalls keine Kopie des Urteils beigefügt gewesen. Allein aus der gleichlautenden Parteibezeichnung habe sich angesichts der verschiedenen Datums- und Aktenzeichenangaben keine eindeutige Identifizierbarkeit ergeben.
10 Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand sei verfristet und zudem unbegründet. Die Antragsfrist habe bereits mit dem Telefonat am 13. Oktober 2021 begonnen. Mit diesem habe der Prozessbevollmächtigte der Beklagten von der fehlerhaften Rechtsmitteleinlegung Kenntnis nehmen müssen. Im Übrigen habe der Prozessbevollmächtigte selbst die Berufungsschrift auf Vollständigkeit und Richtigkeit überprüfen müssen. Insoweit hätte ihm bereits auffallen müssen, dass entgegen der seiner Assistentin gegebenen Anweisung der Schrift keine Kopie des angefochtenen Urteils beigefügt gewesen sei.
11 III. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 1 und mit § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, weil eine Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO).
12 Der angefochtene Beschluss verletzt die Beklagte in ihrem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Danach darf der Zugang zu einer in der Verfahrensordnung vorgesehenen Instanz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. nur BGH, Beschluss vom 22. Juni 2021 - VI ZB 15/20, VersR 2022, 54 Rn. 5).
13 IV. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
14 Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zu Unrecht als unzulässig verworfen.
15 1. Nach § 519 Abs. 2 Nr. 1 ZPO muss die Berufungsschrift die Bezeichnung des angefochtenen Urteils so genau angeben, dass keine Zweifel über die Identität des Urteils entstehen können (BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1986 - IVa ZB 12/86, NJW-RR 1987, 319 zu 1.; BAG, Urteil vom 5. Juli 1976 - 2 AZR 385/75, juris Rn. 5).
16 2. Für die vollständige Bezeichnung eines Urteils ist grundsätzlich die Angabe der Parteien, des Gerichts, das das angefochtene Urteil erlassen hat, des Verkündungsdatums und des Aktenzeichens erforderlich (BGH, Beschluss vom 24. April 2003 - III ZB 94/02, NJW 2003, 1950).
17 Diesen Anforderungen genügt die Berufungsschrift der Beklagten nicht. Sowohl das Verkündungsdatum als auch das Aktenzeichen sind darin nicht zutreffend angegeben.
18 3. Nicht jede Ungenauigkeit, die eine Berufungsschrift bei einzelnen Angaben enthält, führt jedoch zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels.
19 Fehlerhafte oder unvollständige Angaben schaden nicht, wenn aufgrund der sonstigen erkennbaren Umstände für Gericht und Prozessgegner nicht zweifelhaft bleibt, welches Urteil angefochten wird (BGH, Beschluss vom 24. April 2003 - III ZB 94/02, NJW 2003, 1950; Beschluss vom 25. Februar 1993 - VII ZB 22/92, NJW 1993, 1719, 1720; Urteil vom 11. Januar 2001 - III ZR 113/00, NJW 2001, 1070).
20 a) Wenn das Aktenzeichen nicht oder nicht zutreffend angegeben ist, so kommt dem keine ausschlaggebende Bedeutung zu, sofern das Berufungsgericht und die gegnerische Partei anhand der innerhalb der Berufungsfrist eingereichten Unterlagen das angefochtene Urteil dennoch zweifelsfrei bestimmen können (BGH, Beschluss vom 25. Februar 1993 - VII ZB 22/92, NJW 1993, 1719 zu II 2).
21 b) Diese Voraussetzungen lagen im Streitfall vor.
22 aa) Die zutreffenden Angaben zum erstinstanzlichen Gericht und zu den Parteien ermöglichten dem Berufungsgericht und der klagenden Partei eine eindeutige Identifizierung des angefochtenen Urteils.
23 Zwischen der klagenden Partei und der Beklagten war beim Landgericht nur ein Rechtsstreit anhängig. In diesem ist nur ein Urteil ergangen.
24 Damit reichten die genannten Angaben aus, um das Urteil eindeutig zu identifizieren.
25 bb) Die unzutreffenden Angaben zu Aktenzeichen und Verkündungsdatum standen einer eindeutigen Identifizierung nicht entgegen.
26 Der Antwort des Landgerichts auf die Aktenanforderung ist zu entnehmen, dass es kein Urteil des Landgerichts gibt, auf das diese Angaben zutreffen.
27 Hieraus ergibt sich hinreichend deutlich, dass die Berufung gegen das im Rechtsstreit zwischen der klagenden Partei und der Beklagten ergangene Urteil gerichtet ist und nicht etwa gegen eine Entscheidung in einem anderen Verfahren, an dem die Beklagte beteiligt ist.
28 Dass dem Berufungsgericht die Antwort des Landgerichts erst nach Ablauf der Berufungsfrist vorlag, ist unerheblich. Ausreichend ist, dass die innerhalb der Berufungsfrist eingereichten Unterlagen eine Identifizierung des angefochtenen Urteils ermöglichen. Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt.
29 cc) Der unzutreffenden Angabe zum Zustellungsdatum kommt schon deshalb keine Bedeutung zu, weil diese Information zur Identifizierung des angefochtenen Urteils in der Regel nicht erforderlich ist und der Streitfall insoweit keine Besonderheiten aufweist, die zu einer abweichenden Beurteilung führen könnten.
30 V. Gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.