BGH: Eigenverantwortliche Prüfung des Ablaufs von Rechtsmittelbegründungsfristen durch RA sowohl bei Papierakten als auch bei elektronischen Akten
BGH, Beschluss vom 1.3.2023 – XII ZB 483/21
ECLI:DE:BGH:2023:010323BXIIZB483.21.0
Volltext: BB-Online BBL2023-898-2
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Amtliche Leitsätze
a) Werden einem Rechtsanwalt die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt, hat er den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich zu prüfen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 29. Juni 2022 – XII ZB 9/22 – FamRZ 2022, 1633).
b) Dies gilt unabhängig davon, ob die Handakten des Rechtsanwalts in herkömmlicher Form als Papierakten oder – wie hier – als elektronische Akten geführt werden (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 9. Juli 2014 – XII ZB 709/13 – FamRZ 2014, 1624).
ZPO §§ 85 Abs. 2, 233 Fc
Sachverhalt
I.
Die Klägerin wendet sich in einem Rechtsstreit über wechselseitige Forderungen aus einem Gewerberaummietverhältnis gegen die Versagung der begehrten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Verwerfung ihrer Berufung.
Gegen das der Klägerin am 16. März 2021 zugestellte Urteil des Landgerichts, mit dem ihre Klage auf Zahlung von 141.658,19 € abgewiesen und sie auf die Widerklage des Beklagten zur Zahlung von 56.877,68 € nebst Zinsen verurteilt worden ist, hat die Klägerin fristgerecht Berufung eingelegt. Am 31. Mai 2021 hat sie die Berufungsbegründung eingereicht und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat sie ausgeführt, die vormals die Berufungsakte bearbeitende Rechtsanwältin P. sei zum 30. April 2021 aus der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten ausgeschieden. Anlässlich dieses Ausscheidens habe ihr jetziger Prozessbevollmächtigter Rechtsanwalt R. der stets zuverlässigen Kanzleiangestellten die Anweisung erteilt, die Berufungsakte einschließlich aller Fristen und Termine auf ihn - als neuen Sachbearbeiter - umzutragen. Die Kanzleiangestellte habe daraufhin zwar Rechtsanwalt R. als neuen Sachbearbeiter in die - rein elektronisch geführte - Akte eingetragen, nicht jedoch die Berufungsbegründungsfrist auf ihn umgetragen. Infolge dieser Unachtsamkeit sei die Berufungsbegründungsfrist in keiner der Rechtsanwalt R. vorzulegenden Fristenlisten erschienen.
Das Oberlandesgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung verworfen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde.
Aus den Gründen
II.
4 Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
5 Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist aber nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Die Sache hat keine rechtsgrundsätzliche Bedeutung, weil die maßgeblichen Rechtsfragen durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geklärt sind. Die Klägerin vermag auch nicht aufzuzeigen, dass eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich wäre.
6 1. Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Berufung sei unzulässig, weil sie nicht innerhalb der am 17. Mai 2021 abgelaufenen Begründungsfrist begründet worden sei.
7 Die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist könne nicht gewährt werden, weil der Klägerin ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zuzurechnen sei. Dieser habe mit Blick auf das Ausscheiden der vormals sachbearbeitenden Rechtsanwältin P. aus der Kanzlei seine Organisationspflichten verletzt. Zwar habe er seiner Kanzleiangestellten die mündliche Anweisung erteilt, die vormals Rechtsanwältin P. zugeordneten Akten nach einer Liste auf den nunmehr zuständigen Sachbearbeiter in der elektronischen Akte umzutragen. In dieser Anweisung habe der Prozessbevollmächtigte aber keine organisatorischen Vorkehrungen gegen das Vergessen der Anweisung getroffen. Im vorliegenden Fall beruhe die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf diesem Verstoß gegen die Organisationspflichten. Denn die Kanzleiangestellte habe in ihrer eidesstattlichen Versicherung angegeben, die Umtragung der Fristen bei der vorliegenden Akte vergessen zu haben.
8 2. Das Oberlandesgericht hat jedenfalls im Ergebnis zu Recht die beantragte Wiedereinsetzung versagt und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen.
9 a) Die Rechtsbeschwerde erinnert zutreffend nichts dagegen, dass das Oberlandesgericht die Berufungsbegründungsfrist des § 520 Abs. 2 ZPO als versäumt angesehen hat.
10 b) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde sind auch die Voraussetzungen des § 233 Satz 1 ZPO für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfüllt. Denn nach dem Wiedereinsetzungsvorbringen ist ein der Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Fristversäumung nicht auszuschließen.
11 aa) Ein Rechtsanwalt hat nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden. In diesem Fall muss der Rechtsanwalt stets auch alle weiteren unerledigten Fristen einschließlich ihrer Notierung in den Handakten prüfen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 29. Juni 2022 - XII ZB 9/22 - FamRZ 2022, 1633 Rn. 10; vom 19. Februar 2020 - XII ZB 458/19 - FamRZ 2020, 936 Rn. 13 mwN und vom 9. Juli 2014 - XII ZB 709/13 - FamRZ 2014, 1624 Rn. 12). Dies gilt unabhängig davon, ob die Handakten des Rechtsanwalts in herkömmlicher Form als Papierakten oder - wie hier - als elektronische Akten geführt werden. Denn wie die elektronische Fristenkalenderführung gegenüber dem herkömmlichen Fristenkalender darf auch die elektronische Handakte grundsätzlich keine geringere Überprüfungssicherheit bieten als ihr analoges Pendant (vgl. Senatsbeschluss vom 9. Juli 2014 - XII ZB 709/13 - FamRZ 2014, 1624 Rn. 13 f.).
12 bb) Gemessen daran hat die Klägerin ein fehlendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten nicht dargetan.
13 (1) Dem mit der weiteren Sachbearbeitung betrauten Rechtsanwalt R. wurden die Akten zwecks Fertigung der Berufungsschrift vorgelegt. Denn ausweislich der zu den Akten gereichten Berufungsschrift hat er - ungeachtet des Umstands, dass die vormals sachbearbeitende Rechtsanwältin P. erst zum 30. April 2021 aus der Kanzlei ausgeschieden ist - die Berufung am 16. April 2021 eingelegt. Die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags verhält sich jedoch nicht dazu, ob Rechtsanwalt R. anlässlich dieser Aktenvorlage die korrekte Notierung der Berufungsbegründungsfrist eigenverantwortlich in der (elektronischen) Handakte geprüft hat. Hätte er diese Prüfung vorgenommen, hätte er bemerken und korrigieren müssen, dass die Berufungsbegründungsfrist (noch) nicht auf ihn, sondern nach wie vor auf Rechtsanwältin P. notiert war.
14 Die Klägerin hat nicht geltend gemacht, dass die Anweisung zur Umtragung der Akte auf Rechtsanwalt R. als neuen Sachbearbeiter erst nach Einlegung der Berufung erfolgt ist. Dies ist auch sonst nicht ersichtlich. Im Gegenteil ergibt sich aus der Berufungsschrift, dass der Sachbearbeiterwechsel schon vorher erfolgt war. Denn darin lautet das kanzleiinterne Zeichen schon nicht mehr auf Rechtsanwältin P., sondern bereits auf Rechtsanwalt R. Zudem wurde als Zustellungsadressat im Sinne von § 130 Nr. 1a ZPO in der Berufungsschrift nicht mehr - wie zuvor - Rechtsanwältin P., sondern Rechtsanwalt R. angegeben.
15 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann jedoch nicht gewährt werden, wenn - wie hier - nach den glaubhaft gemachten Tatsachen die Möglichkeit offenbleibt, dass die Fristversäumung vom Prozessbevollmächtigten der Partei verschuldet war (vgl. Senatsbeschluss vom 6. April 2011 - XII ZB 701/10 - NJW 2011, 1972 Rn. 8 mwN).
16 (2) Unabhängig davon ist, wie aus dem von der Klägerin mit ihrem Wiedereinsetzungsantrag vorgelegten Ausdruck der elektronischen Rechtsanwaltsakte hervorgeht, im Streitfall auch eine Vorfrist für die Berufungsbegründung auf den 10. Mai 2021 notiert worden. Diese Vorfrist wurde im elektronischen Fristenkalender am 6. Mai 2021 als „erledigt“ gekennzeichnet. Dass die Akte entgegen dem Erledigungsvermerk an diesem Tag keinem Rechtsanwalt vorgelegt worden ist (vgl. BGH Beschluss vom 18. Juni 2020 - IX ZB 17/18 - NJW-RR 2020, 1002 Rn. 13 zur Organisation der Aktenvorlage im Fall einer elektronisch geführten Akte), wird von der Klägerin mit ihrem Wiedereinsetzungsantrag nicht geltend gemacht. Da Rechtsanwältin P. bei Eintragung des Erledigungsvermerks am 6. Mai 2021 bereits aus der Kanzlei ausgeschieden war, kommt eine Vorlage der Akte nach den Umständen nur an den neuen Sachbearbeiter Rechtsanwalt R. in Betracht.
17 Vor diesem Hintergrund hätte sich der Wiedereinsetzungsantrag - wie nicht geschehen - ebenfalls dazu verhalten müssen, ob Rechtsanwalt R. auch insoweit die korrekte Notierung der Berufungsbegründungsfrist eigenverantwortlich in der (elektronischen) Handakte geprüft hat. Hätte er diese Prüfung vorgenommen, hätte er die fehlerhaft notierte Berufungsbegründungsfrist auch in diesem Zusammenhang bemerken und korrigieren müssen.
18 Die Eintragung der Vorfrist war auch nicht etwa eine über das gebotene Maß hinausgehende organisatorische Sicherung mit der Folge, dass eine daran anknüpfende Pflichtverletzung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin eine unzulässige Verschärfung seiner anwaltlichen Sorgfaltspflichten darstellen würde (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 6. Dezember 2006 - XII ZB 99/06 - FamRZ 2007, 275, 276 mwN; BGH Beschluss vom 30. April 1998 - VII ZB 5/97 - NJW 1998, 2676, 2677). Denn die Einhaltung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ist nicht nur durch die Eintragung der Hauptfrist, sondern zusätzlich durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Dezember 2006 - XII ZB 99/06 - FamRZ 2007, 275, 276 mwN). Deshalb hat ein Rechtsanwalt auch dann, wenn ihm die Akten zur Vorfrist vorgelegt werden, Anlass zur eigenverantwortlichen Prüfung, ob das Fristende richtig ermittelt und festgehalten worden ist (vgl. BGH Beschluss vom 12. September 2019 - IX ZB 13/19 - NJW 2019, 3234 Rn. 16).
19 (3) Soweit die Rechtsbeschwerde geltend macht, Prozessbevollmächtigter der Klägerin sei nicht der sachbearbeitende Rechtsanwalt R. in Person, sondern die Partnerschaftsgesellschaft der Rechtsanwälte als solche gewesen, vermag ihr dies nicht zum Erfolg zu verhelfen. Denn eine Partei muss sich auch das Verschulden eines selbstständigen Sachbearbeiters (hier: Rechtsanwalt R.) ihres Prozessbevollmächtigten (hier: Partnerschaftsgesellschaft) zurechnen lassen (vgl. Senatsbeschluss vom 1. April 1992 - XII ZB 21/92 - FamRZ 1992, 1162).
20 (4) Eines vorherigen Hinweises an die anwaltlich vertretene Klägerin auf die vorerwähnten Mängel bedurfte es nicht. Die Anforderungen, die die Rechtsprechung an die Sorgfaltspflichten in Fristensachen stellt, sind bekannt und müssen einem Anwalt auch ohne richterliche Hinweise geläufig sein. Tragen die zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags gemachten Angaben diesen Anforderungen nicht Rechnung, deutet das nicht auf Unklarheiten oder Lücken des Vortrags hin, die aufzuklären oder zu füllen wären, sondern erlaubt den Schluss darauf, dass den Sorgfaltspflichten nicht Genüge getan worden ist (vgl. BGH Beschluss vom 29. Juni 2017 - III ZB 95/16 - juris Rn. 11 mwN).
21 c) Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 577 Abs. 6 Satz 3 ZPO).