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Wirtschaftsrecht
18.05.2022
Wirtschaftsrecht
VG Gelsenkirchen: Elektronisches Anwaltspostfach – Risiko des Zugangs eines Schriftsatzes trägt generell der Absender

VG Gelsenkirchen, Urteil vom 7.12.2021 – 18 K 3240/20

ECLI:DE:VGGE:2021:1207.18K3240.20.00

Volltext: BB-Online BBL2022-1154-3

unter www.betriebs-berater.de

Amtliche Leitsätze

1. Zwar ist im Verwaltungsverfahren eine Klagebegründung nicht zwingend erforderlich, so dass ihr Fehlen allein noch keinen Anlass für eine Betreibensaufforderung bietet. Etwas anderes gilt jedoch, wenn der Kläger selbst eine Klagebegründung ankündigt und das Gericht daraufhin eine Frist zur Klagebegründung setzt.

2. Bei der Frist des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 VwGO grundsätzlich ausgeschlossen. Dies gilt allerdings entsprechend des Rechtsgedankens der § 58 Abs. 2, § 60 Abs. 3 VwGO nicht für Fälle, in denen die Betreibensfrist aufgrund höherer Gewalt versäumt wurde.

3. Ein Fall höherer Gewalt liegt vor, wenn ein Ereignis eintritt, das unter den gegebenen Umständen auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falls vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe – also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung – zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Bei der Konkretisierung der größten vernünftigerweise zu erwartenden Sorgfalt ist die Bedeutung der Fristwahrung für den Betroffenen in Rechnung zu stellen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Sorgfaltsanforderungen umso höher sind, je weiter eine Frist ausgenutzt wird.

4. Bei der Nutzung der elektronischen Versendung von Schriftsätzen gemäß § 55a VwGO trägt das Risiko des Zugangs grundsätzlich der Absender. Dabei hat dieser auch den Zeitbedarf zwischen der Absendung des elektronischen Dokuments und der Aufzeichnung auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung zu bedenken.

5. Ein Absender von Schriftsätzen über das besondere elektronische Anwaltspostfach handelt nur dann nach der größten vernünftigerweise von ihm zu erwartenden Sorgfalt, wenn er einen ausreichend großen zeitlichen Sicherheitszuschlag bis zum Fristablauf sicherstellt. Dieser Sicherheitszuschlag muss so bemessen sein, dass er möglichen Störungen des Übertragungsweges Rechnung trägt und ggf. auch Wiederholungen des Übertragungsversuches ermöglicht (hier: Verneinung der von einem Rechtsanwalt zu erwartenden und zumutbaren Sorgfalt in einem Fall, in dem dieser den zur Fristwahrung erforderlichen Schriftsatz per besonderem elektronischen Anwaltspostfach lediglich eine Minute und 10 Sekunden vor Ablauf der Ausschlussfrist des § 92 Abs. 2 VwGO versendet).

Sachverhalt

Die Klägerin ist seit dem 5. Mai 2014 staatlich geprüfte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Im Rahmen ihrer Ausbildung schloss sie einen erziehungswissenschaftlichen, jedoch kein psychologischen Studiengang ab. Seit dem 30. Mai 2014 ist die Klägerin in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres tätig.

Am 5. November 2019 stellte die Klägerin bei der Bezirksregierung           einen Antrag auf Erteilung der Approbation als psychologische Psychotherapeutin. Sie berief sich in ihrem Antrag auf § 2 Abs. 1 und Abs. 2 des PsychThG in der damals geltenden Fassung und führte aus, dass ihr vor dem Hintergrund des Allgemeinen Gleichheitssatzes als Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland ebenso ein Recht auf die inhaltliche Überprüfung ihrer beruflichen Qualifikation zustehe, wie Bürgern aus dem (EU-)Ausland.

Nach Übergang der internen Zuständigkeit lehnte die Bezirksregierung N.       den Antrag der Klägerin durch Bescheid vom 20. Juli 2020, zugestellt am 23. Juli 2020, ab. Zur Begründung führte die Bezirksregierung aus, dass weder der von der Klägerin nachgewiesene Abschluss im Studiengang Erziehungswissenschaften noch die daran angeschlossene Ausbildung zur Kinder und Jugendlichenpsychotherapeutin die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 PsychThG erfüllten. Der Weg zu einer Gleichwertigkeitsprüfung nach § 2 Abs. 2 PsychThG sei nicht eröffnet, weil die Klägerin über keinen der in § 2 Abs. 2 PsychThG genannten Abschlüsse verfüge.

Die Klägerin hat am 21. August 2020 Klage erhoben. In der Klageschrift hat sie Akteneinsicht beantragt und eine ausführliche Begründung mit gesondertem Schriftsatz nach erfolgter Akteneinsicht angekündigt. Mit Verfügung vom 24. August 2020 hat der Vorsitzende der erkennenden Kammer eine Frist zur Klagebegründung von vier Wochen nach Akteneinsicht gesetzt. Am 5. November 2020 ist der Klägerin durch Übersendung des Verwaltungsvorgangs Akteneinsicht gewährt worden. Unter dem 8. November 2020, bei Gericht eingegangen am 12. November 2020, hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Verwaltungsakte nach vollzogener Einsichtnahme zurück gereicht. Mit Verfügungen vom 16. Dezember 2020 sowie 28. Januar 2021 wurde der Prozessbevollmächtigte der Klägerin jeweils fruchtlos an die in der Klageschrift angekündigte Einreichung einer Klagebegründung erinnert. Mit Verfügung vom 29. März 2021, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellt am selben Tag, forderte der Berichterstatter der erkennenden Kammer den Prozessbevollmächtigten der Klägerin auf, das Verfahren durch Einreichung einer Klagebegründung zu betreiben; auf die Einstellungsfiktion im Falle des Nichtbetreibens gemäß § 92 Abs. 2 VwGO wurde hingewiesen. Eine Klagebegründung ging schließlich ausweislich des technischen Prüfvermerks am 1. Juni 2021 um 00:00:02 Uhr ein. Mit Verfügung vom 1. Juni 2021 wies das Gericht die Klägerin darauf hin, dass diese Klagebegründung verfristet eingegangen und die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO eingetreten sein dürfte.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass es sich bei dem verspäteten Zugang um einen Fall höherer Gewalt handele: Es sei zu einer völlig atypischen langen Verarbeitungszeit des beA-Systems gekommen, mit dem der Prozessbevollmächtigte nicht habe rechnen müssen. Er habe sich im beA-System bereits um 23:55 Uhr eingeloggt und so sichergestellt, dass das System erreichbar sei und keine technische Störung vorliege. Die PDF-Datei der Klagebegründung sei in der Eingabemaske des beA-Systems um 23:58:25 Uhr fertiggestellt worden. Der eigentliche Sendevorgang sei spätestens um 23:58:50 oder 23:59:00 Uhr durch betätigen des „Senden“-Buttons ausgelöst worden. Der Übersendungsvorgang der 518 KB großen Datei habe sodann über 60 Sekunden gedauert. Nach der bisherigen Erfahrung des Prozessbevollmächtigten dauere dieser Übertragungsvorgang mit der von ihm verwendeten Hard- und Software sowie seines Internetanschlusses höchstens 10 Sekunden. Sowohl ein Anwendungs- als auch ein technischer Fehler seiner Hard- und Software seien für den fraglichen Übertragungsvorgang auszuschließen. In der Überschreitung der üblichen Übertragungsdauer um das wenigstens Fünffache sei nicht mehr eine normale Verzögerung zu sehen, die einzukalkulieren sei, sondern ein unabwendbarer Zufall. Dabei sei auf den subjektiven Erfahrungsschatz des Prozessbevollmächtigten abzustellen. Ein erheblicher Unterschied zum Versand beispielsweise mit der Post liege vorliegend darin, dass das beA-System in der Regel zu einem Zeitpunkt verwendet würde, an dem andere Übermittlungswege wie Post oder Fax nicht mehr gangbar seien. Im vorliegenden Fall habe nämlich der Anwender keine Möglichkeit, einer Beeinträchtigung vorzubeugen oder bei Feststellung einer Störung noch fristwahrend auf das System einzuwirken. Dem habe auch der Gesetzgeber mit dem § 55d VwGO Rechnung getragen, dessen Rechtsgedanke bereits vor seinem an die aktive Nutzungspflicht gekoppelten Inkrafttreten anwendbar sei und es erlaube, bei technischen Störungen Schriftsätze auch nach Ablauf einer Frist noch einzureichen. Der in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelte Sicherheitszuschlag von 20 Minuten bei dem Versand von Schriftsätzen per Fax diene dazu, es dem Versender zu ermöglichen, rechtzeitig vor Ablauf einer Frist eine Fehlermeldung zu erhalten, wenn der Sendevorgang scheitere. Die Frist stelle dann sicher, dass er rechtzeitig einen erneuten Sendevorgang einleiten könne. Vor dem Hintergrund dieses Zwecks sei es ausreichend gewesen, sich 5 Minuten vor Ablauf der Frist einzuloggen.

In materiell-rechtlicher Hinsicht habe sie einen Anspruch auf Erteilung einer Approbation als psychologische Psychotherapeutin, hilfsweise darauf, dass der Beklagte eine Prüfung vornimmt, ob ihre Qualifikation gemäß den unter § 2 Abs. 2 PsyhThG formulierten Vorgaben unter dem Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit die Erteilung der begehrten Approbation rechtfertige.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

das Verfahren fortzusetzen und

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides der Bezirksregierung Münster N.       vom 20. Juli 2020 zu verpflichten, ihr die Approbation als psychologische Psychotherapeutin zu erteilen,

hilfsweise,

ihre Qualifikation einer Gleichwertigkeitsprüfung nach § 2 Abs. 2 PsychThG zu unterziehen,

weiter hilfsweise, über ihren Antrag vom 5. November 2019 unter Beachtung der Rechtsaufassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Er hat sich zur Klage nicht geäußert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Aus den Gründen

Es ist vorliegend durch Urteil zu entscheiden, ob die Klage als zurückgenommen gilt, da die Klägerin die Wirksamkeit der Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bestreitet.

Vgl. Peters/Axer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 92, Rn. 88.

Die Entscheidung ergeht gemäß § 87a Abs. 2 und 3, § 101 Abs. 2 VwGO durch den Berichterstatter und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung, nachdem sich die Klägerin mit Schriftsatz vom 16. August 2021 und der Beklagte mit Schriftsatz vom 26. August 2021 hiermit einverstanden erklärt haben.

Die Klage hat keinen Erfolg.

Diese gilt als zurückgenommen. Die gesetzliche Fiktion des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist eingetreten (dazu I.), und der Klägerin ist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und das Verfahren aufgrund dessen nicht fortzuführen (dazu II.).

I. Die Voraussetzungen von § 92 Abs. 2 VwGO sind vorliegend erfüllt. Nach dieser Norm gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt.

1. Es lag der für den Erlass einer Betreibensaufforderung gemäß § 92 Abs. 2 VwGO erforderliche Anlass vor. Ein solcher muss mit Blick auf den mit der Wirkung des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO verbundenen Eingriff in das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör gemäß Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes über den Wortlaut der Norm des § 92 Abs. 2 VwGO hinaus gegeben sein.

Vgl. BVerfG, stattgebende Kammerbeschlüsse vom 19. Mai 1993 – 2 BvR 1972/92 –, juris, Rn. 14; und vom 17. September 2012 – 1 BvR 2254/11 –, juris, Rn. 27 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 27. März 2019 – 6 A 155/18 –, juris, Rn. 7 ff.

Ein solcher Anlass lag hier in Form der fehlenden Einreichung einer Klagebegründung vor. Zwar ist im Verwaltungsverfahren eine Klagebegründung nicht zwingend erforderlich, so dass ihr Fehlen allein noch keinen Anlass für eine Betreibensaufforderung bietet. Etwas anderes gilt jedoch, wenn die Klägerin – wie hier geschehen – selbst eine Klagebegründung ankündigt und das Gericht daraufhin eine Frist zur Klagebegründung setzt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Januar 1987 – 9 C 259.86 –, juris, Rn. 10 f.; sowie Urteil vom 15. Januar 1991 – 9 C 96.89 –, juris, Rn. 11.

Die gerichtliche Frist zur Klagebegründung begann mit Abschluss der dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin gewährten Einsichtnahme in die Verwaltungsvorgänge des Beklagten am 12. November 2020 und endete am 10. Dezember 2020. Das Gericht hat die Klägerin im Anschluss zweimal – am 16. Dezember 2020 und am 21. Januar 2021 – an die fehlende Klagebegründung erinnert. Trotzdem reichte die Klägerin bis zum Tag der Betreibensaufforderung am 29. März 2021 keine Klagebegründung ein.

2. Die Betreibensaufforderung erfolgte auch formgerecht. Sie wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin förmlich zugestellt und enthielt eine Belehrung sowohl über die Folge des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO als auch des § 155 Abs. 2 VwGO.

3. Die Klägerin hat das Verfahren schließlich innerhalb der nächsten zwei Monate nach Zugang der Betreibensaufforderung nicht betrieben. Die Zwei-Monats-Frist nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO endete gemäß § 57 VwGO, § 222 Abs. 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO), § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs – da der 29. Mai 2021 ein Sonnabend war – mit Ablauf des Montags, dem 31. Mai 2021. Eine Klagebegründung der Klägerin in elektronischer Form ging ausweislich des Prüfvermerks auf dem insoweit maßgeblichen Eingangsserver des Gerichts jedoch erst am 1. Juni 2021 um 00:00:02 Uhr und damit nach Ablauf der zweimonatigen Frist des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ein.

4. Eine Verlängerung der Frist des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO kam hier nicht in Betracht, da es sich bei dieser Zwei-Monats-Frist um eine solche handelt, die den sogenannten uneigentlichen gesetzlichen Fristen zuzurechnen ist, also denjenigen Zeitspannen, deren Ende einen äußersten Zeitpunkt festlegt, nach dem auch bei fehlendem Verschulden eine Beteiligtenhandlung endgültig nicht mehr oder nur noch unter ganz besonderen Voraussetzungen vorgenommen werden kann.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 23. April 1985 – 9 C 7.85 –, juris, Rn. 15 (zu § 33 AsylVfG der damaligen Fassung), und vom 25. März 1999 – 3 B 147.98 –, juris, Rn. 7.

II. Das Verfahren ist trotz des konkludent von der Klägerin mit Schriftsatz vom 16. Juni 2021 gestellten Antrags auch nicht fortzusetzen. Ihr ist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

1. Dabei ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 VwGO bei der Frist des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO bereits grundsätzlich ausgeschlossen. § 92 Abs. 2 VwGO bezweckt, solche verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten, die wegen entstandener Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses fragwürdig geworden sind, in beschleunigender Weise einem endgültigen Abschluss zuzuführen. Dieser Zweck kann in dem beabsichtigten Umfang nur erreicht werden, wenn die einmal eingetretene Fiktion der Verfahrenserledigung grundsätzlich unabänderlich ist und nachträglich nicht mehr mit Erfolg in Frage gestellt werden kann. Dies gebietet es, die Zwei-Monats-Frist des § 92 Abs. 2 VwGO als strenge gesetzliche Frist in dem Sinne aufzufassen, dass nach ihrem Ablauf eine Ausräumung der aufgetretenen Rechtsschutzzweifel ohne die bei Versäumung gesetzlicher Fristen in der Regel gegebene Möglichkeit einer Wiedereinsetzung wegen fehlenden Verschuldens ausgeschlossen sein soll. Der Anspruch des Klägers auf effektiven Rechtsschutz kann demgegenüber keinen Vorrang beanspruchen. Er muss auf die bestehenden Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses, die Voraussetzung für den Erlass einer Aufforderung zum Betreiben des Verfahrens sind, förmlich hingewiesen und es muss ihm Gelegenheit gegeben werden, die aufgetretenen Zweifel zu zerstreuen. Hierzu gewährt ihm das Gesetz eine beträchtliche Frist, die etwa über die Anfechtungs- und Rechtsmittelfristen der Verwaltungsgerichtsordnung erheblich hinausgeht.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. April 1985 – 9 C 7.85 –, juris, Rn. 14 (zu § 33 AsylVfG der damaligen Fassung); Clausing, in: Schoch/Schneider, VwGO, Loseblatt, Stand: 41. Ergänzungslieferung Juli 2021, § 92 Rn. 57.

2. Dies gilt allerdings entsprechend des Rechtsgedankens der §§ 58 Abs. 2, § 60 Abs. 3 VwGO nicht für Fälle, in denen die Betreibensfrist aufgrund höherer Gewalt versäumt wurde. Anders als die Zivilprozessordnung, die eine Wiedereinsetzung in uneigentliche gesetzliche Fristen völlig ausschließt (vgl. z.B. § 234 Abs. 3 ZPO), lässt die Verwaltungsgerichtsordnung bei Versäumung der von ihr geregelten uneigentlichen Fristen (vgl. §§ 58 Abs. 2, 60 Abs. 3 VwGO) eine Wiedereinsetzung im Falle höherer Gewalt zu. Das muss im Wege der Rechtsanalogie auch für die Zwei-Monats-Frist des § 92 Abs. 2 VwGO gelten. Dieser Vorschrift kann nicht entnommen werden, dass insoweit von den Grundsätzen der Verwaltungsgerichtsordnung abgewichen werden sollte.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. April 1985 – 9 C 7.85 –, juris, Rn. 15 (zu § 33 AsylVfG der damaligen Fassung), und Urteil vom 10. Dezember 2013 – 8 C 25.12 –, juris, Rn. 29 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 27. März 2019 – 6 A 155/18 –, juris, Rn. 21.

Ein Fall höherer Gewalt liegt vor, wenn ein Ereignis eintritt, das unter den gegebenen Umständen auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falls vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe – also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung – zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte.

Vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 16. Oktober 2007 – 2 BvR 51/05 –, juris, Rn. 11; BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 7.85 –, juris, Rn. 16 m.w.N.

Bei der Konkretisierung der größten vernünftigerweise zu erwartenden Sorgfalt ist die Bedeutung der Fristwahrung für den Betroffenen in Rechnung zu stellen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Sorgfaltsanforderungen umso höher sind, je weiter eine Frist ausgenutzt wird.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2013 – 8 C 25.12 –, juris, Rn. 31 m.w.N.

3. Dies zugrunde gelegt ist der Klägerin keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil die Voraussetzungen für die Annahme höherer Gewalt vorliegend nicht erfüllt waren.

Nach den oben dargestellten Maßgaben galten für die Klägerin und ihren Prozessbevollmächtigten hier hohe Sorgfaltsanforderungen, weil die rechtzeitige Einreichung einer Klagebegründung als die von der Klägerin im Rahmen der Betreibensaufforderung geforderte Verfahrenshandlung für sie erhebliche Bedeutung hatte. Bei Versäumung der Ausschlussfrist galt die auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung der von der Klägerin begehrten Approbation als psychologische Psychotherapeutin gerichtete Klage gemäß der Regelung des § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen. Schon deshalb war von ihr und dem von ihr mandatierten Prozessbevollmächtigten bei größter Sorgfalt zu erwarten, alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um die fristgerechte Einreichung einer Klagebegründung sicherzustellen. Wegen der Bedeutung der Fristwahrung und wegen des gesetzlichen Ausschlusses einer Wiedereinsetzung unter den Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 VwGO waren bei Anwendung größter Sorgfalt Vorkehrungen dagegen zu erwarten, dass Hindernisse, mit denen nach Lage der Dinge zu rechnen waren, die Fristwahrung vereitelten.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2013 – 8 C 25.12 –, juris, Rn. 31 m.w.N.

Dem ist das Verhalten des Prozessbevollmächtigten der Klägerin, dessen Verhalten sie sich gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss, nicht gerecht geworden. Denn wenn dieser den zur Fristwahrung erforderlichen Schriftsatz per besonderem Anwaltspostfach lediglich eine Minute und 10 Sekunden vor Ablauf der Frist – so sein eigenes anwaltlich versichertes Vorbringen – versendet, wahrt er nicht mehr die von ihm zu erwartende und zumutbare Sorgfalt.

a) Bei der Nutzung der elektronischen Versendung von Schriftsätzen gemäß § 55a VwGO trägt das Risiko des Zugangs grundsätzlich der Absender. Dabei hat der Absender auch den Zeitbedarf zwischen der Absendung des elektronischen Dokuments und der Aufzeichnung auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung zu bedenken. Auch wenn Fristen grundsätzlich voll ausgeschöpft werden dürfen, sind übliche Verzögerungen einzukalkulieren.

Vgl. Braun Binder, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 55a, Rn. 94 m.w.N.

Demgemäß handelt ein Absender – wie vorliegend der Prozessbevollmächtigte der Klägerin – nur dann nach der größten vernünftigerweise von ihm zu erwartenden Sorgfalt, wenn er einen ausreichend großen zeitlichen Sicherheitszuschlag bis zum Fristablauf sicherstellt. Dieser Sicherheitszuschlag muss so bemessen sein, dass er möglichen Störungen des Übertragungsweges Rechnung trägt und ggf. auch Wiederholungen des Übertragungsversuches ermöglicht.

b) Anders als es der Prozessbevollmächtigte der Klägerin meint, kommt es nicht darauf an, ob die Übertragungsstörung nach seinem eigenen subjektiven Erfahrungsschatz für ihn vorhersehbar war. Maßgeblich ist stattdessen vielmehr, ob er die Fristversäumung verhindert hätte, wenn er die von ihm zu erwartende und ihm zumutbare Sorgfalt an den Tag gelegt hätte. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts: Dieses stellt nicht darauf ab, ob die konkrete Verzögerung für den Betroffenen vorhersehbar war, sondern darauf, ob Verzögerungen generell auszuschließen waren.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2013 – 8 C 25.12 –, juris, Rn. 31.

Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der Begriff der höheren Gewalt enger ist als der Begriff des Verschuldens. Denn § 60 Abs. 3 VwGO fragt – in Abgrenzung zu § 60 Abs. 1 VwGO – gerade nicht nach dem Verschulden des Betroffenen. Dementsprechend lässt sich auch die von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin angeführte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die zur Frage des Verschuldens beim Faxversand ergangen ist, nicht auf den vorliegenden Fall übertragen.

Die Sorgfaltspflichtverletzung lag hier darin, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Übertragungsvorgang zu spät initiiert hat. Dementsprechend gehen dessen Ausführungen fehl, soweit er darauf abzielt, dass es seinerseits weder zu technischen noch zu Anwendungsfehlern gekommen sei und dass für ihn die Verzögerung des Übertragungsvorgangs erst mit dessen Abschluss erkennbar gewesen sei.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte die Fristüberschreitung verhindern können, wenn er einen größeren zeitlichen Sicherheitszuschlag eingeplant hätte. Ein solcher war von ihm – entsprechend seiner Lage, Bildung und Erfahrung – zu erwarten und ihm zumutbar. Denn eine Verzögerung elektronischer Datenübertragungen ist kein so ungewöhnliches Ereignis, dass nicht damit gerechnet werden muss. Auch bei einer in aller Regel reibungslos funktionierenden Übertragung über das Internet, die gewöhnlich nur wenige Sekunden in Anspruch nimmt, kann es zu Störungen kommen, die außerhalb der Sphäre des Gerichts liegen. Eine Datenübertragung über das Internet verläuft in aller Regel nicht linear nur über das Netz eines Zugangsanbieters, sondern sucht für die in Pakete aufgeteilte Datei automatisiert einen Übertragungsweg über unterschiedlichste Netze und Server in aller Welt. Es liegt auf der Hand, dass es in seltenen Einzelfällen zu einer – im Vergleich zu anderen Zustellungswegen – kurzen Verzögerung der Datenübertragung an einem der verschiedenen Knotenpunkte kommen kann. Insbesondere sind auch kurzfristige Engpässe beim Internetzugangsanbieter des Senders möglich. Dies sollte jedenfalls einem – nach seinen eigenen Ausführungen – erfahrenen Internetnutzer wie dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin bekannt sein. Dass bei diesem nach seinem Vorbringen eine derartig verzögerte Übertragung noch nicht vorgekommen sei, sondern die Übertragung nach seiner Erfahrung höchstens 10 Sekunden dauere, verändert den Sorgfaltsmaßstab nicht. Denn nur weil Verzögerungen in der Regel nicht auftreten, sind sie doch nicht ausgeschlossen oder völlig unvorhersehbar. Dies gilt ebenfalls für die Dauer der Verzögerung: Selbst wenn es hier, wie der Prozessbevollmächtigte der Klägerin geltend macht, zu einer Überschreitung der üblichen Dauer um das fünf- bis achtfache gekommen sein mag, bewegt sich dies angesichts dessen, dass die Verzögerung maximal etwa eine Minute betragen hätte, noch in einem Rahmen, dem mit der zu erwartenden und zumutbaren Sorgfalt hätte begegnet werden können. Gerade wenn es um eine Betreibensfrist mit ihren einschneidenden Folgen geht, hätte es der Prozessbevollmächtigte der Klägerin sicherstellen müssen, dass selbst selten auftretende und – wie hier – nicht übermäßig lange Verzögerungen nicht zur Fristüberschreitung führen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2013 – 8 C 25.12 –, juris, Rn. 31.

c) Soweit der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vorträgt, die elektronische Übertragung per besonderem Anwaltspostfach werde typischerweise zu einem Zeitpunkt initialisiert, in dem der Wechsel auf einen anderen Übertragungsweg nicht mehr möglich sei, verringert dies ebenfalls nicht den anzulegenden Sorgfaltsmaßstab. Vielmehr führt dieser Umstand zu einer Steigerung der Anforderungen: Wenn der Prozessbevollmächtigte der Klägerin weiß, dass er im Falle einer Verzögerung der Übertragung nicht mehr auf Alternativen ausweichen kann, obliegt es ihm erst Recht, einen ausreichenden zeitlichen Sicherheitszuschlag einzuplanen, um einen rechtzeitigen Eingang des Schriftsatzes sicherzustellen.

d) An diesem Ergebnis vermag auch – anders als der Prozessbevollmächtigte der Klägerin meint – der Rechtsgedanke des künftigen § 55d Satz 3 und Satz 4 VwGO nichts zu ändern. § 55d VwGO tritt am 1. Januar 2022 in Kraft. Dessen Satz 3 und Satz 4 besagen, dass in dem Fall, in dem eine Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist, eine Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig ist. Die vorübergehende Unmöglichkeit wird dann bei der Ersatzeinreichung oder unmittelbar danach glaubhaft zu machen sein. Diese Regelungen flankieren die Pflicht des § 55d Satz 1 VwGO zur Übermittlung von Schriftsätzen als elektronisches Dokument. Unabhängig davon, dass diese Norm im vorliegenden Fall in zeitlicher Hinsicht noch gar keine Anwendung findet, lässt sich aus ihr auch nicht der allgemeine Rechtsgedanke herleiten, dass im Falle des Scheiterns einer elektronischen Zustellung Schriftsätze noch nach Fristablauf auf dem herkömmlichen Weg eingereicht werden können. Die Regelungen des Satz 3 und Satz 4 stellen vielmehr eine Ausnahme zu der Pflicht des Satz 1 dar. Wenn der Gesetzgeber die Beteiligten am Verfahren verpflichtet, Schriftsätze elektronisch einzureichen, muss er auch eine Möglichkeit zur Ersatzeinreichung vorsehen, wenn die elektronische Übertragung technisch ausnahmsweise nicht möglich ist. Sonst könnte es zur Benachteiligung von Verfahrensbeteiligten kommen. Im vorliegenden Fall bestand jedoch gerade keine Pflicht zur elektronischen Einreichung und mithin kein Bedürfnis für eine derartige Ausnahmeregelung.

Darüber hinaus ermöglichen § 55d Satz 3 und Satz 4 VwGO nicht die fristwahrende Einreichung von Schriftsätzen nach Ablauf einer Frist. Der Wortlaut der Norm enthält keine entsprechende Regelung.

Anders als der Prozessbevollmächtigte der Klägerin offenbar meint, ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung zur entsprechenden Norm nichts anderes: Mit Blick auf die Wahrung von Ausschlussfristen wollte der Gesetzgeber lediglich sicherstellen, dass die technische Unmöglichkeit der elektronischen Einreichung auch erst unverzüglich nach der Ersatzeinreichung – mithin nach Fristablauf – glaubhaft gemacht werden kann.

Vgl. BT-Drs. 17/12634 S. 27 f.

Der Schriftsatz selbst – ohne Glaubhaftmachung – ist aber nach Vorstellung des Gesetzgebers dennoch innerhalb der Frist einzureichen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2, § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

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