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Wirtschaftsrecht
25.06.2020
Wirtschaftsrecht
LG München: Einstweilige Verfügung gegen die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung nach dem COVID-19-Gesetz - Anfechtbarkeit wegen Ermessensfehlgebrauchs

LG München, Beschluss vom 26.5.2020 – 5 HK O 6378/20

Volltext: BB-Online BBL2020-1473-2

Amtliche Leitsätze

1. Die vollständige Untersagung der Durchführung einer Hauptversammlung mittels einstweiliger Verfügung wird dann als möglich angesehen, wenn dem antragstellenden Aktionär die Glaubhaftmachung gelingt, dass die von der Hauptversammlung zu fassenden Beschlüsse insgesamt nichtig wären.

2. Bei einer sehr überschaubaren Zahl von Teilnehmern einer physischen Hauptversammlung ist eine Anfechtbarkeit wegen Ermessensfehlgebrauch denkbar, wenn der Vorstand unter Berufung auf § 1 Abs. 1 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu einer virtuellen Hauptversammlung einberuft.

3. Die Anfechtbarkeit ist in diesem Fall eines Ermessensfehlgebrauchs nicht durch § 1 Abs. 7 ausgeschlossen.

Sachverhalt

I.

Die Antragstellerin ist Aktionärin der Antragsgegnerin zu 1 mit einem Stimmenanteil von 11,11 %; die Antragsgegnerinnen zu 2 und zu 3 halten zusammen 66,67 % des in 15.813.784 Stamm- und 5.1876.216 Vorzugsaktien ohne Stimmrecht aufgeteilten Grundkapitals der Antragsgegnerin zu 1). Die Antragsgegnerin zu 1 hatte ihre ordentliche Hauptversammlung für den 25.6.2020 angekündigt. Am 7.5.2002 erhielt die Antragstellerin eine Einladung für den 28.5.2020 (Anlage ASt 14), die als virtuelle Hauptversammlung abgehalten werden soll und in der über die Tagesordnungspunkte „Verwendung des Bilanzgewinns“, „Entlastung der Vorstandsmitglieder für das Geschäftsjahr 2019“, „Entlastung der Mitglieder des Aufsichtsrates für das Geschäftsjahr 2019“, „Wahl des Abschlussprüfers für den Jahresabschluss und für den Konzernabschluss für das Geschäftsjahr 2019“ sowie die Zustimmung zu zwei Verschmelzungsverträgen abgestimmt werden sollte. Eine Begründung, warum selbst die technisch sehr einfache und kostengünstige Möglichkeit ausgeschlossen wurde, Aktionäre per Audio- in Videokommunikation an der Hauptversammlung teilnehmen zu lassen erfolgte nicht. Die Einladung zur Hauptversammlung sah hinsichtlich der Gewinnverwendung vor, dass von dem Bilanzgewinn des Geschäftsjahres 2009 in Höhe von € 387.553.335,91 ein Betrag von € 3.150.000,- in Übereinstimmung mit § 19 Abs. 5 der Satzung der Antragsgegnerin an die Aktionäre ausgeschüttet, der Rest als Gewinn vorgetragen werden sollte. Die Antragsgegnerin zu 2 stellte einen Gegenantrag, wonach der gesamte Bilanzgewinn als Gewinn vorgetragen werden sollte. Mit Schreiben vom 15.5.2020 (Anlage ASt 17) teilte die Antragsgegnerin zu 1 mit, ihr seien mehrere Ergänzungsverlangen zur Ergänzung der Tagesordnung der Hauptversammlung um weitere Gegenstände zugegangen, so dass die Tagesordnung erweitert werde. Dadurch sollten Bestätigungsbeschlüsse zu angefochtenen Beschlüssen der Hauptversammlungen zweier vergangener Jahre gefasst werden.

Mit ihrem Antrag begehrt die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Verfügung, wonach den Antragsgegnern die Abhaltung und Durchführung einer Hauptversammlung für den 28.5.2020 verboten werden soll. Hilfsweise beantragt sie, den Antragsgegnerin mittels einstweiliger Verfügung zu untersagen, am Zustandekommen solcher Beschlüsse mitzuwirken und sich an Beschlussfassungen zu beteiligen, die in der Einberufung und dem Ergänzungsantrag näher bezeichnet wurden. Zur Begründung beruft sie sich im Wesentlichen darauf, es sei ihr nicht zuzumuten, erkennbar gesetzwidrige Beschlüsse hinzunehmen.

Aus den Gründen

II.

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist zulässig, aber nicht begründet.

a. Ein Verfügungsanspruch gegen die allein passivlegitimierte Antragsgegnerin zu 1 lässt sich bereits nicht bejahen. Der Antragstellerin kann kein Anspruch zugesprochen werden, wonach die Abhaltung der Hauptversammlung im Wege der einstweiligen Verfügung untersagt werden kann.

(1) Die vollständige Untersagung der Durchführung einer Gesellschafterversammlung wird dann als zulässig erachtet, wenn dem Antragsteller die Glaubhaftmachung gelingt, dass die von der Gesellschafterversammlung zu fassenden Beschlüsse an einem besonders gravierenden Mangel leiden und insgesamt nichtig wären. Gerechtfertigt wird die Zulässigkeit eines Eingriffs in die innergesellschaftliche Willensbildung im Wesentlichen vor dem Hintergrund der aus Art. 19 Abs. 4 GG und dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmenden Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes und der im Einzelfall bestehenden Gefahr, dass fehlerhafte Beschlüsse zu vollendeten Tatsachen führen und Folgen zeitigen, die mit den Mitteln nachgehenden Rechtsschutzes nicht mehr hinreichend beseitigt werden können. Folglich kommt der Erlass einer einstweiligen Verfügung nur dann in Betracht, wenn anderenfalls wirksamer Rechtsschutz versagt bliebe, wobei als Kriterien die besondere Schutzbedürftigkeit des Antragstellers und die Eindeutigkeit der Rechtslage angeführt werden. Folglich kommt der Erlass einer einstweiligen Verfügung nur dann in Betracht, wenn anderenfalls wirksamer Rechtsschutz versagt bliebe, wobei als Kriterien die besondere Schutzbedürftigkeit des Antragstellers und die Eindeutigkeit der Rechtslage angeführt werden (vgl. OLG München ZIP 2006, 2334, 2335). Die vollständige Untersagung der Durchführung einer Hauptversammlung wird daher dann als möglich angesehen, wenn dem antragstellenden Aktionär die Glaubhaftmachung gelingt, dass die von der Gesellschafterversammlung zu fassenden Beschlüsse insgesamt nichtig wären (vgl. Beyer GmbHR 2001, 467, 470 m.w.N. für den vergleichbaren Fall der GmbH). Davon kann vorliegend indes nicht ausgegangen werden.

(a) Eine Nichtigkeit der Beschlüsse wird von der Antragsgegnerin nicht vorgetragen. Diese ergibt sich insbesondere nicht aus der Erwägung heraus, der Vorstand hätte von seinem ihm durch § 1 Abs. 1 COVID-19-Gesetz eingeräumten Ermessen fehlerhaft Gebrauch gemacht. Nach dieser Vorschrift kann der Vorstand Entscheidungen über die Teilnahme der Aktionäre an der Hauptversammlung im Wege elektronischer Kommunikation nach § 118 Absatz 1 Satz 2 AktG (elektronische Teilnahme), die Stimmabgabe im Wege elektronischer Kommunikation nach § 118 Absatz 2 AktG (Briefwahl), die Teilnahme von Mitgliedern des Aufsichtsrats im Wege der Bild- und Tonübertragung nach § 118 Absatz 3 Satz 2 AktG und die Zulassung der Bild- und Tonübertragung nach § 118 Absatz 4 AktG kann der Vorstand der Gesellschaft auch ohne Ermächtigung durch die Satzung oder eine Geschäftsordnung treffen. Ein Ermessensfehlgebrauch kann indes nicht die Voraussetzungen des § 241 Nr. 1 AktG erfüllen, wonach der Beschluss einer Hauptversammlung dann nichtig ist, wenn er in einer Hauptversammlung gefasst worden ist, die unter Verstoß gegen § 121 Abs. 2 und 3 Satz 1 oder Abs. 4 AktG einberufen worden ist. Der Vorstand hat vorliegend unter Beachtung dieser Vorgaben einberufen und nach dem Vortrag der Antragstellerin auch die verkürzte Frist beachtet. Da § 1 Abs. 1 COVID-19-Gesetz eine derartige virtuelle Hauptversammlung zulässt, kann auch nicht von einem Verstoß gegen das Wesen der Aktiengesellschaft im Sinne des § 241 Nr. 3 1. Alt. AktG ausgegangen werden. Bei einem möglichen Ermessensfehlgebrauch angesichts der sehr überschaubaren Zahl von Teilnehmern einer physischen Hauptversammlung der Antragsgegnerin zu 1 ist eine Anfechtbarkeit wegen Ermessensfehlgebrauch denkbar, die auch durch § 1 Abs. 7 COVID-19-Gesetz nicht ausgeschlossen ist, weil § 1 Abs. 1 COVID-19-Gesetz dort nicht genannt ist. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, es komme zu einem unzumutbaren Eingriff in das Teilnahmerecht der Antragstellerin. Die Vorgaben des COVID-19-Gesetz schränken Teilnahmemöglichkeiten zwar in nicht unerheblichem Umfang ein; ein vollständiger Ausschluss kann jedoch nicht angenommen werden, weil die Teilnahme unter Beachtung von § 1 Abs. 1 und Abs. 2 COVID-19-Gesetz auch der Antragstellerin offensteht. Dies gilt in gleicher Weise für das Fragerecht, dass er unter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben aus § 1 Abs. 2 COVID-19-Gesetz ausüben kann. Dabei bedarf es vorliegend keiner Entscheidung darüber, inwieweit die Einschränkung in § 1 Abs. 2 und abs. 7 COVID-19-Gesetz hinsichtlich des Fragerechts und dem Ausschluss eines darauf gestützten Anfechtungsrechts mit Art. 14 Abs. 1 GG und dem Justizgewährungsanspruch des Grundgesetzes sowie mit Art. 9 der Aktionärsrechterichtlinie vereinbar sind.

(b) Der Antragstellerin ist auch eine Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses zumutbar. Es sollen - mit Ausnahme der beiden Verschmelzungsbeschlüsse - keine Beschlüsse gefasst werden, durch die unverrückbar unabänderliche Tatsachen geschaffen werden. Dies muss auch für den Gewinnverwendungsbeschluss gelten, selbst wenn dieser unter Verletzung von satzungsrechtlichen Vorgaben gefasst werden sollte. Insoweit ist der Antragstellerin eine Anfechtung gleichfalls zuzumuten. Soweit sie sich darauf beruft, es sei ihr unmöglich, einen Geschäftsordnungsantrag hinsichtlich der Reihenfolge der Abstimmung zu stellen, ist dem entgegenzuhalten, dass mit beachtlichen Gründen in der Literatur die Auffassung vertreten wird, in analoger Anwendung von § 1 Abs. 2 COVID-19-Gesetz könne auch ein Geschäftsordnungsantrag gestellt werden (vgl. Bücker/Kulenkamp/Schwarz/Seibt/von Bonin DB 2020, 775, 779). Hinsichtlich des Verschmelzungsbeschlusses ist davon auszugehen, dass mit Erhebung der Anfechtungsklage eine Registersperre besteht, die nur durch ein Freigabeverfahren nach § 16 Abs. 3 UmwG überwunden werden kann. Angesichts der vor der Antragstellerin geschilderten wirtschaftlichen Situation der Antragsgegnerin zu 1) mit liquiden Mitteln von € 272,2 Mio. und einer Eigenkapitalquote von 94,7 % ist auch nicht glaubhaft gemacht, dass ein gegebenenfalls bestehender Anspruch auf das unentziehbare Sonderrecht auf eine Jahresdividende nach § 19 Abs. 5 der Satzung gefährdet wäre, wenn zunächst eine Anfechtungsklage erhoben werden muss, wenn die Hauptversammlung eine vollständige Thesaurierung beschließen sollte.

(c) Etwas anderes lässt sich auch nicht aus den vorgelegten Stimmzettel hinsichtlich der Verwendung des Bilanzgewinns herleiten, den die Antragsteller offensichtlich so verstanden wissen will, dass zunächst über den Gegenantrag der Antragstellerin zu 2 und dann erst über den der Antragstellerin abgestimmt werden soll. Selbst wenn der Versammlungsleiter in dieser Reihenfolge abstimmen lassen würde, kann daraus jedenfalls nicht die Anfechtbarkeit und schon gar nicht die Nichtigkeit eines gegebenenfalls gefassten Beschlusses hergeleitet werden. Es entspricht nämlich der weithin vertretenen Meinung, dass nach dem Grundsatz der Sachdienlichkeit zunächst über den Antrag abgestimmt werden darf, dem die meisten Erfolgsaussichten beigemessen werden (vgl. LG München I AG 2016, 834, 835 = ZIP 2016, 973, 974 Rieckers in: Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 133 Rdn. 55a und § 137 Rdn. 8; Tröger in: Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl., § 137 Rdn. 17 Habersack in: Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl., § 101 Rdn. 25). Diese speziell für Wahlvorschläge entwickelte Rechtsauffassung kann allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Abgesehen davon erscheint es nicht zwingend, dass auch in dieser Reihenfolge entsprechend der Reihenfolge auf dem Stimmzettel abgestimmt wird, sondern dass über beide Anträge abgestimmt werden kann, nachdem auch der Gegenantrag der Antragstellerin aufgeführt ist.

(2) Gegen die Antragsgegnerinnen zu 2 und zu 3 fehlt es an einem Verfügungsanspruch auch deshalb, weil nicht erkennbar ist, inwieweit sich ein Anspruch auf Unterlassung der Hauptversammlung gegen Aktionäre richten könnte. Für die Abhaltung der Hauptversammlung ist die Gesellschaft verantwortlich, nicht aber zwei Aktionärinnen. Daran vermag auch nichts zu ändern, dass die Antragsgegnerin zu 2 Gegenanträge im Sinne des § 122 Abs. 2 AktG gestellt hat. Im Übrigen gelten dieselben Erwägungen wie oben unter II. 1 dargestellt.

b. Aus denselben Gründen können auch die beiden Hilfsanträge, die auf das Verbot der Mitwirkung und Beteiligung an den in der Tagesordnung enthaltenen Beschlussfassungen über die Entlastung der Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat, die Bestätigungsbeschlüsse sowie über Beschlüsse, die vorsehen oder bewirken, dass aus dem im Jahresabschluss der Antragsgegnerin zu 1 für das Geschäftsjahr ausgewiesenen Bilanzgewinn weniger als € 3.150.000,- an die Aktionäre verteilt werden, insbesondere an solchen Beschlüssen, die einen Vortrag des Bilanzgewinns in voller Höhe auf neue Rechnung vorsehen, keinen Erfolg haben. Auch hier geht es um die Einwirkung auf die Willensbildung und Stimmabgabe anderer Aktionäre, die nur in den oben beschriebenen Ausnahmefällen zuständig ist. Die Voraussetzungen für eine solche Ausnahme können aber aus den genannten Gründen nicht bejaht werden.

2. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO; als Unterlegene hat die Antragstellerin die Kosten des Verfügungsverfahrens zu tragen.

3. Die Entscheidung über den Streitwert ergibt sich aus §§ 48 Abs. 1 GKG, 3 ZPO.

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