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Wirtschaftsrecht
14.12.2023
Wirtschaftsrecht
OLG Nürnberg: Dringlichkeitsverlust bei Ausschöpfen der gesetzlichen Berufungseinlegungs- und begründungsfrist

Oberlandesgericht Nürnberg, Urteil vom 24.10.2023, Az. 3 U 965/23

ECLI: DE: OLGNUER:2023:1024.3U965.23.00

Volltext: BB-Online BBL2023-2946-3

unter www.betriebs-berater.de

Leitsatz

Das volle Ausschöpfen der gesetzlichen Berufungseinlegungs- und -begründungsfristen ist in der Regel nicht dringlichkeitsschädlich. Lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen kann eine Selbstwiderlegung durch verzögertes Betreiben des Verfahrens auch bei der Einhaltung der Rechtsmittelfristen entfallen. Ein solcher Sonderfall kommt im Rahmen der Gesamtwürdigung allenfalls in Betracht, wenn zum einen eine tatsächlich und rechtlich äußerst einfache Fallgestaltung gegeben ist, bei der keinerlei weitere tatsächliche Ermittlungen anzustellen und keine weiteren Glaubhaftmachungsmittel zu beschaffen sind, und wenn zum anderen der Verfügungskläger auch durch sein sonstiges Verhalten zum Ausdruck bringt, dass ihm selbst die Sache nicht so eilig ist.

UWG § 7 Abs. 2 Nr. 1, § 12 Abs. 1; ZPO § 172 Abs. 1, § 191, § 517, § 520 Abs. 2, § 929 Abs. 2, § 936

Sachverhalt

A.

I.

Die Verfügungsbeklagte beschäftigt sich gewerblich u.a. mit der Vermittlung von Versicherungen. Eine für sie tätige Mitarbeiterin ist Frau N. Der Verfügungskläger ist selbstständiger Versicherungsmakler. Zu den von ihm betreuten Kunden gehört Frau B., die im Jahr 2021 über einen Mitarbeiter der Verfügungsbeklagten eine private Riesterrente bei der „V Versicherung“ abschloss. Im Oktober 2022 stellte Frau B. die Riesterrente auf Anraten des Verfügungsklägers beitragsfrei.

Mit E-Mail vom 18.10.2022 (Anlage ASt 6) widerrief Frau B. gegenüber der Verfügungsbeklagten eine etwaig von ihr erteilte Einwilligung zur Kontaktaufnahme. Den Eingang dieses Schreibens bestätigte die Verfügungsbeklagte am selben Tag per E-Mail (Anlage ASt 7).

Die Mitarbeiterin bei der Verfügungsbeklagten Frau N. rief Anfang November 2022 bei Frau B. an und wollte wegen des Themas der Beitragsfreistellung der Riesterrente einen Termin vereinbaren. Am 08.12.2022 erfolgte ein weiteres Telefonat zwischen Frau N. und Frau B.

Wegen dieses Sachverhaltes mahnte der Verfügungskläger die Verfügungsbeklagte mit Anwaltsschreiben vom 05.01.2023 (vgl. Anlage ASt 10) ab und forderte zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auf.

Die Verfügungsbeklagte ließ diese Ansprüche mit anwaltlichem Schreiben vom 09.01.2023 (Anlage ASt 11) zurückweisen. Darin führten deren Prozessbevollmächtigte u.a. aus:

in vorbezeichneter Angelegenheit zeigen wir an, dass wir die T. AG anwaltlich vertreten. […] Im Übrigen sind wir zustellungsbevollmächtigt.

II.

Das Landgericht Regensburg erließ am 18.01.2023 die nachfolgende einstweilige Verfügung:

Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Verfügung unter Androhung eines Ordnungsgeldes bis zu zweihundertfünfzigtausend Euro oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten – Ordnungshaft auch für den Fall, dass das Ordnungsgeld nicht beigetrieben werden kann – wegen jeder Zuwiderhandlung

untersagt,

im geschäftlichen Verkehr Verbraucher ohne deren vorheriges Einverständnis zu Werbezwecken anzurufen oder anrufen zu lassen – wenn dies geschieht, wie im November 2022 und am 08. Dezember 2022 mit den Telefonanrufen bei Frau B.

Diese Beschlussverfügung stellte der Verfügungskläger an die Verfügungsbeklagte, aber nicht an deren Prozessbevollmächtigte zu.

Nach Widerspruchseinlegung durch die Verfügungsbeklagte hob das Landgericht Regensburg mit Urteil vom 31.03.2023 die Beschlussverfügung vom 18.01.2023 auf und wies den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 17.01.2023 zurück. Zur Begründung führte es aus, dass der Verfügungsbeschluss nicht innerhalb der Vollziehungsfrist ordnungsgemäß zugestellt worden sei.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Verfügungskläger mit seiner Berufung. Er beantragt,

die einstweilige Verfügung des Landgerichts Regensburg vom 17.01.2023 unter Zurückweisung des Widerspruchs der Verfügungsbeklagten zu bestätigen.

Hilfsweise beantragt er,

die einstweilige Verfügung neu zu erlassen.

Zur Begründung führt er aus, dass eine Zustellung an die jetzigen Verfahrensbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten lediglich dann veranlasst gewesen sei, wenn diese nach § 172 ZPO bereits zum damaligen Zeitpunkt für das Verfügungsverfahren bestellt gewesen wären und der Verfügungskläger hiervon hinreichend sichere Kenntnis gehabt hätte. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall gewesen. Auch habe sich aus dem anwaltlichen Schreiben vom 09.01.2023 (Anlage ASt 11) der Bezugspunkt der Zustellungsbevollmächtigung nicht hinreichend ergeben.

Die Verfügungsbeklagte beantragt die Zurückweisung der Berufung. Zur Begründung führt sie u.a. aus, dass ca. 30 verschiedene Angelegenheiten in Form von Hauptsacheklagen, einstweiligen Verfügungsverfahren und zahlreichen außergerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen der Verfügungsbeklagten und einer Vielzahl von Mandanten der Prozessbevollmächtigten des Verfügungsklägers existieren würden, in denen die Verfügungsbeklagte ausnahmslos durch die Kanzlei der hiesigen Prozessbevollmächtigten vertreten worden sei. Außerdem fehle es am Verfügungsgrund.

III.

In der Terminsladung erteilte der Senat die nachfolgenden Hinweise:

Dem Verfügungskläger wird aufgegeben, dem Senat mitzuteilen, wann er Kenntnis von den Anrufen vom Anfang November 2022 und am 08.12.2022 erhielt.

Der Senat schließt sich der Rechtsprechung an, wonach grundsätzlich in dem Umstand, dass ein Anwalt eine Partei im vorgerichtlichen Abmahnverfahren vertritt, nicht automatisch eine Bestellung für ein nachfolgendes Gerichtsverfahren liegt, auch wenn vorprozessual mitgeteilt wurde, dem Anwalt sei Zustellungsvollmacht erteilt. Darüber hinaus können – wenn sich ein Prozessvertreter (nur) für das Hauptsacheverfahren angezeigt hat – im Regelfall Zustellungen im Verfügungsverfahren wirksam an die Partei selbst vorgenommen werden. Daraus folgt im Streitfall, dass die Ausführungen der Verfügungsbeklagten im anwaltlichen Schreiben vom 09.01.2023, die als Reaktion auf die vorgerichtliche Abmahnung vom 05.01.2023 erfolgten, für eine nach § 172 ZPO zwingende Zustellung der Beschlussverfügung an die Prozessbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten nur dann ausreichen, wenn in vorangegangenen Verfahren zwischen der Verfügungsbeklagten und Mandanten der Prozessbevollmächtigten des Verfügungsklägers im Anschluss an ein Anwaltsschreiben, welches dem vom 09.01.2023 entspricht, eine Prozessvertretung im Verfügungsverfahren durch die Prozessbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten erfolgte. Dazu fehlt derzeit substantiierter Vortrag.

Der Verfügungskläger teilte daraufhin mit, dass er am 21.12. oder 22.12.2022 von den beiden Telefonanrufen Kenntnis erlangt habe. Am 23.12.2022 habe Frau B. dann die Belege (Anlagen ASt 6, 7, 9 sowie den in ihrer eidesstattlichen Versicherung wiedergegebenen Screenshot des Telefonanrufs) übersandt. Darüber hinaus führte er aus, dass es sich bei dem Streitfall um den ersten Aktivprozess handele, den er über seine Prozessbevollmächtigten gegen die hiesige Verfügungsbeklagte eingeleitet habe. Alle vorangehenden Gerichtsverfahren – darunter nur zwei Verfügungsverfahren – seien hingegen von der Verfügungsbeklagten eingeleitet worden.

Die Verfügungsbeklagte führte aus, dass sämtliche Angelegenheiten, in denen die Verfügungsklägervertreter ehemalige Mitarbeiter der Verfügungsbeklagten vertreten würden, von der Kanzlei des Unterzeichners für die Verfügungsbeklagte vertreten worden seien, ebenso wie umgekehrt die Kanzlei des Verfügungsklägers die Mitarbeiter in allen Angelegenheiten gegenüber der Verfügungsbeklagten vertreten habe. Darüber hinaus sei die Selbstwiderlegung der Dringlichkeit durch das Ausschöpfen der Berufungsbegründungsfrist eingetreten.

Aus den Gründen

B.

Die zulässige Berufung des Verfügungsklägers hat in der Sache vollumfänglich Erfolg, weshalb die einstweilige Verfügung des Landgerichts Regensburg vom 18.01.2023, Az. 3 HK O 72/23, zu bestätigen war.

I.

Der Verfügungsanspruch des Verfügungsklägers ergibt sich aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 UWG.

1. Ein Werbeanruf gegenüber einem Verbraucher ist bei den unstreitig im November 2022 und am 08.12.2022 erfolgten Anrufen jeweils zu bejahen. Dazu genügt es, wenn im Rahmen eines bestehenden Vertragsverhältnisses die Fortsetzung oder Erweiterung der Vertragsbeziehung (vgl. BGH GRUR 1995, 220 – Telefonwerbung V; OLG Frankfurt GRUR-RR 2013, 74 (75)) angestrebt wird; ferner, wenn ein Kunde abgeworben oder ein abgesprungener Kunde zur Wiederaufnahme der Geschäftsbeziehung bestimmt werden soll (und sei es auch nur durch Befragen nach den Gründen seines Wechsels; vgl. BGH GRUR 1994, 380 (382) – Lexikothek) oder ein Kunde von der Ausübung eines Vertragsauflösungsrechts (Widerruf, Rücktritt, Kündigung, Anfechtung) abgehalten oder abgebracht werden soll (Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler, 41. Aufl. 2023, UWG § 7 Rn. 151).

2. Die Verfügungsbeklagte bleibt bei beiden Anrufen glaubhaftmachungsbelastet für das Vorliegen einer ausdrücklichen Einwilligung.

Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer Einwilligung trägt der Werbende (BGH GRUR 2004, 517 (519) – E-Mail-Werbung I; BGH WRP 2013, 1579 Rn. 24 – Empfehlungs-E-Mail), im vorliegenden Fall somit die Verfügungsbeklagte. Wer mit einem Telefonanruf gegenüber einem Verbraucher wirbt, hat nach § 7a UWG ab dem 01.10.2021 sogar dessen vorherige ausdrückliche Einwilligung in angemessener Form zu dokumentieren und gemäß § 7a Abs. 2 S. 1 UWG aufzubewahren.

Hinsichtlich des Anrufs Anfang November 2022 behauptet die Verfügungsbeklagte eine Einwilligung nicht. Vielmehr ist unstreitig, dass Frau B. gegenüber der Verfügungsbeklagten – nachdem sie die Riesterrente im Oktober 2022 beitragsfrei stellte – am 18.10.2022 per E-Mail (Anlage ASt 6) eine etwaig von ihr erteilte Einwilligung zur Kontaktaufnahme widerrief, was der Verfügungsbeklagten auch zuging (Anlage ASt 7). Auf die Anfrage der Verfügungsbeklagten vom 31.10.2022 zur Vereinbarung eines Termins (Anlage AG 1) reagierte Frau B. nicht.

In Bezug auf den zweiten Anruf vom 08.12.2022 steht eine Einwilligung von Frau B. zwischen den Parteien im Streit. Während die Verfügungsbeklagte durch eidesstattliche Versicherung von Frau N. (Anlage AG 3) glaubhaft machte, dass Frau B. beim ersten Anruf im November ihr mitgeteilt habe, dass sie sich im Augenblick des Telefonats in der Arbeit befinde und deshalb um einen weiteren Anruf „in den nächsten Tagen“ bat, machte der Verfügungskläger durch eidesstattliche Versicherung von Frau B. (Anlage ASt 8) glaubhaft, dass ein derartiger Wunsch von ihr nicht geäußert worden sei. Vielmehr habe sie in diesem Telefonat mitgeteilt, dass sie – wie beim letzten Telefonat bereits erwähnt – kein Interesse an einem Termin habe und jetzt nur ran gegangen sei, um nochmal klar zu kommunizieren, dass die Verfügungsbeklagte aufhören solle, sie zu kontaktieren. Aufgrund der sich widersprechenden eidesstattlichen Versicherungen bleibt die Verfügungsklägerin für eine Einwilligung glaubhaftmachungsbelastet, zumal eine hinreichende Dokumentation i.S.v. § 7a UWG von ihr nicht behauptet wird.

II.

Es besteht auch ein Verfügungsgrund. Die Dringlichkeitsvermutung des § 12 Abs. 1 UWG ist nicht widerlegt.

1. Die Vermutung der Dringlichkeit gilt als widerlegt, wenn der Verfügungskläger durch sein Verhalten selbst zu erkennen gibt, dass es „ihm nicht eilig ist“. Das ist der Fall, wenn er längere Zeit zuwartet, obwohl er den Wettbewerbsverstoß und die Person des Verantwortlichen kennt oder grob fahrlässig nicht kennt. Entscheidend ist dabei allein der Zeitpunkt, zu welchem der Verfügungsklagepartei die maßgeblichen Tatsachen bekannt geworden sind (OLG Nürnberg, GRUR-RR 2019, 131, Rn. 46 – Schnupfenmittel; OLG Nürnberg WRP 2021, 944 Rn. 38).

2. Im vorliegenden Fall ist die Vermutung der Dringlichkeit nicht durch zögerliche Antragstellung (selbst) widerlegt. Der Verfügungskläger führte auf den gerichtlichen Hinweis in der Terminsladung aus, dass er von den beiden Telefonanrufen vom November 2022 und 08.12.2022 am 21.12. oder 22.12. Kenntnis erlangt habe und dass am 23.12. Frau B. dann die Belege (Anlagen ASt 6, 7, 9 sowie den in ihrer eidesstattlichen Versicherung wiedergegebenen Screenshot des Telefonanrufs) übersandt habe. Nachdem der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 17.01.2023 datiert, erfolgte die Antragstellung innerhalb der Monatsfrist.

Dass die Verfügungsbeklagte den Zeitpunkt der Kenntniserlangung bestreitet, führt zu keiner anderen Beurteilung. Grundsätzlich ist es Sache der Verfügungsbeklagten, die Dringlichkeitsvermutung zu widerlegen, also eine frühere Kenntnis auf Seiten des Verfügungsklägers darzulegen und glaubhaft zu machen (OLG Hamburg, MDR 2002, 1026, juris-Rn. 26). Nur wenn objektive, darauf hindeutende Umstände vorliegen, dass der Verletzte bereits vor mehr als einem Monat vor Einleitung des Verfügungsverfahrens Kenntnis von der Verletzungshandlung erlangt hat, obliegt es ihm, vorzutragen und glaubhaft zu machen, dass dies nicht zutrifft (OLG München, GRUR 1994, 670 [Leitsatz], MDR 1993, 688, juris-Rn. 5). Derartige objektive Umstände sind im vorliegenden Fall weder von der Verfügungsbeklagten dargetan noch ersichtlich. Zwar erfolgten die streitgegenständlichen Telefonanrufe bereits im November 2022 und 08.12.2022. Es ist jedoch keineswegs unplausibel, dass die Kundin des Verfügungsklägers, Frau S. B., diesen anlässlich eines Kundengesprächs erst am 21.12. oder 22.12.2022 über die Anrufe informierte. Dieses Datum passt auch in den vom Verfügungskläger geschilderten weiteren zeitlichen Ablauf (Übersendung der Belege durch Frau B. am 23.12.2022, Abgabe der eidesstattlichen Versicherung durch Frau B. am 28.12.2022).

Eine andere Beurteilung ist auch nicht aufgrund der eidesstattlichen Versicherung von Frau N. vom 16.03.2023 veranlasst, in welcher Frau N. ausführte,

„dass Frau B. mir erklärte, dass sie sich unterdessen mit ihrem Berater besprochen hätte, der ihr gesagt habe, dass sie den Riestervertrag beitragsfrei gestellt lassen solle und dass sie sich auf kein Gespräch einlassen solle.“

Zum einen bestätigt Frau B. eine derartige Äußerung in ihrer eidesstattlichen Versicherung nicht. Zum anderen ergibt sich aus der eidesstattlichen Versicherung nicht, ob Frau B. mit Berater den Verfügungskläger meinte. Schließlich kann den Ausführungen nicht entnommen werden, ob Frau B. ihren Berater auch über die unzulässigen Telefonanrufe informierte.

3. Das Ausschöpfen der zur Einlegung und Begründung der Berufung gesetzlich vorgesehenen Fristen (§ 517, § 520 Abs. 2 ZPO) ist im vorliegenden Fall nicht dringlichkeitsschädlich.

Zwar haben die gesetzlichen Berufungseinlegungs- und -begründungsfristen mit der Dringlichkeit an sich nichts zu tun (Teplitzky, WRP 2013, 1414 Rn. 10 ff.). Die Funktion der Rechtsmittelfristen ist es, in Zivilverfahren einen für beide Parteien verlässlichen zeitlichen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen ein Rechtsmittel zulässig ist. Diese Funktion wird vom Ergebnis der Dringlichkeitsprüfung nicht berührt, da das Rechtsmittel auch dann zulässig bleibt, wenn der Verfügungsgrund verneint wird.

Dennoch schließt sich der Senat der im Wettbewerbsrecht weit überwiegend vertretenen Auffassung an, wonach das volle Ausschöpfen der gesetzlichen Berufungseinlegungs- und -begründungsfristen in der Regel nicht dringlichkeitsschädlich ist (MüKoUWG/Schlingloff, 3. Aufl. 2022, UWG § 12 Rn. 89; Köhler/Feddersen, in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl. 2023, § 12 Rn. 2.16; OLG Bremen, GRUR-RR 2015, 345 – rent a rentner; OLG München, GRUR-RR 2016, 499 Rn. 77 – Verkaufsaktion für Brillenfassungen; OLG Hamburg, GRUR-RR 2018, 27 Rn. 36 – HSA FREI). Die Ausschöpfung der Berufungsbegründungsfrist ist den Berufungsführern gesetzlich zugestanden; im Hinblick auf die Länge dieser Fristen differenziert das Gesetz – was man rechtspolitisch kritisieren können mag – nicht zwischen Hauptsache- und Eilverfahren. Der Gesetzgeber gibt damit zu erkennen, dass er die Zeit von insgesamt 2 Monaten für ausreichend, aber auch erforderlich hält, um das Rechtsmittel in der gebotenen Weise zu begründen, was sich mittelbar auch auf die Frage der Dringlichkeitsschädlichkeit auswirkt. Solange die Partei nur die ihr gesetzlich eingeräumten Fristen wahrnimmt, dürfen aus dem damit in Zusammenhang stehenden (zulässigen) prozessualen Verhalten auch aus Rechtssicherheitsgründen grundsätzlich keine Rückschlüsse für die Frage gezogen werden, wie eilig es ihr damit ist, ihr Ziel im einstweiligen Rechtsschutz zu erreichen.

Entgegen der Argumentation des Vertreters der Verfügungsbeklagten in der mündlichen Verhandlung liegt darin auch kein Wertungswiderspruch zur Rechtsprechung des Senats, dass die Beantragung und Ausnutzung einer Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist regelmäßig dringlichkeitsschädlich ist. Eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist setzt nach § 520 Abs. 2 S. 3 ZPO besondere Umstände voraus, insbesondere das Fehlen einer Verzögerung oder erhebliche Gründe. Die Verlängerung stellt damit nach der Gesetzessystematik einen begründungsbedürftigen Ausnahmefall dar. Es gilt in diesem Fall daher nicht mehr die Wertung des Gesetzgebers, dass die in prozessualer Hinsicht zur Berufungsbegründung zur Verfügung stehende Frist auch im Hinblick auf die Dringlichkeit in der Regel als unbedenklich angesehen werden kann.

Lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen kann eine Selbstwiderlegung durch verzögertes Betreiben des Verfahrens auch bei der Einhaltung der Rechtsmittelfristen entfallen. Ein solcher Sonderfall kommt im Rahmen der Gesamtwürdigung allenfalls in Betracht, wenn zum einen eine tatsächlich und rechtlich äußerst einfache Fallgestaltung gegeben ist, bei der keinerlei weitere tatsächliche Ermittlungen anzustellen und keine weiteren Glaubhaftmachungsmittel zu beschaffen sind, und wenn zum anderen der Verfügungskläger auch durch sein sonstiges Verhalten zum Ausdruck bringt, dass ihm selbst die Sache nicht so eilig ist. Vorliegend handelt es sich weder um eine äußerst einfache Fallgestaltung, da das Landgericht die erlassene einstweilige Verfügung wegen des Nichteinhaltens der Vollziehungsfrist aufhob, noch sind weitere Aspekte dargetan oder ersichtlich, die demonstrieren würden, dass der Verfügungskläger das Verfahren in der Berufungsinstanz nicht mit der gebotenen Zügigkeit betreibt. Insbesondere musste sich die Verfügungsklägerin nach dem die Verfügung aufhebenden Ersturteil erstmals mit den tatsächlichen und rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Wahrung der Vollziehungsfrist befassen.

III.

Die Beschlussverfügung wurde innerhalb der Vollziehungsfrist des § 929 Abs. 2 ZPO ordnungsgemäß zugestellt.

1. Nach § 929 Abs. 2, § 936 ZPO ist die Vollziehung einer einstweiligen Verfügung unstatthaft, wenn seit dem Tag, an dem der Arrestbefehl/das Verfügungsurteil verkündet oder der Partei, auf deren Gesuch er erging, zugestellt wurde, ein Monat verstrichen ist. Bei einer Anordnung durch Beschluss wird diese Frist mit dessen Amtszustellung an den Gläubiger (vgl. § 329 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 ZPO) in Gang gesetzt. In dem Falle, dass der Antragsgegner bereits einen Prozessbevollmächtigten bestellt hatte, kann wirksam nur an diesen zugestellt werden (§ 191, § 172 Abs. 1 ZPO).

Grundsätzlich liegt in dem Umstand, dass ein Anwalt eine Partei im vorgerichtlichen Abmahnverfahren vertritt, nicht automatisch eine Bestellung für ein nachfolgendes Gerichtsverfahren, auch wenn vorprozessual mitgeteilt wurde, dem Anwalt sei Zustellungsvollmacht erteilt (OLG Düsseldorf, GRUR 2005, 102 – Elektronischer Haartrockner; OLG Hamburg, GRUR-RR 2006, 355 – Stadtkartenausschnitt). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass dann, wenn sich ein Prozessvertreter (nur) für das Hauptsacheverfahren angezeigt hat, im Regelfall Zustellungen im Verfügungsverfahren wirksam an die Partei selbst vorgenommen werden können (OLG Nürnberg, NJOZ 2002, 1175).

2. Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs genügt die nicht näher spezifizierte Mitteilung im anwaltlichen Schreiben vom 09.01.2023 nicht, damit wirksam nur an den Prozessbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten zugestellt werden konnte. Das Schreiben erfolgte in Reaktion auf die vorgerichtliche Abmahnung, darin wurde lediglich die (außergerichtliche) anwaltliche Vertretung der Verfügungsbeklagten und die (allgemeine) Zustellungsbevollmächtigung angezeigt.

Eine andere Beurteilung ist auch nicht wegen des pauschalen Vortrags der Verfügungsbeklagten veranlasst, wonach eine Vielzahl von Parallelverfahren zwischen den Parteien bestünde, bei denen die Verfügungsbeklagte immer von den hiesigen Prozessbevollmächtigten außergerichtlich und gerichtlich vertreten worden sei. Denn der Verfügungskläger trägt unwidersprochen vor, dass es sich bei dem Streitfall um den ersten Aktivprozess handele, den er über seine Prozessbevollmächtigten gegen die hiesige Verfügungsbeklagte eingeleitet habe. Alle vorangehenden Gerichtsverfahren – darunter lediglich zwei Verfügungsverfahren – seien hingegen von der Verfügungsbeklagten eingeleitet worden. Eine tatsächliche Übung, wonach bei einer Anzeige der Bevollmächtigung in einem anwaltlichen Schreiben, die als Reaktion auf eine vorgerichtliche Abmahnung erfolgte, auch eine Prozessvertretung im gerichtlichen Verfahren einschließlich Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes umfasst ist, konnte damit nicht entstehen.

C.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.

Eines Ausspruchs über die vorläufige Vollstreckbarkeit bedarf es wegen § 542 Abs. 2 S. 1 ZPO nicht.

Die Festsetzung des Streitwerts erfolgte in Anwendung von § 3 ZPO, §§ 47, 48, 51 Abs. 2 GKG.

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