KG Berlin: Erstreckung der gesetzlichen Zuständigkeit der Kammern für insolvenzrechtliche Streitigkeiten auf die Haftung wegen Existenzvernichtung
KG Berlin, Beschluss vom 23.3.2022 – 2 AR 11/22
ECLI:DE:KG:2022:0323.2AR11.22.00
Volltext: BB-ONLINE BBL2022-1108-1
Leitsatz
Für die Geltendmachung von Ansprüchen aus einem existenzvernichtenden Eingriff (§ 826 BGB) durch einen Insolvenzverwalter ist eine gesetzliche Zuständigkeit der Kammern für insolvenzrechtliche Streitigkeiten nach § 72a Abs. 1 Nr. 7 GVG begründet.
Art. 6 Abs 1 EUV 2015/848; § 72a Abs. 1 Nr. 7 GVG, § 826 BGB
Aus den Gründen
II. … 2. Als funktional zuständige Spruchkörper sind die Zivilkammern für insolvenzrechtliche Streitigkeiten zu bestimmen, weil die Voraussetzungen für eine gesetzliche Sonderzuständigkeit nach § 72a Abs. 1 Nr. 7 GVG vorliegen.
a. Die Frage, ob Ansprüche aus einem existenzvernichtenden Eingriff unter die genannte Zuständigkeitsnorm fallen, ist in der Rechtsprechung bislang noch nicht entschieden worden. Äußerungen aus dem Schrifttum liegen hierzu – soweit ersichtlich – ebenfalls nicht vor. Nach der Gesetzesbegründung sollen unter die mit Wirkung zum 1. Januar 2021 neu geschaffene insolvenzrechtliche Sonderzuständigkeit nach § 72a Abs. 1 Nr. 7 GVG Streitigkeiten fallen, die auch von Art. 6 Abs. 1 EuInsVO erfasst werden. Hierzu gehören nach Auffassung des Gesetzgebers insbesondere Streitigkeiten über Insolvenzanfechtungen nach §§ 129 ff. InsO, Streitigkeiten über die Unwirksamkeit von Rechtshandlungen nach § 88 InsO, insolvenzrechtliche Beschwerdesachen, Haftungsklagen gegen den Insolvenzverwalter nach §§ 60, 61 InsO, Haftungsklagen gegen Geschäftsleiter wegen Zahlungen bei materieller Insolvenz nach § 64 GmbHG a. F. und vergleichbaren Anspruchsgrundlagen sowie Klagen, mit denen nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO und vergleichbaren Anspruchsgrundlagen Haftungsansprüche wegen Insolvenzverschleppung geltend gemacht werden. Nicht erfasst werden sollen hingegen Feststellungsklagen nach §§ 180 ff. InsO, weil der Klageanspruch dort regelmäßig nicht insolvenzrechtlich zu qualifizieren sei (BT-Drucks. 19/13828, S. 22 f.).
b. Ausgehend von diesem Verständnis sprechen die besseren Gründe dafür, dass auch Ansprüche aus einem existenzvernichtenden Eingriff von der gesetzlichen Sonderzuständigkeit nach § 72a Abs. 1 Nr. 7 GVG erfasst werden. Nach den vom Bundesgerichtshof im Wege der Rechtsfortbildung entwickelten Grundsätzen des existenzvernichtenden Eingriffs haftet ein Gesellschafter für missbräuchliche, zur Insolvenz einer GmbH führende oder diese vertiefende kompensationslose Eingriffe in das der Zweckbindung zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger dienende Gesellschaftsvermögen. Nach der nunmehr vom Bundesgerichtshof vertretenen Konzeption handelt es sich hierbei um eine besondere Fallgruppe der sittenwidrigen und vorsätzlichen Schädigung nach § 826 BGB in Gestalt einer schadensersatzrechtlichen Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft (BGH, Urteil vom 16. Juli 2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 [RIW 2007, 781 m. RIW-Komm. Sester] – Trihotel; Noack/Servatius/Haas/Fastrich, GmbHG, 23. Aufl. 2022, § 13 Rn. 60 ff.).
Ob derartige Ansprüche in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EuInsVO fallen, ist – soweit ersichtlich – bislang ebenfalls noch nicht gerichtlich entschieden worden. Im Schrifttum ist die Frage allerdings außerordentlich umstritten. Nach einer Auffassung ist sie im Hinblick auf den deliktischen Charakter der Anspruchsgrundlage zu verneinen (MüKo-EuInsVO/Thole, 4. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 21; Mankowski/Müller/Schmidt/Mankowski, EuInsVO, 1. Aufl. 2016; Osterloh/Konrad, JZ 2014, 46). Nach der mindestens ebenso verbreitet vertretenen Gegenauffassung werden Ansprüche aus einer Haftung wegen Existenzvernichtung hingegen vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EuInsVO erfasst, weil sie gemäß § 92 InsO vom Insolvenzverwalter im Interesse der Gesamtgläubigerschaft geltend zu machen sind (Paulus, EuInsVO, 6. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 11; Vallender/Hänel, EuInsVO, 2. Aufl. 2020, Art. 6 Rn. 59; Cranshaw, DZWiR 2009, 353 (362); Weller, ZIP 2009, 2029 (2032)).
Auch wenn sich somit aus dem europäischen Insolvenzverfahrensrecht eindeutige Aussagen weder in die eine noch in die andere Richtung gewinnen lassen, sprechen doch die ganz überwiegenden Gründe dafür, Ansprüche nach den Grundsätzen des existenzvernichtenden Eingriffs in den Anwendungsbereich von § 72a Abs. 1 Nr. 7 GVG einzubeziehen. Hierfür lässt sich zunächst anführen, dass es sich um einen Anspruch handelt, der gemäß § 92 InsO vom Insolvenzverwalter im Interesse einer gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger geltend zu machen ist. Hinzu kommt, dass eine Herbeiführung bzw. Vertiefung der Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) gewissermaßen zu den richterrechtlich entwickelten Tatbestandsvoraussetzungen des Anspruchs gehört und deshalb in jedem Einzelfall geprüft und festgestellt werden muss (vgl. dazu die Ausführungen auf S. 4 ff. der Antragsschrift vom 4. März 2022), wie dies auch bei anderen als insolvenzrechtlich zu qualifizierenden Anspruchsgrundlagen der Fall ist.
Der Umstand, dass die Haftung aus einem existenzvernichtenden Eingriff nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als eine besondere Fallgruppe der sittenwidrigen und vorsätzlichen Schädigung nach § 826 BGB und damit als deliktischer Anspruch ausgestaltet ist, steht dieser Beurteilung nicht entgegen. Denn Vergleichbares gilt auch für die Außenhaftung von Geschäftsleitern nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO wegen einer verspäteten Stellung des Insolvenzantrags, welche nach dem Willen des Gesetzgebers (BT-Drucks. 19/13828, S. 22 f.) und einhelliger Auffassung im Schrifttum (vgl. etwa BeckOK GVG/Feldmann, 14. Ed. 15.2.2022, § 72a Rn. 16c; Kissel/Mayer/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 72a Rn. 8c; Zöller/Lückemann, a. a. O., § 72a GVG Rn. 7) ebenfalls in den Anwendungsbereich von § 72a Abs. 1 Nr. 7 GVG fällt.
Letztlich sprechen auch praktische Erwägungen für eine Erstreckung der Zuständigkeit nach § 72a Abs. 1 Nr. 7 GVG auf die Haftung wegen Existenzvernichtung. Zwar hat der Antragsteller seinen Anspruch in dem hier vorliegenden Fall (bislang) allein mit der genannten Anspruchsgrundlage begründet. In der Praxis ist es allerdings häufig so, dass entsprechende Klagen neben der Haftung wegen eines existenzvernichtenden Eingriffs auch auf eine Insolvenzanfechtung nach §§ 129 ff. InsO und andere als insolvenzrechtlich zu qualifizierende Anspruchsgrundlagen gestützt werden, wobei dies auch erst im späteren Verlauf des Rechtsstreits der Fall sein kann. Auch dies lässt es zweckmäßig erscheinen, den Anwendungsbereich von § 72a Abs. 1 Nr. 7 GVG auf Ansprüche aus der Haftung wegen Existenzvernichtung zu erstrecken.