BGH: Eigenverantwortliche Prüfung des Ablaufs von Rechtsmittelbegründungsfristen durch RA
BGH, Beschluss vom 17.5.2023 – XII ZB 533/22
ECLI:DE:BGH:2023:170523BXIIZB533.22.0
Volltext: BB-Online BBL2023-2242-2
unter www.betriebs-berater.de
Amtliche Leitsätze
a) Werden einem Rechtsanwalt die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung vorgelegt, hat er den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich zu prüfen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 19. Oktober 2022 – XII ZB 113/21 – NJW-RR 2023, 136).
b) Die Einhaltung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ist nicht nur durch die Eintragung der Hauptfrist, sondern zusätzlich durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 19. Oktober 2022 – XII ZB 113/21 – NJW-RR 2023, 136 und BGH Beschluss vom 13. September 2018 – V ZB 227/17 – NJW-RR 2018, 1451).
ZPO § 233 Satz 1 Fd
Sachverhalt
I.
Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einem gewerblichen Mietverhältnis geltend. Durch Urteil vom 22. August 2022 hat das Landgericht die Beklagte verurteilt, an den Kläger Beträge von 19.872,35 € und 18.118,17 € jeweils nebst Zinsen zu zahlen, und die weitergehende Klage abgewiesen. Das Urteil wurde der Beklagten zu Händen ihres Prozessbevollmächtigten am 23. August 2022 zugestellt. Mit einem rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz hat die Beklagte Berufung eingelegt und mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2022, der am selben Tag bei Gericht eingegangen ist, die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist um einen Monat beantragt.
Auf einen dem Prozessbevollmächtigten am 3. November 2022 zugegangenen richterlichen Hinweis, wonach der Fristverlängerungsantrag verspätet gestellt worden sei, hat die Beklagte mit am 7. November 2022 eingegangenem Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt. Die in der Kanzlei tätige Rechtsanwaltsfachangestellte habe auf dem zugestellten erstinstanzlichen Urteil den 21. Oktober 2022 als Berufungsbegründungsfrist notiert, aufgrund eines erstmaligen Fehlers jedoch in den händisch geführten Fristenkalender versehentlich den 28. Oktober 2022 als Berufungsbegründungsfrist eingetragen. Der Beklagtenvertreter habe die handschriftlich auf der Urteilsabschrift notierte Fristberechnung auf ihre Richtigkeit kontrolliert und sei hinsichtlich der Übertragung in den Fristenkalender von einer korrekten Übertragung ausgegangen. Diesen Sachverhalt hat die Kanzleiangestellte eidesstattlich versichert. Mit einem am 18. November 2022 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz hat die Beklagte ihre Berufung begründet und unter dem 12. Dezember 2022 ergänzend ausgeführt, in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten bestehe seit Jahren die Anweisung, dass immer und unter allen Umständen zuerst die Fristen berechnet und im Kalender eingetragen werden müssten und erst danach ein entsprechender Vermerk (Fristeneintrag auf Schriftsatz, Beschluss oder Urteil) eingetragen werden könne. Mit der handschriftlichen Notierung der Frist auf dem jeweiligen Schriftsatz bzw. Urteil bestätige und bringe die Kanzleikraft zum Ausdruck, dass die berechnete Frist im Terminkalender so notiert worden sei.
Das Oberlandesgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Rechtsbeschwerde.
Aus den Gründen
II.
4 Die gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde verletzt die angefochtene Entscheidung weder den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) noch ihr Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1, 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG).
5 1. Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Beklagte habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie die Berufungsbegründungsfrist schuldlos versäumt habe (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Dem Sachvortrag des Wiedereinsetzungsgesuchs könne nicht entnommen werden, dass die Erledigung der Eintragung im Fristenkalender auch in der Handakte vermerkt worden sei. Nur unter dieser Voraussetzung sei der Rechtsanwalt jedoch davon befreit gewesen, die korrekte Eintragung der Frist im Fristenkalender persönlich zu kontrollieren. Das hierzu mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2022 ergänzte Vorbringen sei nicht innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist erfolgt; ein Nachschieben von Gründen nach Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist sei nicht zulässig.
6 2. Dieses Ergebnis hält sich im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
7 a) Das Oberlandesgericht hat zu Recht angenommen, dass die Beklagte die Berufung nicht innerhalb der am Montag, dem 24. Oktober 2022 ablaufenden Frist des § 520 Abs. 2 ZPO begründet hat. Hiergegen erinnert auch die Rechtsbeschwerde nichts.
8 b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde sind die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfüllt. Denn die Beklagte hat die Berufungsbegründungsfrist nicht unverschuldet im Sinne von § 233 Satz 1 ZPO versäumt. Vielmehr beruht das Versäumnis auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten, welches sie sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.
9 aa) Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Dabei kann die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen werden. Dann hat der Rechtsanwalt aber durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind (Senatsbeschluss vom 19. Oktober 2022 - XII ZB 113/21 - NJW-RR 2023, 136 Rn. 11 mwN).
10 bb) Darüber hinaus hat ein Rechtsanwalt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden. Der Rechtsanwalt muss in diesem Fall auch alle weiteren unerledigten Fristen einschließlich ihrer Notierung in den Handakten prüfen. Dabei darf der Anwalt sich allerdings grundsätzlich auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränken, sofern sich keine Zweifel an deren Richtigkeit aufdrängen. Diese anwaltliche Prüfungspflicht besteht auch dann, wenn die Handakte nicht zugleich zur Bearbeitung mit vorgelegt worden ist, so dass der Rechtsanwalt in diesen Fällen die Vorlage der Handakte zur Fristenkontrolle zu veranlassen hat (Senatsbeschluss vom 19. Oktober 2022 - XII ZB 113/21 - NJW-RR 2023, 136 Rn. 12 mwN).
11 cc) Die Einhaltung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ist ferner nicht nur durch die Eintragung der Hauptfrist, sondern zusätzlich durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen. Die Vorfrist dient dazu, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der zu wahrenden Frist kommt nicht in Betracht, wenn der Rechtsanwalt bei pflichtgemäßer Notierung einer Vorfrist die Fehlerhaftigkeit der notierten Frist hätte erkennen und die Frist wahren können (BGH Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 227/17 - NJW-RR 2018, 1451 Rn. 7 f. mwN).
12 Zwar muss der Rechtsanwalt die auf eine Vorfrist vorgelegte Sache nicht stets sofort bearbeiten, weil er grundsätzlich frei darin ist, ob er die Begründungsfrist vollständig ausnutzen möchte. Der Rechtsanwalt kann die Handakte deswegen auch zur Wiedervorlage am Tag des Fristablaufs zurückgeben. Indes muss er sich zuvor sorgfältig davon überzeugen, dass die Rechtsmittelbegründung noch rechtzeitig innerhalb der Frist bei Gericht eingereicht werden kann (Senatsbeschluss vom 19. Oktober 2022 - XII ZB 113/21 - NJW-RR 2023, 136 Rn. 13 mwN).
13 dd) Der Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten enthält keine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, die nach den vorstehenden Maßstäben ein fehlendes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten annehmen ließen. Er lässt weder erkennen, ob im Rahmen der Büroorganisation eine allgemeine Anordnung zur Eintragung von Vorfristen getroffen war, noch wie eine solche Anweisung im konkreten Fall beachtet worden ist.
14 Wäre pflichtgemäß eine angemessene Vorfrist von etwa einer Woche vor dem notierten Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist (vgl. BGH Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 227/17 - NJW-RR 2018, 1451 Rn. 7) in den Fristenkalender eingetragen worden, so wäre die Akte dem Prozessbevollmächtigten etwa am 21. Oktober 2022, spätestens aber am 24. Oktober 2022 vorgelegt worden. Anlässlich dieser Vorlage hätte der Prozessbevollmächtigte anhand der in der Handakte angebrachten Vermerke feststellen müssen, dass der Fristablauf durch die Kanzleiangestellte auf den 21. Oktober 2022 notiert worden war. Bei ihm obliegender eigenverantwortlicher Prüfung der Frist anlässlich der Aktenvorlage an ihn hätte er feststellen müssen, dass die Frist tatsächlich am 24. Oktober 2022 ablief. Es hätte dann in seiner Verantwortung gelegen, die Berufung rechtzeitig noch innerhalb der Frist zu begründen oder einen rechtzeitigen Fristverlängerungsantrag zu stellen.
15 Das Wiedereinsetzungsgesuch lässt jedoch offen, ob und auf welches Datum eine Vorfrist im Fristenkalender notiert war, wann dem Prozessbevollmächtigten die Akte tatsächlich vorgelegt worden ist und weshalb der Prozessbevollmächtigte anlässlich der Aktenvorlage an ihn die Frist nicht selbstständig berechnet hat. Damit ist fehlendes Verschulden bei der Fristversäumung nicht ausreichend dargelegt.