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Wirtschaftsrecht
22.04.2016
Wirtschaftsrecht
AG Bonn: Erfordernis einer Verteidigungslage zur Gewährung von Einsicht in Kartellakte

AG Bonn, Beschluss vom 17.2.2016 – 52 Gs 53/14

NICHT AMTLICHE LEITSÄTZE

1. Die Verteidigungslage muss zur Gewährung von Akteneinsicht im Fall der Einstellung genau wie nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens konkret vorliegen oder absehbar sein.

2. Daraus, dass ein Akteneinsichtsrecht nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens bestehen kann, folgt nicht, dass dies erst recht für den Fall des eingestellten Verfahrens gelten muss.

3. Weder das Interesse an einer Prüfung, ob Schadensersatzansprüche Dritter aufgrund vom Bundeskartellamt geführter Ermittlungen drohen könnten, noch das Interesse an einer Prüfung rechtlicher Schritte gegen Dritte vermag ein Akteneinsichtsrecht nach § 147 StPO zu begründen.

StPO § 147 

SACHVERHALT

Mit mittlerweile rechtskräftigen Bußgeldbescheiden hat das Bundeskartellamt gegen die Betroffenen wegen wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen gemäß § 1 GWB bzw. Art. 101 AEUV Bußgelder festgesetzt. Die Bußgeldbescheide ergingen im Rahmen einer einvernehmlichen Verfahrensbeendigung (Settlement). Die Begründung erfolgte gemäß § 66 Abs. 3, Abs. 1 Nr. 3, 4 OWiG in Form von Kurzbußgeldbescheiden. Das Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen die Antragstellerin ist aus Zweckmäßigkeitserwägungen gemäß § 47 OWiG eingestellt worden. Nachdem das Bundeskartellamt das Verfahren gegen die Antragstellerin eingestellt hat, hat diese um zeitnahe Rückgabe der im Rahmen der Durchsuchung ihrer Geschäftsräume sichergestellten Unterlagen gebeten.

Die Antragstellerin begehrt nun die Gewährung von Akteneinsicht in die vom Bundeskartellamt geführte Verfahrensakte des Ordnungswidrigkeitsverfahrens. Das Bundeskartellamt hat das Begehren der Antragstellerin zurückgewiesen. Daraufhin hat die Antragstellerin eine gerichtliche Entscheidung beantragt. Die Antragstellerin begründet ihren Antrag auf Akteneinsicht gemäß § 147 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG damit, dass ihr durch die Unkenntnis der Akte in keiner Weise nachvollziehbar sei, warum der Antragstellerin im Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts Bonn eine "zentrale Rolle" als "Plattform für die Koordinierung" zugekommen sei. Darüber hinaus habe die Antragstellerin ein Interesse daran zu prüfen, ob gegebenenfalls Schadensersatzansprüche gegen Dritte wegen Hervorrufen eines Fehlverständnisses zur Rolle der Antragstellerin in den Ermittlungen des Bundeskartellamts bestehen könnten.

Das Bundeskartellamt hat dem Antrag in der Sache nicht abgeholfen. Der Antrag der Antragstellerin auf gerichtliche Entscheidung bezüglich der Gewährung von Akteneinsicht wurde zurückgewiesen.  

AUS DEN GRÜNDEN

Das  zunächst   von  der  Antragstellerin   verfolgte  Begehren  im  Hinblick  auf  die Herausgabe  der Asservate im Antragsschriftsatz  vom                          hat sich durch die mittlerweile erfolgte tatsächliche Herausgabe der Asservate durch das Bundeskartellamt unmittelbar nach Entscheidung über den letzten offenen Antrag auf Akteneinsicht nach § 406e StPO erledigt.

2.

Der Antrag der Antragstellerin auf gerichtliche Entscheidung bezüglich der Gewährung von Akteneinsicht ist zurückzuweisen.II.

Der Beschluss des Bundeskartellamts … ist zu Recht ergangen.

Es besteht kein Anspruch der Antragstellerin auf Akteneinsicht Die Vorschrift des § 147 StPO i.V.m. § 46 OWiG ist vorliegend weder direkt noch entsprechend anwendbar.

1. Eine Einsichtnahme kommt gemäß § 147 StPO i.V.m. § 46 OWiG in direkter Anwendung vorliegend nicht in Betracht, da das Ordnungswidrigkeilsverfahren mittlerweile abgeschlossen ist. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 147 Abs. 1 StPO, nach dem ausdrücklich der "Verteidiger" zur Akteneinsicht befugt ist. Das Verteidigungsverhältnis ist mit dem Abschluss des Verfahrens erloschen. Nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens findet keine Verteidigung mehr statt (AG Sonn, Beschluss vom 28.4.2015, AZ.: 52 Gs 56/14). Wenn keine Verteidigung mehr stattfindet, ist § 147 StPO nicht mehr anwendbar (AG Bonn, Beschluss vom 21.2.2014, AZ.: 52 Gs 29/14). Ein Verteidigungsverhältnis kann so jedenfalls für das hier nach § 47 OWiG eingestellte Verfahren grundsätzlich nicht mehr bestehen.

Die bloße Möglichkeit, dass das Verfahren wiederaufgenommen wird, wenn neue Ermittlungen zu neuen Ergebnissen geführt haben, führt nicht zu einer Beeinträchtigung der Verteidigungslage, wenn im Vorfeld keine Akteneinsicht gewährt worden ist (AG Bonn, Beschluss vom 1.7.2014, AZ.: 701 Gs 58/14). Faktisch ist vorliegend die Wiederaufnahme entsprechend der nachvollziehbaren Darlegungen des Bundeskartellamts sehr unwahrscheinlich, da keine weiteren Ermittlungen stattfinden und das Verfahren vielmehr insgesamt – d.h. nicht nur gegen die Antragstellerin – durch das Bundeskartellamt abgeschlossen worden ist. Für den unwahrscheinlichen Fall der Wiederaufnahme besteht dann ab diesem Zeitpunkt ein Anspruch auf Akteneinsicht (AG Bonn, Beschluss vom 28.4.2015, AZ: 52 Gs 56/14). Dadurch lassen sich die dann wieder auflebenden Verteidigungsinteressen der Antragstellerin noch ausreichend berücksichtigen.

2. Ein Anspruch auf Akteneinsicht ergibt sich auch nicht aus einer entsprechenden Anwendung des § 147 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens kommt ein Akteneinsichtsrecht in entsprechender Anwendung der Vorschriften in Betracht, wenn eine der in § 147 StPO beschriebenen Konstellation vergleichbare Verteidigungslage gegeben ist und die Akteneinsicht zum Zwecke der Verteidigung im Ordnungswidrigkeitsverfahren erfolgt (AG Bonn, Beschluss vom 28.4.2015, AZ.: 52 Gs 56/14). So ist insbesondere nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens Akteneinsicht zu gewähren, wenn dies der Vorbereitung von Prozesshandlungen dient, nicht jedoch, wenn mit ihr Zwecke verfolgt werden, die mit der Verteidigung des Nebenbetroffenen nicht mehr zusammenhängen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, 2015, § 147 Rn. 11).

Weder das von der. Antragstellerin vorgetragene Interesse an einer Prüfung, ob Schadensersatzansprüche Dritter aufgrund der vom Bundeskartellamt gegen sie geführten Ermittlungen drohen könnten, noch das Interesse an einer Prüfung rechtlicher Schritte gegen Dritte vermag ein Akteneinsichtsrecht nach § 147 StPO begründen. Es sind vorliegend keine Verteidigungsinteressen der Antragstellerin betroffen.

Das Interesse der Antragstellerin, sich für etwaige Zivilprozesse vorzubereiten, in denen Kartellgeschädigte versuchen könnten, Schadensersatzansprüche gegen sie durchzusetzen, steht nicht im Zusammenhang mit der Verteidigung im Ordnungswidrigkeitsverfahren. Rechtsbehelfe der Antragstellerin gegen die Akteneinsicht Verletzter kommen nur in Betracht, wenn diese durch die Akteneinsicht betroffen ist, was vorliegend aufgrund des begrenzten Umfangs der gegenüber potentiell Verletzten gewährten Akteneinsicht nicht der Fall war. Im konkreten Fall ist die Wahrscheinlichkeit für derartige Zivilprozesse zudem sehr gering, da das Verfahren gegen die Antragstellerin ohne die Feststellung einer Beteiligung am Kartellverstoß eingestellt worden ist.

Auch bei dem von der Antragstellerin geltend gemachten Interesse an einer Prüfung rechtlicher Schritte gegen Dritte – "möglicherweise unlauter handelnde private Akteure" – handelt es sich nicht um ein Verteidigungsinteresse. Vielmehr beschränkt sich das Interesse der Antragstellerin an der Akteneinsicht nach der Einstellung des Verfahrens auf ein reines Informationsinteresse am Stand der Ermittlungen zum Zeitpunkt der Verfahrenseinstellung. Zwar hat die Antragstellerin auch bei einem eingestellten Verfahren ein nachvollziehbares Interesse daran, zu wissen, auf welche Einzelheiten sich die gegen sie gerichteten Ermittlungen bezogen und welche Beweismittel möglicherweise hierzu vorlagen. Dieses Interesse ist im Rahmen des§ 147 StPO jedoch nicht schützenswert (AG Bonn, Beschluss vom 1.7.2014, AZ: 701 Gs 58/14). Anderes gilt demgegenüber grundsätzlich bei einer Verteidigungslage. Dann überwiegt das Interesse der Nebenbetroffenen an der Akteneinsicht, nicht jedoch, wenn die Verteidigungslage – wie vorliegend – entfallen ist, bzw. (noch) nicht wieder besteht (AG Bonn, Beschluss vom 28.4.2015, AZ: 52 Gs 56/14).

Die Verteidigungslage muss zur Gewährung von Akteneinsicht im Fall der Einstellung genau wie nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens konkret vorliegen oder absehbar sein (AG Bonn, Beschluss vom 28.4.2015, AZ: 52 Gs 56/14). Der von der Antragstellerin hiergegen vorgebrachte Erst-Recht-Schluss aus der Regelung des § 147 Abs. 5 StPO überzeugt nicht. Daraus, dass ein Akteneinsichtsrecht nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens bestehen kann, folgt nicht, dass dies erst recht für den Fall des eingestellten Verfahrens gelten muss. § 147 Abs. 5 StPO regelt das Akteneinsichtsrecht für das vorbereitende und das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren. Den Fall der Einstellung des eingestellten Verfahrens regelt diese Vorschrift nicht. Dieser betrifft auch eine andere lnteressenlage, die mit den ausdrücklich geregelten Konstellationen nicht vergleichbar ist: Während der Betroffene nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens in der Regel beschwert ist, fehlt es nach einer Einstellung des Verfahrens an einer solchen Beschwer. Gegen ihn ergeht keine belastende Entscheidung. Dementsprechend steht der Antragstellerin als Nebenbetroffene auch kein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Bundeskartellamts, das Verfahren gegen sie einzustellen, zur Verfügung (vgl. KK-Mitsch, OWiG, 4. Aufl., 2014, § 47 Rn. 121). Aber auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens besteht ein Akteneinsichtsrecht nicht in jedem Fall. Vielmehr ist auch dann eine Verteidigungslage erforderlich, die etwa dann an angenommen werden kann, wenn die Akteneinsicht zur Vorbereitung weiterer Prozesshandlungen dienen soll, insbesondere von Anträgen im Vollstreckungsverfahren, im Gnadenverfahren oder von Wiederaufnahmeanträgen. Insofern lässt sich aus § 147 Abs. 5 StPO gerade nicht ableiten, dass ein Akteneinsichtsrecht der Antragstellerin als Nebenbetroffene nach Einstellung des Verfahrens gegen sie ohne das Vorliegen einer konkreten Verteidigungslage noch bestehen muss. Dass die bloß abstrakte Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens durch das Bundeskartellamt für die Annahme einer solch konkreten Verteidigungslage nicht ausreicht, wurde bereits dargelegt. Eine konkrete Verteidigungslage ist hier auch deshalb nicht gegeben, weil das Verfahren eingestellt worden ist und die Antragstellerin keine Prozesshandlungen vorzunehmen oder vorzubereiten hat.

Auch ansonsten ist eine Verteidigungslage oder eine Situation, die einer Verteidigungslage gleichzustellen wäre, nicht gegeben.

Dies gilt zunächst im Hinblick auf die möglich gerichtliche Überprüfung des Durchsuchungs- und/oder Beschlagnahmebeschlusses. Soweit die Antragstellerin geltend macht, dass sie erst nach erfolgter Akteneinsicht prüfen könne, ob Rechtsmittel dagegen angezeigt wären oder nicht, so begründet dies auch keine mit einer Verteidigungslage vergleichbare Situation. Zum einen lässt die Antragstellerin die Maßnahmen derzeit nicht gerichtlich überprüfen. Zum anderen könnte dies – selbst wenn sie eine solche gerichtliche Überprüfung nun nach mehr als XXX Jahren nach der Durchsuchung beabsichtigen sollte – keinen Anspruch auf vollumfängliche Akteneinsicht nach § 147 StPO begründen. Denn die Gründe sowohl für den Durchsuchungs- als auch den Beschlagnahmebeschluss sind der Antragstellerin bereits. zum Zeitpunkt des Vollzugs der Maßnahmen in der Begründung der Beschlüsse mitgeteilt worden. Zeitgleich ist die Antragstellerin über mögliche Rechtsmittel belehrt worden, die sie jederzeit – auch ohne vorherige Akteneinsicht – einlegen konnte. Insoweit war es ihr schon von da an jederzeit möglich, diese Maßnahmen gerichtlich überprüfen zu lassen. Einer Akteneinsicht zur Überprüfung der durch das Bundeskartellamt dargelegten Gründe für die genannten Maßnahmen bedurfte und bedarf es insoweit nicht.

Zur Vorbereitung eines möglichen Antrages auf Entschädigung nach § 3 StrEG ist der Antragstellerin ebenfalls keine Akteneinsicht zu gewähren. Vielmehr verfügt die Antragstellerin bereits über die für einen Antrag nach dem StrEG erforderlichen Informationen zu den Strafverfolgungsmaßnahmen (wie etwa die Durchsuchungs­ und Beschlagnahmeanordnung, das Datum des Vollzugs der Durchsuchungsanordnung sowie Umfang und Dauer der Beschlagnahme). Auch für den darüber hinaus für die Begründung eines StrEG-Antrags erforderlichen Nachweis eines Vermögensschadens ist die Einsicht in die Akte des Ordnungswidrigkeitsverfahrens nicht weiterführend und damit nicht erforderlich. Der Anspruch auf Entschädigung aufgrund Durchsuchung und Beschlagnahme besteht zudem gemäß § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4 StrEG unabhängig davon, ob die vorläufige Strafverfolgungsmaßnahme rechtmäßig oder rechtswidrig angeordnet und/oder vollzogen wurde (vgl. Meyer, StrEG, 9. Aufl., 2014, § 2 Rn. 5). Ein Anspruch bestünde somit unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen, so dass es auch zur Bewertung, ob ein Anspruch nach dem StrEG besteht, keiner Akteneinsicht bedarf. Für den Fall der Einstellung aus Opportunitätsgründen beschränkt § 3 StrEG den Anspruch im Übrigen dahingehend, dass eine Entschädigung nur aus Billigkeitsgesichtspunkten zu gewähren ist. Für den Fall einer Einstellung nach § 47 OWiG gilt§ 3 StrEG sinngemäß (Meyer, StrEG, 9. Aufl., 2014, § 3 Rn. 27).

Ein Akteneinsichtsrecht nach § 147 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG scheidet somit sowohl in direkter Anwendung als auch in entsprechender Anwendung dieser Regelung aus.

Außerhalb der Verteidigung ist Akteneinsicht bzw. vorrangig hierzu die Aktenauskunft allein nach Maßgabe des § 475 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG möglich. Ein berechtigtes Interesse im Sinne dieser Vorschrift ist nur im Hinblick auf das Interesse der Antragstellerin zu bejahen, Kenntnis von den Umständen zu erlangen, die zur Verfahrenseinstellung gegen sie geführt haben. Dementsprechend hat das Bundeskartellamt mit der … Auskunftserteilung dieses Interesse in ausreichendem Maße befriedigt.

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