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Wirtschaftsrecht
24.04.2025
Wirtschaftsrecht
EuGH: Entschuldungsverfahren – Auslegung des Art. 23 Abs. 1 und Abs. 2 RL (EU) 2019/1023

EuGH, Urteil vom 10.4.2025 – C-723/23, Agencia Estatal de la Administración Tributaria gegen VT, UP

ECLI:EU:C:2025:262

Volltext: BB-Online BBL2025-961-1

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

1. Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) ist wie folgt auszulegen: Er steht einer nationalen Regelung, die einem Schuldner, der gegenüber den Gläubigern eines Dritten unredlich oder bösgläubig gehandelt hat und bei der gerichtlichen Feststellung von dessen betrügerischer Insolvenz als „betroffene Person“ eingestuft worden ist, den Zugang zur Entschuldung verwehrt, nicht entgegen.

2. Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2019/1023 ist wie folgt auszulegen: Er steht einer nationalen Regelung, die eine in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie nicht vorgesehene Ausnahmeregelung zum Grundsatz des Zugangs zu einem Verfahren, das zu einer vollen Entschuldung führen kann, vorsieht, die einem Schuldner, der in den zehn Jahren vor Stellung seines Antrags auf Entschuldung in einem Urteil, mit dem die Insolvenz eines Dritten, als „betrügerisch“ eingestuft wurde, zu einer „betroffenen Person“ erklärt wurde, den Zugang zu einem solchen Verfahren verwehrt, es sei denn, er hat um Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Entschuldung alle Schulden, für die er haftet, beglichen, ohne dass die nationalen Gerichte in subjektiver Hinsicht zu prüfen haben, ob der Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt hat, nicht entgegen, sofern die Verwehrung des Zugangs zur Entschuldung nach nationalem Recht ausreichend gerechtfertigt ist.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 und Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (ABl. 2019, L 172, S. 18).

 

2          Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen VT, einer natürlichen Person, die insolvent wurde, und der Agencia Estatal de Administración Tributaria (Steuerverwaltung, Spanien) (im Folgenden: AEAT) wegen eines Antrags auf Entschuldung, den VT in dem ihn betreffenden Insolvenzverfahren gestellt hat.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          In den Erwägungsgründen 78 bis 81 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz heißt es:

„(78) Eine volle Entschuldung oder ein Ende der Tätigkeitsverbote nach einer Frist von höchstens drei Jahren ist nicht in jedem Fall angemessen; daher könnten Ausnahmen von dieser Regel festgelegt werden müssen, die mit im nationalen Recht festgelegten Gründen ausreichend gerechtfertigt sind. Solche Ausnahmeregelungen sollten zum Beispiel für den Fall eingeführt werden, dass der Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt hat. Wenn Unternehmer nach nationalem Recht nicht von einer Vermutung der Redlichkeit und des guten Glaubens profitieren, sollte ihnen eine Einleitung des Verfahrens aufgrund der Beweislast für ihre Redlichkeit und ihren guten Glauben nicht unnötig erschwert oder aufwendig gestaltet werden.

(79) Bei der Prüfung, ob ein Unternehmer unredlich war, könnten die Justiz- oder Verwaltungsbehörden Umstände wie die folgenden berücksichtigen: Art und Umfang der Schulden, Zeitpunkt des Entstehens der Schuld, Anstrengungen des Unternehmers zur Begleichung der Schulden und zur Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen, unter anderem im Zusammenhang mit öffentlichen Erlaubnissen und dem Erfordernis ordnungsgemäßer Buchführung, Handlungen seitens des Unternehmers zur Vereitelung einer Inanspruchnahme durch Gläubiger, die Erfüllung von Pflichten im Zusammenhang mit einer wahrscheinlichen Insolvenz, die den Unternehmenseignern als Mitgliedern der Geschäftsleitung obliegen, sowie die Einhaltung des Wettbewerbsrechts der Union und des nationalen Wettbewerbsrechts und des Arbeitsrechts der Union und des nationalen Arbeitsrechts. Es sollte auch möglich sein, Ausnahmeregelungen einzuführen, wenn der Unternehmer bestimmte rechtliche Verpflichtungen nicht erfüllt hat, unter anderem Verpflichtungen, die Gläubiger bestmöglich zu befriedigen, welche die Form einer allgemeinen Verpflichtung haben könnten, Einkommen oder Vermögenswerte zu erwirtschaften. Spezielle Ausnahmeregelungen sollten darüber hinaus festgelegt werden können, wenn sie notwendig sind, um einen Ausgleich zwischen den Rechten des Schuldners und den Rechten eines oder mehrerer Gläubiger zu gewährleisten, etwa wenn der Gläubiger eine natürliche Person ist, die größeren Schutzes bedarf als der Schuldner.

(80) Eine Ausnahme könnte auch gerechtfertigt sein, wenn die Kosten des zu einer Entschuldung führenden Verfahrens, einschließlich der Gebühren für Justiz- und Verwaltungsbehörden sowie für Verwalter, nicht gedeckt sind. Die Mitgliedstaaten sollten bestimmen können, dass die Vorteile einer vollen Entschuldung zu widerrufen werden können, zum Beispiel, wenn sich die finanzielle Situation des Schuldners aufgrund unvorhergesehener Umstände, etwa eines Lotteriegewinns oder des Erhaltens eines Erbes oder einer Schenkung, wesentlich verbessert. Die Mitgliedstaaten sollten nicht daran gehindert werden, unter wohldefinierten Umständen und in ausreichend begründeten Fällen zusätzliche Ausnahmen vorzusehen.

(81) Wenn im nationalen Recht ein ausreichend begründeter Grund vorliegt, könnte es angemessen sein, die Möglichkeit der Entschuldung für bestimmte Schuldenkategorien einzuschränken. … Die Mitgliedstaaten sollten in ausreichend begründeten Fällen weitere Schuldenkategorien ausschließen können.“

 

4          Art. 20 („Zugang zur Entschuldung“) der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass insolvente Unternehmer Zugang zu mindestens einem Verfahren haben, das zu einer vollen Entschuldung gemäß dieser Richtlinie führen kann.

(2) Die Mitgliedstaaten, in denen die volle Entschuldung von einer teilweisen Tilgung der Schulden durch den Unternehmer abhängig ist, stellen sicher, dass die diesbezügliche Tilgungspflicht der Situation des einzelnen Unternehmers entspricht und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zum pfändbaren oder verfügbaren Einkommen und zu den pfändbaren oder verfügbaren Vermögenswerten des Unternehmers während der Entschuldungsfrist steht sowie dem berechtigten Gläubigerinteresse Rechnung trägt.

…“

 

5          Art. 23 („Ausnahmeregelungen“) der Richtlinie bestimmt:

„(1) Abweichend von den Artikeln 20 bis 22 behalten die Mitgliedstaaten Bestimmungen bei oder führen Bestimmungen ein, mit denen der Zugang zur Entschuldung verwehrt oder beschränkt wird, die Vorteile der Entschuldung widerrufen werden oder längere Fristen für eine volle Entschuldung beziehungsweise längere Verbotsfristen vorgesehen werden, wenn der insolvente Unternehmer bei seiner Verschuldung – während des Insolvenzverfahrens oder während der Begleichung der Schulden – gegenüber den Gläubigern oder sonstigen Interessenträgern unredlich oder bösgläubig im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften gehandelt hat, unbeschadet der nationalen Vorschriften zur Beweislast.

(2) Abweichend von den Artikeln 20 bis 22 können die Mitgliedstaaten Bestimmungen beibehalten oder einführen, mit denen unter bestimmten genau festgelegten Umständen der Zugang zur Entschuldung verwehrt oder beschränkt wird, die Entschuldung widerrufen wird oder längere Fristen für eine volle Entschuldung beziehungsweise längere Verbotsfristen vorgesehen werden, wenn solche Ausnahmeregelungen ausreichend gerechtfertigt sind, etwa wenn:

a) der insolvente Unternehmer gegen im Tilgungsplan vorgesehene Verpflichtungen oder gegen eine andere rechtliche Verpflichtung zum Schutz der Interessen der Gläubiger, einschließlich der Verpflichtung, die Gläubiger bestmöglich zu befriedigen, in erheblichem Maße verstoßen hat,

b) der insolvente Unternehmer den Informationspflichten oder Verpflichtungen zur Zusammenarbeit gemäß dem Unionsrecht und den nationalen Rechtsvorschriften nicht nachgekommen ist,

c) Entschuldungsverfahren missbräuchlich beantragt werden,

d) innerhalb eines bestimmten Zeitraums, nachdem dem insolventen Unternehmer eine volle Entschuldung gewährt oder aufgrund eines schweren Verstoßes gegen die Informationspflichten oder die Verpflichtungen zur Zusammenarbeit verweigert worden ist, eine weitere Entschuldung beantragt wird,

e) die Kosten des zur Entschuldung führenden Verfahrens nicht gedeckt sind oder

f) eine Ausnahmeregelung erforderlich ist, um einen Ausgleich zwischen den Rechten des Schuldners und den Rechten eines oder mehrerer Gläubiger zu gewährleisten.

(3) Abweichend von Artikel 21 können die Mitgliedstaaten längere Entschuldungsfristen für den Fall festlegen, dass

(4) Die Mitgliedstaaten können bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung ausschließen, den Zugang zur Entschuldung beschränken oder eine längere Entschuldungsfrist festlegen, wenn solche Ausschlüsse, Beschränkungen oder längeren Fristen ausreichend gerechtfertigt sind, etwa im Falle von

a) besicherten Schulden,

b) aus strafrechtlichen Sanktionen entstandenen oder damit in Verbindung stehenden Schulden,

c) aus deliktischer Haftung entstandenen Schulden,

…“

 

Spanisches Recht

6          Das auf den Ausgangsrechtsstreit zeitlich anwendbare Recht ist das Real Decreto Legislativo 1/2020 por el que se aprueba el texto refundido de la Ley Concursal (königliches gesetzesvertretendes Dekret 1/2020 über die Annahme der Neufassung des Konkursgesetzes) vom 5. Mai 2020 (BOE Nr. 127 vom 7. Mai 2020, S. 31518) in der durch die Ley 16/2022 de reforma del texto refundido de la Ley Concursal, aprobado por el Real Decreto Legislativo 1/2020, para la transposición de la Directiva (UE) 2019/1023 (Gesetz 16/2022 zur Änderung der Neufassung des Konkursgesetzes, angenommen durch das königliche gesetzesvertretende Dekret 1/2020, zur Umsetzung der Richtlinie [EU] 2019/1023) vom 5. September 2022 (BOE Nr. 214 vom 6. September 2022, S. 123682) geänderten Fassung (im Folgenden: TRLC).

 

7          In der Präambel des Gesetzes 16/2022 heißt es:

„…

… Ist der insolvente Schuldner eine natürliche Person, dient das Insolvenzverfahren dazu, die gutgläubigen Schuldner zu identifizieren und ihnen eine teilweise Entschuldung anzubieten, wodurch ihnen eine zweite Chance eingeräumt wird und sie davor bewahrt werden, in die Schattenwirtschaft oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.

Die Richtlinie [über Restrukturierung und Insolvenz] verpflichtet alle Mitgliedstaaten, einen Mechanismus der zweiten Chance einzurichten, um zu verhindern, dass Schuldner versucht sind, in andere Länder abzuwandern, die diese Mechanismen bereits vorsehen, was Kosten sowohl für den Schuldner als auch für seine Gläubiger mit sich bringen würde. Gleichzeitig wird die Homogenisierung in diesem Punkt als wesentlich für das Funktionieren des europäischen Binnenmarkts angesehen.

Eine der radikalsten Änderungen der neuen Regelung besteht darin, dass, anstatt die Entschuldung von der Begleichung einer bestimmten Art von Schulden abhängig zu machen (wie in Art. 487 Abs. 2 des Textes der Neufassung des Konkursgesetzes vorgesehen), ein am Verdienst orientiertes Entschuldungssystem eingeführt wird, in dem jeder Schuldner, unabhängig davon, ob er Unternehmer ist oder nicht, unter der Voraussetzung, dass er das Erfordernis des guten Glaubens erfüllt, auf dem dieses System beruht, Zugang zu einer Entschuldung für alle seine Schulden mit Ausnahme derjenigen erhalten kann, bei denen aufgrund ihrer besonderen Art ausnahmsweise davon ausgegangen wird, dass sie keiner rechtmäßigen Entschuldung zugänglich sind. Die bereits 2015 vom spanischen Gesetzgeber akzeptierte Möglichkeit, jedem gutgläubigen Schuldner, der eine natürliche Person ist, die Entschuldung unabhängig davon zu gewähren, ob er Unternehmer ist oder nicht, wird beibehalten.

Der gute Glaube des Schuldners bleibt der Eckpfeiler der Entschuldung. Im Einklang mit den Empfehlungen internationaler Organisationen wird der gute Glaube normativ über bestimmte objektive Verhaltensweisen, die abschließend aufgezählt werden (Enumerationsprinzip), abgegrenzt, ohne dass auf Tatbestände zurückgegriffen wird, die unbestimmt oder nicht hinreichend spezifisch sind oder deren Nachweis dem Schuldner eine unmögliche Belastung auferlegt. …

Die Entschuldung erstreckt sich auf alle Forderungen im Rahmen des Kollektivverfahrens und auf alle Masseforderungen. Die Ausnahmen gründen sich in bestimmten Fällen auf die besondere Bedeutung der Begleichung der betreffenden Schulden für eine gerechte und solidarische sowie auf Rechtsstaatlichkeit beruhende Gesellschaft (z. B. Unterhaltsschulden, Schulden aus öffentlich-rechtlichen Forderungen, Schulden aus Straftaten oder auch Schulden aus deliktischer Haftung). So unterliegt die Entschuldung im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Schulden bestimmten Beschränkungen und ist nur bei der erstmaligen Entschuldung und nicht in weiterer Folge möglich. In anderen Fällen ist die Ausnahme durch Synergien oder negative externe Effekte gerechtfertigt, die sich aus dem Erlass bestimmter Arten von Schulden ergeben könnten: der Erlass von Schulden, die aus der Verpflichtung, die Kosten des zur Entschuldung führenden Verfahrens zu begleichen, entstanden sind, könnte bestimmte Dritte davon abhalten, zu diesem Zweck mit dem Schuldner zusammenzuarbeiten (z. B. Rechtsanwälte), was den Insolvenzschuldner daran hindern würde, Zugang zu seiner Akte zu erhalten. Ebenso würde die Entschuldung bei dinglich besicherten Schulden ohne jede Rechtfertigung eine wesentliche Grundlage für den Zugang zu Krediten und damit für das reibungslose Funktionieren der modernen Volkswirtschaften unterlaufen, nämlich die Immunität des Gläubigers, der eine gegen die Risiken der Insolvenz oder Nichterfüllung des Schuldners bestandsfähige, dingliche Sicherheit hält. Schließlich ist das Gericht ausnahmsweise befugt, bestimmte Schulden ganz oder teilweise nicht zu erlassen, wenn dies erforderlich ist, um die Insolvenz des Gläubigers zu vermeiden.

…“

 

8          Art. 486 TRLC lautet:

„Ein Schuldner, der eine natürliche Person ist, kann, sofern er gutgläubig ist, unabhängig davon, ob er Unternehmer ist oder nicht, unter den in diesem Gesetz festgelegten Bedingungen den Erlass unbezahlter Schulden beantragen,

1. indem er sich gemäß der Entschuldungsregelung im nachstehenden Abschnitt 3 Unterabschnitt 1 einem Zahlungsplan ohne vorherige Liquidation der Vermögensmasse unterwirft oder

2. durch die Liquidation der Vermögensmasse, wobei die Entschuldung in diesem Fall der Regelung im nachstehenden Abschnitt 3 Unterabschnitt 2 unterliegt, wenn der Grund für die Beendigung des Insolvenzverfahrens der Abschluss der Liquidationsphase für die Vermögensmasse oder die Tatsache ist, dass die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Masseverbindlichkeiten zu befriedigen.“

 

9          Art. 487 TRLC bestimmt:

„(1) Der Schuldner, der sich in einer der folgenden Situationen befindet, kann keinen Erlass der nicht beglichenen Schulden erhalten:

1. wenn er in den zehn Jahren vor dem Entschuldungsantrag wegen Straftaten gegen das Vermögen und die sozioökonomische Ordnung, wegen Urkundenfälschung, wegen Straftaten gegen die Staatskasse und die soziale Sicherheit oder gegen die Rechte der Arbeitnehmer zu einer Freiheitsstrafe, auch wenn diese zur Bewährung ausgesetzt oder ersetzt wurde, rechtskräftig verurteilt wurde, sofern die Höchststrafe für die Straftat drei Jahre oder länger beträgt, es sei denn, dass zum Zeitpunkt der Einreichung des Entschuldungsantrags die strafrechtliche Verantwortung erloschen ist und die finanziellen Verpflichtungen aus der Straftat beglichen wurden;

2. wenn gegen ihn in den zehn Jahren vor dem Entschuldungsantrag durch eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung wegen eines sehr schweren Verstoßes in Steuersachen oder wegen eines Verstoßes gegen die Sozialversicherung oder die gesellschaftliche Ordnung eine Sanktion verhängt wurde oder wenn im selben Zeitraum eine bestandkräftige Entscheidung über die Ausweitung der Haftung ergangen ist, es sei denn, er hat zum Zeitpunkt der Stellung des Entschuldungsantrags alle Schulden, für die er haftet, beglichen;

bei schweren Verstößen können Schuldner, gegen die eine Strafe verhängt wurde, deren Betrag sich auf mehr als 50 % des Betrags, der gemäß Art. 489 Abs. 1 Nr. 5 für eine Entschuldung durch die [AEAT] in Betracht kommt, beläuft, die Entschuldung nur erhalten, wenn sie zum Zeitpunkt der Stellung des Entschuldungsantrags alle Schulden, für die sie haften, beglichen haben;

3. wenn die Insolvenz für betrügerisch erklärt wurde; wurde die Insolvenz jedoch nur deshalb für betrügerisch erklärt, weil der Schuldner seiner Verpflichtung, rechtzeitig die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen, nicht nachgekommen ist, kann das Gericht die Umstände berücksichtigen, unter denen die Verspätung eingetreten ist;

4. wenn er in den zehn Jahren vor dem Entschuldungsantrag in dem Urteil über die Einstufung der Insolvenz eines Dritten, die als betrügerisch eingestuft wurde, zu einer betroffenen Person erklärt wurde, es sei denn, er hat zum Zeitpunkt der Stellung des Entschuldungsantrags alle Schulden, für die er haftet ist, beglichen;

(2) In den Fällen der Nrn. 3 und 4 des vorstehenden Absatzes setzt das Gericht, wenn die Einstufung noch nicht endgültig ist, die Entscheidung über die Entschuldung aus, bis die Einstufung endgültig ist. …“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

10        VT und seine Ehefrau, UP, waren Geschäftsführer der BLANCO Y NARANJA SL und der MALVA Y NARANJA SL. Diese beiden Gesellschaften waren jeweils Gegenstand von Insolvenzverfahren, in denen festgestellt wurde, dass sie insolvent seien und dass es sich um „betrügerische“ Insolvenzen handele. In beiden Verfahren wurde ferner festgestellt, dass VT und UP als alleinvertretungsberechtigte Geschäftsführer der beiden Gesellschaften von der Einstufung als „betrügerische“ Insolvenzen „betroffene Personen“ seien. Ihnen wurde für einen bestimmten Zeitraum (fünf bzw. sieben Jahre) verboten, das Eigentum eines anderen zu verwalten und Geschäfte für einen anderen zu besorgen. Darüber hinaus verloren sie sämtliche Forderungen als Insolvenz- oder Massegläubiger. Außerdem wurden sie verurteilt, gesamtschuldnerisch für die nicht durch die Masse gedeckten Verbindlichkeiten der beiden Gesellschaften (169 085,24 Euro bzw. 62 035,91 Euro) aufzukommen und die Kosten des Verfahrens zu tragen.

 

11        VT hatte Schwierigkeiten, die entsprechenden Mittel aufzubringen. Er strengte deshalb bei der Cámara Oficial de Comercio, Industria y Navegación de Gijón (Amtliche Handels‑, Industrie- und Seehandelskammer Gijón, Spanien) ein Verfahren über eine außergerichtliche Zahlungsvereinbarung an. Da eine solche nicht zustande kam, stellte er beim Juzgado de lo Mercantil no 3 de Oviedo, con sede en Gijón (Handelsgericht Nr. 3 von Oviedo mit Sitz in Gijón, Spanien), dem vorlegenden Gericht, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens.

 

12        Mit Beschluss vom 8. Februar 2021 stellte der Juzgado de lo Mercantil no 3 de Oviedo, con sede en Gijón (Handelsgericht Nr. 3 von Oviedo mit Sitz in Gijón) die persönliche Insolvenz von VT fest, die er als „unbeabsichtigt“ einstufte.

 

13        In dem über sein Vermögen eingeleiteten Insolvenzverfahren stellte VT am 2. Februar 2023 einen Antrag auf Entschuldung. Die AEAT trat dem entgegen. Sie machte geltend, dass die betreffende Insolvenz unter die Ausnahmeregelung gemäß Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC falle. VT sei in den oben in Rn. 10 genannten Insolvenzverfahren als „betroffene Person“ und die Insolvenzen der betreffenden Gesellschaften als „betrügerisch“ eingestuft worden. VT habe seine Verbindlichkeiten auch nicht vollständig beglichen.

 

14        VT macht geltend, dass er gegenüber „seinen eigenen Gläubigern“ ein gutgläubiger Schuldner sei. Dass er in dem Insolvenzverfahren der juristischen Personen, deren alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer er gewesen sei, in seiner Eigenschaft als Bürge als „betroffene Person“ eingestuft worden sei, beschränke nicht seinen Zugang zur Entschuldung im Verhältnis zu seinen Gläubigern. Im Übrigen sei die Ausnahmeregelung des Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC, soweit sie eine objektive Verantwortlichkeit ohne Abwägungsmöglichkeit einführe, nicht mit dem durch die Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz eingerichteten System vereinbar, nach dem bei der Prüfung der Frage, ob der Schuldner unredlich gehandelt habe, die subjektiven Umstände zu berücksichtigen seien, in denen sich dieser befinde.

 

15        Das vorlegende Gericht weist als Erstes darauf hin, dass in Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz der Fall geregelt sei, dass ein insolventer Unternehmer gegenüber den Gläubigern unredlich oder bösgläubig handele. Ob darunter auch ein Fall wie der, um den es im Ausgangsverfahren gehe, falle, in dem ein Schuldner als alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer gesamtschuldnerisch gegenüber den Gläubigern eines Dritten hafte, sei aber nicht eindeutig klar. Es stelle sich mithin die Frage, ob die Ausnahmeregelung betreffend den Zugang zur Entschuldung bei Schulden eines Schuldners gegenüber seinen eigenen Gläubigern auch für die Gläubiger eines Dritten gelte und dies mit dem Begriff der „Gläubiger“ im Sinne von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz vereinbar sei.

 

16        Als Zweites weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass VT durch die Ausnahmeregelung des Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC der Zugang zu einem Verfahren, das zu einer vollen Entschuldung hinsichtlich seiner Schulden gegenüber seinen eigenen Gläubigern führen könne, verwehrt sei. Es fragt sich, ob Art. 20 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, nach dem die Mitgliedstaaten ein Verfahren vorsehen müssten, das zu einer vollen Entschuldung führen könne, dahin auszulegen sei, dass er einer solchen Bestimmung entgegenstehe.

 

17        Als Drittes fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, insbesondere deren Art. 20 Abs. 2, verlange, dass die eingeführte Regelung des Zugangs zu einer vollen Entschuldung die subjektiven Merkmale der Situation des Schuldners, also dessen individuelle Situation, berücksichtige, oder ob die Mitgliedstaaten eine Bestimmung wie Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC aufrechterhalten oder erlassen könnten, die auf rein objektive Kriterien abstelle und die individuelle Situation des Schuldners außer Acht lasse.

 

18        Der Juzgado de lo Mercantil no 3 de Oviedo, con sede en Gijón (Handelsgericht Nr. 3 von Oviedo mit Sitz in Gijón) hat deshalb beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie in Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC entgegensteht, wonach der Begriff „unredliches oder bösgläubiges Verhalten“ des Schuldners Verhaltensweisen des Schuldners gegenüber Gläubigern Dritter umfasst, die nicht in der Insolvenztabelle seines eigenen gegen ihn als natürliche Person geführten Insolvenzverfahrens aufgeführt sind?

2. Ist Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC, der eine Ausnahmeregelung von dem Verfahren der zweiten Chance vorsieht, die eine volle Entschuldung verhindert, mit Art. 20 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz vereinbar?

3. Ist Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC, der nicht die individuelle Situation des Schuldners berücksichtigt, sondern eine objektive Ausnahmeregelung vorsieht, ohne dass die spanischen Gerichte die subjektiven Umstände des Schuldners, der das Verfahren der zweiten Chance in Anspruch nimmt, beurteilen können, mit Art. 20 Abs. 2 und dem 79. Erwägungsgrund der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz vereinbar?

 

Zu den Vorlagefragen

Zu Frage 1

19        Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die einem Schuldner, der gegenüber den Gläubigern eines Dritten unredlich oder bösgläubig gehandelt hat und bei der gerichtlichen Feststellung von dessen betrügerischer Insolvenz als „betroffene Person“ eingestuft worden ist, den Zugang zur Entschuldung verwehrt.

 

20        Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC sieht nämlich im Wesentlichen vor, dass ein Schuldner, der in den zehn Jahren vor seinem Antrag auf Entschuldung in einem Urteil, mit dem die Insolvenz eines Dritten als „betrügerisch“ eingestuft wurde, zu einer „betroffenen Person“ erklärt wurde, eine Entschuldung nur dann erlangen kann, wenn er zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Entschuldung alle Schulden, für die er haftet, beglichen hat.

 

21        Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind für die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 14. März 2024, VR Bank Ravensburg-Weingarten, C‑536/22, EU:C:2024:234, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

22        Was als Erstes den Wortlaut angeht, so bestimmt Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, dass die Mitgliedstaaten Bestimmungen beibehalten oder einführen, mit denen der Zugang zur Entschuldung verwehrt oder beschränkt wird, die Vorteile der Entschuldung widerrufen werden oder längere Fristen für eine volle Entschuldung beziehungsweise längere Verbotsfristen vorgesehen werden, wenn der insolvente Unternehmer bei seiner Verschuldung – während des Insolvenzverfahrens oder während der Begleichung der Schulden – insbesondere gegenüber den Gläubigern unredlich oder bösgläubig gehandelt hat.

 

23        Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz enthält hinsichtlich des Zeitpunkts, zu dem der Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt haben muss, einen mittelbaren zeitlichen Hinweis: Der Schuldner muss dies „bei seiner Verschuldung“, „während des Insolvenzverfahrens“ oder „während der Begleichung der Schulden“ getan haben. Daher könnte angenommen werden, dass die „Gläubiger“ im Sinne von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie die Gläubiger sind, die entweder bei der Verschuldung des Schuldners, während des Insolvenzverfahrens oder während der Begleichung der Schulden bestimmt werden können. Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen geltend gemacht hat, spricht dieser zeitliche Hinweis dafür, Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie dahin auszulegen, dass unter den Begriff der „Gläubiger“ ausschließlich die Gläubiger fallen, gegenüber denen sich der Schuldner unmittelbar persönlich verschuldet hat, d. h. „seine eigenen“ Gläubiger, und nicht Gläubiger, die ursprünglich Gläubiger eines Dritten waren und Gläubiger von ihm erst durch ein Urteil geworden sind, mit dem er als von der betrügerischen Insolvenz dieses Dritten „betroffene Person“ eingestuft wurde.

 

24        In einem Fall wie dem, um den es im Ausgangsverfahren geht, weiß die Person, die als Geschäftsführer einer Gesellschaft handelt, deren Insolvenz als betrügerisch eingestuft wurde, aber durchaus, dass sie nach der einschlägigen nationalen Regelung als „betroffene Person“ im Sinne dieser Regelung eingestuft werden und damit Schuldner der Gläubiger der Gesellschaft werden kann. Bei verständiger Würdigung muss sie daher auch wissen, dass die Gläubiger, gegenüber denen sie die Gesellschaft verpflichtet, potenziell ihre eigenen Gläubiger sind. Deshalb ist ihr unredliches oder bösgläubiges Handeln gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft – und damit gegenüber ihren potenziellen persönlichen Gläubigern – unter solchen Umständen einem unredlichen oder bösgläubigen Handeln gegenüber den eigenen Gläubigern gleichzusetzen.

 

25        Diese Auslegung des Wortlauts von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz findet darin eine Stütze, dass in der französischen Sprachfassung der Bestimmung von „den Gläubigern“ und nicht von „ihren Gläubigern“ die Rede ist. Hätte der Unionsgesetzgeber die unter den Kreis der unter die Bestimmung fallenden Gläubiger auf die eigenen Gläubiger des Schuldners begrenzen wollen, hätte er dies mit dem adjektivischen Possessivpronomen „ihre“ nämlich leicht tun können.

 

26        Andere Sprachfassungen von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz als die französische – insbesondere die deutsche („gegenüber den Gläubigern“), englische („towards creditors“), dänische („for kreditorer“), spanische („respecto a los acreedores“), ungarische („a hitelezőkkel … szemben“), italienische („nei confronti dei creditori“), portugiesische („para com os credores“), rumänische („față de creditori“) und schwedische („gentemot borgenärerna“) – bestätigen, dass der Gesetzgeber eine solches Possessivpronomen nicht verwendet hat.

 

27        Als Zweites ist zu dem Zusammenhang von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz festzustellen, dass die Bestimmung die erste einer ganzen Reihe von Ausnahmeregelungen zu dem in Art. 20 der Richtlinie aufgestellten Grundsatz des Zugangs zu einem Verfahren, das zu einer vollen Entschuldung führen kann, darstellt und daher eng auszulegen ist.

 

28        Wie sich insbesondere aus der tschechischen, dänischen, deutschen, englischen, irischen, französischen, kroatischen, italienischen, lettischen, niederländischen, portugiesischen, rumänischen, slowakischen, slowenischen, finnischen und schwedischen Sprachfassung der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz ergibt, wird in diesen Sprachfassungen in Abs. 1 von Art. 23 der Richtlinie – anders als in dessen Abs. 2, 3 und 4, in denen Ausdrücke verwendet werden, die im Wesentlichen dem französischen Ausdruck „peuvent“ (können) entsprechen („mohou“, „kan“, „können“, „may“, „féadfaidh“, „mogu“, „possono“, „var“, „kunnen“, „podem“, „pot“, „môžu“, „lahko“, „voivat“ bzw. „får“), womit den Mitgliedstaaten ein gewisser Gestaltungsspielraum eingeräumt wird, um bestimmte Ausnahmeregelungen zu dem genannten Grundsatz „bei[zu]behalten oder ein[zu]führen“, längere Entschuldungsfristen „fest[zu]legen“ bzw. „bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung aus[zu]schließen, den Zugang zur Entschuldung [zu] beschränken oder eine längere Entschuldungsfrist fest[zu]legen“ – aber kein solcher Ausdruck verwendet, sondern den Mitgliedstaaten – indem vorgesehen wird, dass sie insbesondere Bestimmungen „bei[behalten] oder [ein]führen“, mit denen der Zugang zur Entschuldung verwehrt oder beschränkt wird oder längere Fristen für eine volle Entschuldung beziehungsweise längere Verbotsfristen vorgesehen werden, wenn der insolvente Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt hat – der Erlass einer solchen Ausnahmeregelung vorgeschrieben. Daran ändert auch nichts, dass in der spanischen Sprachfassung von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie der Ausdruck „podrán“ (können) verwendet wird. Die in einer Sprachfassung einer Handlung verwendete Formulierung kann nämlich nicht als alleinige Grundlage für deren Auslegung herangezogen werden oder insoweit Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Februar 2018, Belgien/Kommission, C‑16/16 P, EU:C:2018:79, Rn. 50 und 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

 

29        Da sich der Unionsgesetzgeber dafür entschieden hat, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, die betreffende Ausnahmeregelung zu dem Grundsatz des Zugangs zu einem Verfahren, das zu einer vollen Entschuldung führen kann, beizubehalten oder einzuführen, und ihnen insoweit nicht lediglich einen Gestaltungsspielraum eingeräumt hat, ist Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz so auszulegen, dass soweit wie möglich vermieden wird, dass Schuldnern, die gegenüber den Gläubigern oder sonstigen Interessenträgern unredlich oder bösgläubig gehandelt haben, eine Entschuldung gewährt wird.

 

30        Die systematische Auslegung von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie bestätigt somit die nach dem Wortlaut vorgenommene (siehe oben, Rn. 24 und 25).

 

31        Was als Drittes das Ziel von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz angeht, ergibt sich aus deren 78. Erwägungsgrund, dass der Unionsgesetzgeber „für den Fall …, dass der Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt hat“, eine Ausnahme vom Zugang zur Entschuldung vorschreiben wollte. Den Kreis der Gläubiger, gegenüber denen der Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt haben muss, hat er in diesem Erwägungsgrund aber nicht weiter eingeschränkt.

 

32        Als Umstände, die bei der Prüfung der Frage, ob ein Unternehmer unredlich war, zu berücksichtigen sind, hat der Unionsgesetzgeber im 79. Erwägungsgrund der Richtlinie angeführt: „Art und Umfang der Schulden, Zeitpunkt des Entstehens der Schuld, Anstrengungen des Unternehmers zur Begleichung der Schulden und zur Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen, unter anderem im Zusammenhang mit öffentlichen Erlaubnissen und dem Erfordernis ordnungsgemäßer Buchführung, Handlungen seitens des Unternehmers zur Vereitelung einer Inanspruchnahme durch Gläubiger, die Erfüllung von Pflichten im Zusammenhang mit einer wahrscheinlichen Insolvenz, die den Unternehmenseignern als Mitgliedern der Geschäftsleitung obliegen, sowie die Einhaltung des Wettbewerbsrechts der Union und des nationalen Wettbewerbsrechts und des Arbeitsrechts der Union und des nationalen Arbeitsrechts“.

 

33        Diese Aufzählung, die mit „wie“ eingeleitet wird und daher nicht abschließend ist, enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kreis der Gläubiger, gegenüber denen der Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt haben muss, in irgendeiner Weise beschränkt wäre oder nicht die Personen umfassen würde, die ursprünglich Gläubiger eines Dritten waren und aufgrund von dessen betrügerischer Insolvenz Gläubiger des Schuldners geworden sind. Im Übrigen decken die angeführten Umstände – insbesondere „Art und Umfang der Schulden“, „Zeitpunkt des Entstehens der Schuld“ und „Handlungen seitens des [Schuldners] zur Vereitelung einer Inanspruchnahme durch Gläubiger“ – eine ganze Bandbreite von Fällen ab und sind so formuliert, dass anzunehmen ist, dass der Unionsgesetzgeber das Verhalten eines Schuldners sowohl gegenüber seinen eigenen Gläubigern als auch gegenüber den Gläubigern eines Dritten wie der Gesellschaft, deren Geschäftsführer der Schuldner war, erfassen wollte.

 

34        Im Hinblick auf das Ziel, das somit mit der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz verfolgt wird, kann deren Art. 23 Abs. 1 daher nicht dahin ausgelegt werden, dass sich eine Person, bei der festgestellt wurde, dass sie für die betrügerische Insolvenz einer Handelsgesellschaft verantwortlich ist, der gegenüber deren Gläubigern nach nationalen Recht bestehenden gesamtschuldnerischen Haftung entziehen könnte, indem sie die Eröffnung eines persönlichen Insolvenzverfahrens beantragt und in dessen Rahmen die volle Entschuldung beantragt.

 

35        Somit ist auf Frage 1 zu antworten, dass Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die einem Schuldner, der gegenüber den Gläubigern eines Dritten unredlich oder bösgläubig gehandelt hat und bei der gerichtlichen Feststellung von dessen betrügerischer Insolvenz als „betroffene Person“ eingestuft worden ist, den Zugang zur Entschuldung verwehrt, nicht entgegensteht.

 

Zu den Fragen 2 und 3

Zur Zulässigkeit von Frage 3

36        Die spanische Regierung macht im Wesentlichen geltend, dass Frage 3 auf der Annahme beruhe, dass die spanischen Behörden und Gerichte nach dem TRLC keine subjektive Beurteilung des Verhaltens einer Person, die einen Antrag auf Entschuldung gestellt habe, vornehmen könnten. Diese Annahme treffe aber nicht zu. Frage 3 sei daher für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erheblich und damit unzulässig.

 

37        Im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten hat allein das mit dem Rechtsstreit befasste nationale Gericht, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 22. Februar 2024, Consejería de Presidencia, Justicia e Interior de la Comunidad de Madrid u. a., C‑59/22, C‑110/22 und C‑159/22, EU:C:2024:149, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

38        Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 22. Februar 2024, Consejería de Presidencia, Justicia e Interior de la Comunidad de Madrid u. a., C‑59/22, C‑110/22 und C‑159/22, EU:C:2024:149, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

39        Im vorliegenden Fall ist zum einen nicht ersichtlich, dass die Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung mit Frage 3 ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünden oder das Problem, das mit dieser Frage aufgeworfen wird, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich wäre.

 

40        Zwar weist die spanische Regierung zu Recht darauf hin, dass das vorlegende Gericht, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, annimmt, dass Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC eine Ausnahmeregelung zum Verfahren der Entschuldung vorsehe, bei der ausschließlich auf objektive Umstände abgestellt werde, so dass die spanischen Gerichte nicht die subjektiven Umstände würdigen könnten, die die Situation des Schuldners, der Zugang zu diesem Verfahren habe, kennzeichneten. Nach ständiger Rechtsprechung ist aber allein das vorlegende Gericht für die Auslegung und Anwendung des einzelstaatlichen Rechts zuständig. Der Gerichtshof hat demnach im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen ihm und den nationalen Gerichten in Bezug auf den rechtlichen Kontext, in den sich die Vorlagefragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen (Urteil vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 51 die dort angeführte Rechtsprechung).

 

41        Zum anderen ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht in der Vorlageentscheidung alle für eine hilfreiche Antwort auf Frage 3 erforderlichen Informationen geliefert hat.

 

42        Frage 3 ist daher zulässig.

 

Beantwortung

43        Es bietet sich an, die Fragen 2 und 3 zusammen zu prüfen. Da sie sich im Zusammenhang mit der Prüfung einer nationalen Ausnahmeregelung stellen, nach der eine allgemeine Regelung unter bestimmten Umständen ausgeschlossen ist, sind sie dahin zu verstehen, dass mit ihnen im Wesentlichen um die Auslegung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz ersucht wird. Danach können die Mitgliedstaaten nämlich unter bestimmten Umständen abweichende Bestimmungen beibehalten oder einführen, mit denen der Zugang zur Entschuldung verwehrt oder beschränkt wird, die Entschuldung widerrufen wird oder längere Fristen für eine volle Entschuldung beziehungsweise längere Verbotsfristen vorgesehen werden. Die Fragen 2 und 3 können sich nicht auf Art. 20 der Richtlinie beziehen, bei dem es sich um eine Bestimmung handelt, in der der Grundsatz aufgestellt wird, dass die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass insolvente Unternehmer Zugang zu einem Verfahren haben, das zu einer vollen Entschuldung gemäß der Richtlinie führen kann.

 

44        Demnach ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit den Fragen 2 und 3 im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie nicht vorgesehene Ausnahmeregelung zum Grundsatz des Zugangs zu einem Verfahren, das zu einer vollen Entschuldung führen kann, vorsieht, die einem Schuldner, der in den zehn Jahren vor Stellung seines Antrags auf Entschuldung in einem Urteil, mit dem die Insolvenz eines Dritten als „betrügerisch“ eingestuft wurde, zu einer „betroffenen Person“ erklärt wurde, den Zugang zu einem solchen Verfahren verwehrt, es sei denn, er hat um Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Entschuldung alle Schulden, für die er haftet, beglichen, ohne dass die nationalen Gerichte in subjektiver Hinsicht zu prüfen haben, ob der Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt hat.

 

45        Was als Erstes die Frage angeht, ob Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Zugang zu einem Entschuldungsverfahren unter anderen Umständen als denen, die in dieser Bestimmung aufgeführt sind, verwehrt, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Aufzählung der dort aufgeführten Umstände nicht abschließend ist und die Mitgliedstaaten über einen Gestaltungsspielraum verfügen, der es ihnen gestattet, Bestimmungen zu erlassen, mit denen unter anderen als den in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie genannten Umständen der Zugang zur Entschuldung verwehrt oder beschränkt wird, die Entschuldung widerrufen wird oder längere Fristen für eine volle Entschuldung bzw. längere Verbotsfristen vorgesehen werden, sofern, wie sich aus dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie ergibt, diese Umstände genau festgelegt und solche Ausnahmeregelungen ausreichend gerechtfertigt sind (Urteil vom 7. November 2024, Corván und Bacigán, C‑289/23 und C‑305/23, EU:C:2024:934, Rn. 28).

 

46        Zu den Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten von der ihnen auf diese Weise eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen können, nämlich, dass die von dem Mitgliedstaat erlassenen Ausnahmeregelungen „bestimmt[e] genau festgelegt[e] Umständ[e]“ bestreffen und „ausreichend gerechtfertigt“ sein müssen, hat der Gerichtshof entschieden, dass sich, wenn der nationale Gesetzgeber Bestimmungen über solche Ausnahmeregelungen erlässt, die Gründe für diese Ausnahmeregelungen aus dem nationalen Recht oder dem Verfahren, das zu diesen Ausnahmeregelungen geführt hat, ergeben müssen und mit diesen Gründen ein legitimes öffentliches Interesse verfolgt werden muss (Urteil vom 7. November 2024, Corván und Bacigán, C‑289/23 und C‑305/23, EU:C:2024:934, Rn. 31 die dort angeführte Rechtsprechung).

 

47        Insoweit ist zum einen festzustellen, dass sowohl der 78. Erwägungsgrund der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz, in dem von Ausnahmeregelungen die Rede ist, „die mit im nationalen Recht festgelegten Gründen ausreichend gerechtfertigt sind“, als auch der 81. Erwägungsgrund der Richtlinie, in dem von einem „im nationalen Recht ausreichend begründete[n]“ Grund die Rede ist, den Schluss zulassen, dass der Unionsgesetzgeber es für ausreichend hielt, dass die dafür in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen vorgesehenen Modalitäten eingehalten werden (Urteil vom 7. November 2024, Corván und Bacigán, C‑289/23 und C‑305/23, EU:C:2024:934, Rn. 32).

 

48        Zum anderen hat der Gerichtshof in einer Rechtssache, in der es um eine ähnliche Bestimmung wie hier, nämlich Art. 487 Abs. 1 Nr. 2 TRLC, ging, entschieden, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz einer nationalen Regelung, die den Zugang zur Entschuldung unter genau festgelegten Umständen – wie dem Umstand, dass gegen den Schuldner in den letzten zehn Jahren vor dem Antrag auf Entschuldung durch eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung wegen eines sehr schweren Verstoßes in Steuersachen oder eines Verstoßes gegen die Sozialversicherung oder die gesellschaftliche Ordnung eine Sanktion verhängt wurde oder dass gegen ihn eine bestandskräftige Entscheidung über die Ausweitung der Haftung ergangen ist, es sei denn, er hat zum Zeitpunkt der Stellung dieses Antrags seine Steuerschulden und sein Schulden gegenüber der Sozialversicherung vollständig beglichen – verwehrt, nicht entgegensteht, sofern sich aus dem nationalen Recht ergibt, dass die Verwehrung des Zugangs zur Entschuldung durch die Verfolgung eines legitimen öffentlichen Interesses gerechtfertigt ist, was zu beurteilen Sache des vorlegenden Gerichts ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2024, Corván und Bacigán, C‑289/23 und C‑305/23, EU:C:2024:934, Rn. 47).

 

49        Dasselbe muss für eine nationale Bestimmung wie Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC gelten, wonach ein Schuldner, der in den zehn Jahren vor Stellung seines Antrags auf Entschuldung in einem Urteil, mit dem die Insolvenz eines Dritten als „betrügerisch“ eingestuft wurde, zu einer „betroffenen Person“ erklärt wurde, eine Entschuldung nur dann erlangen kann, wenn er zu dem Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Entschuldung alle Schulden, für die er haftet, beglichen hat.

 

50        Im vorliegenden Fall hat der spanische Gesetzgeber in der Präambel des Gesetzes 16/2022, das der Umsetzung der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz in das spanisches Recht dient, dargelegt, warum er Ausnahmen von der Entschuldung vorgesehen hat (siehe oben, Rn. 7). Dort heißt es zum einen, dass „[d]er gute Glaube des Schuldners … der Eckpfeiler der Entschuldung [bleibt]“ und dass „… der gute Glaube normativ über bestimmte objektive Verhaltensweisen, die abschließend aufgezählt werden (Enumerationsprinzip), abgegrenzt [wird], ohne dass auf Tatbestände zurückgegriffen wird, die unbestimmt oder nicht hinreichend spezifisch sind oder deren Nachweis dem Schuldner eine unmögliche Belastung auferlegt“.

 

51        Zum anderen geht aus der Präambel des Gesetzes 16/2022 hervor, dass der spanische Gesetzgeber es für notwendig erachtet hat, von dem Grundsatz, dass ein Schuldner, der gutgläubig ist, Zugang zu einer vollen Entschuldung haben kann, Ausnahmen vorzusehen, und zwar für Schulden, bei denen „aufgrund ihrer besonderen Art ausnahmsweise davon ausgegangen wird, dass sie keiner rechtmäßigen Entschuldung zugänglich sind“. Gerechtfertigt werden diese Ausnahmen insbesondere mit „d[er] besondere[n] Bedeutung der Begleichung [solcher] Schulden für eine gerechte und solidarische sowie auf Rechtsstaatlichkeit beruhende Gesellschaft“ oder mit „Synergien oder negative[n] externe[n] Effekte[n] …, die sich aus dem Erlass bestimmter Arten von Schulden ergeben könnten“.

 

52        Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob solche Gründe legitime Gründe des öffentlichen Interesses darstellen und ob sich aus den nationalen Rechtsvorschriften ergibt, dass sie die Verwehrung einer Entschuldung unter genau festgelegten Umständen, wie denen, die in Art. 487 Abs. 1 Nr. 4 TRLC definiert sind, gerechtfertigt haben.

 

53        Was als Zweites die Frage angeht, ob Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Zugang zur Entschuldung unter genau festgelegten Umständen verwehrt, ohne dass die nationalen Gerichte in subjektiver Hinsicht zu prüfen haben, ob der betreffende Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt hat, ist festzustellen, dass in Art. 23 der Richtlinie in Abs. 1 ausdrücklich von insolventen Unternehmer die Rede ist, die „unredlich oder bösgläubig“ gehandelt haben, nicht aber in Abs. 2 dieses Artikels. Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz beschränkt sich nämlich auf die Regelung, dass die Mitgliedstaaten Bestimmungen beibehalten oder einführen können, mit denen „unter bestimmten genau festgelegten Umständen“ der Zugang zur Entschuldung verwehrt oder beschränkt wird, die Entschuldung widerrufen wird oder längere Fristen für eine volle Entschuldung bzw. längere Verbotsfristen vorgesehen werden, „wenn solche Ausnahmeregelungen ausreichend gerechtfertigt sind“, und setzt nicht voraus, dass ein „unredliches“ oder „bösgläubiges“ Verhalten der betreffenden Unternehmer vorliegt (Urteil vom 7. November 2024, Corván und Bacigán, C‑289/23 und C‑305/23, EU:C:2024:934, Rn. 41).

 

54        Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, sind die in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz zur Veranschaulichung aufgezählten Umstände, unter denen Ausnahmeregelungen von der Entschuldung eingeführt werden können, nicht durch ein „unredliches“ oder „bösgläubiges“ Verhalten der betreffenden Unternehmer gekennzeichnet und entsprechen diese Umstände im Wesentlichen den in den Erwägungsgründen 79 und 80 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz genannten Umständen, aus denen auch nicht hervorgeht, dass der Unionsgesetzgeber die „genau festgelegten Umstände“ im Sinne von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie auf Fälle beschränken wollte, in denen die betreffenden Unternehmer „unredlich oder bösgläubig“ gehandelt haben (Urteil vom 7. November 2024, Corván und Bacigán, C‑289/23 und C‑305/23, EU:C:2024:934, Rn. 42 und 43).

 

55        Da Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs einer nationalen Regelung, die den Zugang zur Entschuldung unter genau festgelegten Umständen, bei denen der Schuldner nicht unredlich oder bösgläubig gehandelt hat, verwehrt, nicht entgegensteht (vgl. in diesem Sinne 7. November 2024, Corván und Bacigán, C‑289/23 und C‑305/23, EU:C:2024:934, Rn. 44), ist davon auszugehen, dass diese Bestimmung auch einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Zugang zur Entschuldung unter solchen Umständen verwehrt, ohne dass die nationalen Gerichte in subjektiver Hinsicht zu prüfen haben, ob der betreffende Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt hat.

 

56        Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz ist somit dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten nationale Bestimmungen vorsehen können, die den Zugang zum Verfahren der Entschuldung in Fällen verwehren, die nicht durch ein unredliches oder bösgläubiges Handeln des betreffenden Schuldners gekennzeichnet sind, ohne dass die nationalen Gerichte in subjektiver Hinsicht zu prüfen haben, ob der Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt hat.

 

57        Der Unionsgesetzgeber hat diese Möglichkeit aber ausdrücklich an die Voraussetzung geknüpft, dass die Ausnahmeregelungen gemäß Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz „bestimmt[e] genau festgelegt[e] Umständ[e]“ betreffen und „ausreichend gerechtfertigt“ sind. Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 46), müssen sich die Gründe für solche Ausnahmeregelungen, die der nationale Gesetzgeber erlässt, daher aus dem nationalen Recht oder dem Verfahren, das zu den Ausnahmeregelungen geführt hat, ergeben, und mit ihnen muss ein legitimes öffentliches Interesse verfolgt werden. Das nationale Recht muss es daher ermöglichen, den berechtigten Grund des öffentlichen Interesses zu ermitteln, der unter diesen genau festgelegten Umständen die Verwehrung des Zugangs zur Entschuldung rechtfertigt.

 

58        Demnach steht Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz einer nationalen Regelung, die den Zugang zur Entschuldung unter genau festgelegten Umständen – wie dem Umstand, dass gegen den Schuldner in den letzten zehn Jahren vor Stellung des Antrag auf Entschuldung eine bestandskräftige Entscheidung über die Ausweitung der Haftung ergangen ist, es sei denn, der Schuldner hat seine Steuerschulden und sein Schulden gegenüber der Sozialversicherung zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Entschuldung vollständig beglichen – verwehrt, nicht entgegen, sofern sich aus dem nationalen Recht ergibt, dass die Verwehrung des Zugangs zur Entschuldung durch die Verfolgung eines legitimen öffentlichen Interesses gerechtfertigt ist, was zu beurteilen ist Sache des vorlegenden Gerichts ist (Urteil vom 7. November 2024, Corván und Bacigán, C‑289/23 und C‑305/23, EU:C:2024:934, Rn. 47).

 

59        Nach alledem ist auf die Fragen 2 und 3 zu antworten, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die eine in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie nicht vorgesehene Ausnahmeregelung zum Grundsatz des Zugangs zu einem Verfahren, das zu einer vollen Entschuldung führen kann, vorsieht, die einem Schuldner, der in den zehn Jahren vor Stellung seines Antrags auf Entschuldung in einem Urteil, mit dem die Insolvenz eines Dritten als „betrügerisch“ eingestuft wurde, zu einer „betroffenen Person“ erklärt wurde, den Zugang zu einem solchen Verfahren verwehrt, es sei denn, er hat zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Entschuldung alle Schulden, für die er haftet, beglichen, ohne dass die nationalen Gerichte in subjektiver Hinsicht zu prüfen haben, ob der Schuldner unredlich oder bösgläubig gehandelt hat, nicht entgegensteht, sofern die Verwehrung des Zugangs zur Entschuldung nach nationalem Recht ausreichend gerechtfertigt ist.

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