BGH: EuGH-Vorlage zur „Niederlassung“ i. S. d. EuInsVO
BGH, Beschluss vom 29.6.2023 – IX ZB 35/22
ECLI:DE:BGH:2023:290623BIXZB35.22.0
Volltext:BB-ONLINE BBL2023-1986-1
Amtliche Leitsätze
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b, Abs. 3 AEUV folgende Fragen vorgelegt:
a) Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 10 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (fortan: Europäische Insolvenzverordnung - EuInsVO) dahin auszulegen, dass der Tätigkeitsort einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person auch dann eine Niederlassung darstellt, wenn die ausgeübte Tätigkeit keinen Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt?
b) Sofern Frage 1 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 3 Satz 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass dann, wenn eine selbständig gewerblich oder freiberuflich tätige natürliche Person keine Niederlassung im Sinne von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen derjenige Ort ist, an welchem die selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausgeübt wird?
c) Sofern Frage 2 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass bei einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person, die keine Niederlassung im Sinne von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist?
EuInsVO Art. 3 Abs. 1
Aus den Gründen
I.
1 Am 18. August 2020 hat der weitere Beteiligte die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners beantragt. Im Zeitpunkt der Antragstellung unterhielt der Schuldner Wohnsitze in Berlin, Monaco, Los Angeles und auf der französischen Karibik-Insel Saint-Barthélemy. Er war Vorsitzender des Aufsichtsrates der AG, einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in Mainz. Sein Vermögen bestand in einem Bankguthaben in Monaco sowie in Beteiligungen an Gesellschaften monegassischen Rechts, die Guthaben, ein Wertpapierdepot und Gesellschaftsbeteiligungen in Deutschland hielten.
2 Das angerufene Amtsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 27. Juli 2021 wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit als unzulässig abgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde des Gläubigers hat das Landgericht diesen Beschluss am 29. Juni 2022 aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen. Es hat gemeint, der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners befinde sich an dem Ort, an welchem der Schuldner seiner selbständigen Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender nachgehe. Der Schuldner bezweifelt die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte. Mit seiner vom Landgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde will er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde des Gläubigers erreichen.
II.
3 Vor der Entscheidung über die Rechtsbeschwerde ist das Verfahren auszusetzen und eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu den im Beschlusstenor gestellten Fragen einzuholen (Art. 267 Abs. 1 lit. b, Abs. 3 AEUV).
4 1. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO zu beurteilen. Bei grenzüberschreitenden Bezügen gilt die genannte Vorschrift unabhängig davon, ob Mitglied- oder Drittstaaten betroffen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2022 - IX ZB 72/19, WM 2023, 278 Rn. 19 f; EuGH, Urteil vom 16. Januar 2014 - C-328/12, ECLI:EU:C:2014:6 Rn. 17 ff, 29). Gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO sind die Gerichte desjenigen Mitgliedstaates für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist. Bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, wird gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen ihre Hauptniederlassung ist. Bei allen anderen natürlichen Personen wird gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist.
5 2. Das Landgericht hat angenommen, dass der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung eine selbständige berufliche oder gewerbliche Tätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 EuInsVO ausübte. Diese Annahme legt der Senat den nachfolgenden Ausführungen zugrunde. Der Begriff der selbständigen beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit ist unionsrechtsautonom auszulegen. Eine selbständige Tätigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass die betroffene Person ihre Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübt und dass sie das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko trägt. Sie handelt für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung, regelt die Modalitäten der Ausübung ihrer Arbeit frei und vereinnahmt das Entgelt, das ihr Einkommen darstellt, selbst (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Juni 2019 - C-420/18, ECLI:EU:C:2019:490 Rn. 39). Nach derzeitigem Sach- und Streitstand sind diese Voraussetzungen erfüllt. Der Schuldner war Vorsitzender des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts. Nach deutschem Recht ist der Aufsichtsrat im Verhältnis zur Geschäftsführung der Aktiengesellschaft nicht weisungsgebunden (vgl. § 111 AktG). Den Feststellungen des Landgerichts zufolge kann den Schuldner auch ein Vergütungsrisiko getroffen haben (vgl. hierzu BFH, BFHE 267, 189).
6 3. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO wird im Fall einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen ihre Hauptniederlassung ist. "Niederlassung" im Sinne der Europäischen Insolvenzverordnung ist gemäß Art. 2 Nr. 10 EuInsVO jeder Tätigkeitsort, an dem der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt.
7 Das Landgericht hat festgestellt, dass der Schuldner im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit als Vorsitzender des Aufsichtsrats einer inländischen Aktiengesellschaft kein Personal und keine Vermögenswerte einsetzte, weder im Inland noch an einem anderen Ort. Es hat die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO deshalb nicht angewandt. Dies würde einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalten, wenn eine "Niederlassung" im Sinne der Europäischen Insolvenzverordnung für eine natürliche Person den Einsatz von Personal und Vermögenswerten nicht zwingend voraussetzt. Die selbständige Tätigkeit im Inland würde dann die widerlegbare Vermutung begründen, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners im Inland liegt. Der Senat geht davon aus, dass dann nur noch zu prüfen wäre, ob der Schuldner Tatsachen dargelegt und im erforderlichen Umfang nachgewiesen hat, die zur Widerlegung der Vermutung ausreichen. Die diesbezüglichen Feststellungen hätte das Landgericht nachzuholen.
8 4. Ist die erste Vorlagefrage zu verneinen, ist also davon auszugehen, dass der Schuldner im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit keine Niederlassung im Sinne von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, stellt sich die weitere Frage, ob dann der Ort, an welchem die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird, gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners vermuten lässt. Nach dem Erwägungsgrund 28 der Europäischen Insolvenzverordnung sollte bei der Beantwortung der Frage, ob der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners für Dritte feststellbar ist, besonders berücksichtigt werden, welchen Ort die Gläubiger als denjenigen wahrnehmen, an dem der Schuldner der Verwaltung seiner Interessen nachgeht. Die selbständige Tätigkeit des Schuldners als Vorsitzender des Aufsichtsrats war nach außen zu erkennen. Wo privates Vermögen verwaltet wird, ist für die Gläubiger dagegen oft nicht nachvollziehbar. Wäre die zweite Vorlagefrage zu bejahen, würde der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners im Inland ebenfalls gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO widerlegbar vermutet. Auch in diesem Fall hätte das Landgericht Feststellungen zur Frage der Widerlegung der Vermutung nachzuholen.
9 5. Sollte die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO nicht einschlägig sein, weil die Vorlagefragen zu 1 und zu 2 zu verneinen sind, stellt sich schließlich die Frage, ob nunmehr die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO eingreift, ob also eine natürliche Person, die für ihre selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit keine Niederlassung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO betreibt, unter den Begriff "alle anderen natürlichen Personen" in der genannten Bestimmung fällt. Für die Richtigkeit dieser Annahme spricht, dass die Unterabsätze 3 und 4 des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO aus Gründen der Rechtssicherheit für jede natürliche Person eine Vermutung normieren, die auf den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen und damit auf die internationale Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens verweist. Zwischen Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 und Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 EuInsVO könnte ein Stufenverhältnis bestehen, so dass eine internationale Zuständigkeit für natürliche Personen erst dann nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO zu prüfen ist, wenn die Voraussetzungen der anderen Vorschriften nicht erfüllt sind.
10 Das Landgericht hat die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO außer Betracht gelassen und stattdessen Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 EuInsVO angewandt. Wäre die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO einschlägig, müsste zunächst der gewöhnliche Aufenthalt des Schuldners im Zeitpunkt der Antragstellung ermittelt werden. Dann wäre zu prüfen, ob noch festzustellende tatsächliche Umstände den Schluss auf eine Widerlegung der Vermutung zulassen. Auch in diesem Fall hätte der Beschluss des Landgerichts keinen Bestand.