BGH: Dieselverfahren – Anspruch auf Differenzschadensersatz aufgrund unrichtiger Übereinstimmungsbescheinigung
BGH, Urteil vom 16.10.2023 – VIa ZR 374/22
ECLI:DE:BGH:2023:161023UVIAZR374.22.0
Volltext: BB-Online BBL2023-2754-1
Amtlicher Leitsatz
Unter den Voraussetzungen des § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung vom 21. April 2009 steht auch dem Käufer eines vor Geltung der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung vom 3. Februar 2011 aufgrund einer unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung in Verkehr gebrachten Kraftfahrzeugs ein Anspruch gegen den Fahrzeughersteller auf Ersatz des Differenzschadens zu.
Sachverhalt
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Die Klägerin erwarb am 22. März 2013 von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten BMW X1, der mit einem Motor der Baureihe N47 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist. Das Fahrzeug verfügt über eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster).
Die Klägerin hat zuletzt beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 21.312,96 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs (Berufungsantrag zu I) und zur Zahlung ausgerechneter Deliktszinsen (Berufungsantrag zu II) zu verurteilen. Ferner hat sie die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten (Berufungsantrag zu III) und die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten (Berufungsantrag zu IV) begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Schlussanträge aus der Berufungsinstanz zu I, zu III und zu IV mit der Maßgabe weiter, dass sie mit dem Berufungsantrag zu I nur noch eine Hauptforderung in Höhe von 20.649,79 € nebst Zinsen geltend macht.
Aus den Gründen
4 Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
5 I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
6 Die Tatbestandsvoraussetzungen eines Anspruchs nach § 826 BGB seien nicht gegeben. Ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten liege nicht deshalb vor, weil sie den Fahrzeugtyp mit dem Thermofenster ausgestattet habe. Eine möglicherweise nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage bei der Beurteilung der Zulässigkeit des Thermofensters genüge nicht für die Feststellung einer besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens. Vorstehendes gelte sinngemäß für die weiteren behaupteten Abschalteinrichtungen, für deren Vorhandensein es im Übrigen an greifbaren Anhaltspunkten fehle. Der Klägerin stehe auch kein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu, weil diese Vorschriften keine Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB seien.
7 II. Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
8 1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.
9 2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung des Thermofensters aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass der Berufungsentscheidung entschieden hat, sind die bei Eintritt des Schadens durch Abschluss des Kaufvertrags im Jahr 2013 geltenden Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung (EG-FGV) vom 3. Februar 2011 (BGBl. I S. 126; künftig: EG-FGV n.F.) Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 9; 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ). Dasselbe gilt für die im Zeitpunkt der Verletzungshandlung durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs im Jahr 2010 maßgeblichen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung vom 21. April 2009 (BGBl. I S. 872, 873; künftig: EG-FGV a.F.), die als Artikel 1 der Verordnung über die Neuordnung des Rechts der Erteilung von EG-Genehmigungen für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge vom 21. April 2009 (BGBl. I S. 872; künftig: Mantelverordnung) erlassen wurden.
10 a) Beide Fassungen der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung dienten der Umsetzung unter anderem der Richtlinie 2007/46/EG, die nach ihrem Artikel 50 bereits am 29. Oktober 2007 in Kraft getreten war. Die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV in ihrer alten und neuen Fassung sind zudem wortgleich. Nach der gebotenen unionsrechtlichen Lesart (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 32) bezweckten und bezwecken beide Fassungen den Schutz von Käufern mit unzulässigen Abschalteinrichtungen versehener Kraftfahrzeuge vor einer Vermögenseinbuße in Gestalt eines Differenzschadens.
11 b) Die § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV a.F. waren im Zeitpunkt der Verletzungshandlung im Jahr 2010 gültig. Zwar begründete der Verordnungsgeber den Neuerlass der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung im Jahr 2011 damit, es seien Zweifel aufgetreten, ob formale Rechtsfehler der Vergangenheit (gemeint: mögliche Verstöße gegen das Zitiergebot) Auswirkungen auf die Geltung von Bestandteilen "auch dieser Verordnung" (gemeint: der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung a.F.) hätten (vgl. BR-Drucks. 725/10, S. 34). Diese Zweifel waren aber tatsächlich unbegründet. Die Angabe der Ermächtigungsgrundlagen als "Sammelzitat" ausschließlich im Vorspruch der Mantelverordnung genügte entgegen in der Literatur geäußerter Bedenken (Füßer/Stöckel, NVwZ 2010, 414, 416 f.) den Vorgaben des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG.
12 aa) Der Verordnungsgeber wird durch die Pflicht zur Angabe der Ermächtigungsgrundlage angehalten, sich der Reichweite seiner Rechtsetzungsbefugnis zu vergewissern. Normadressaten und Gerichten wird ermöglicht zu prüfen, ob der Verordnungsgeber bei Erlass der Norm von einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage Gebrauch machen wollte und ob die getroffene Regelung sich im Rahmen der Ermächtigung hält (BVerfGE 24, 184, 196; 101, 1, 42; 136, 69 Rn. 99). Erlässt der Verordnungsgeber Mantelverordnungen, fasst er mehrere Normen zu einer Rechtsverordnung als rechtstechnische Einheit zusammen. Um dem Zitiergebot Rechnung zu tragen, kann er die den Inhalt der gesamten Mantelverordnung tragenden Ermächtigungsgrundlagen auch im Vorspruch dieser Verordnung nennen (vgl. Thüringer Verfassungsgerichtshof, Urteil vom 1. März 2021 - 18/20, juris Rn. 537; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. August 2017 - 13 A 311/15, juris Rn. 9; OVG Thüringen, Beschluss vom 18. Februar 2021 - 3 EN 67/21, juris Rn. 35; vgl. auch OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 31. Mai 2007 - 3 M 53/07, juris Rn. 32 zu Art. 57 Abs. 1 Satz 3 LV MV).
13 bb) So ist der Verordnungsgeber bei Erlass der Mantelverordnung verfahren. Im Vorspruch der Mantelverordnung hat er im Einzelnen angegeben, von welchen Ermächtigungsgrundlagen er Gebrauch machen wollte. Damit war sichergestellt, dass die Normadressaten und Gerichte prüfen konnten, ob die getroffenen Regelungen von den in Anspruch genommenen Ermächtigungsgrundlagen gedeckt waren.
14 Zugleich war erkennbar, auf welche maßgeblichen und vollständig zitierten Ermächtigungsgrundlagen sich der Erlass der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung a.F. stützte. Denn die EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung a.F. wurde in Artikel 1 der Mantelverordnung erlassen. Artikel 2 bis 4 der Mantelverordnung beschränkten sich auf wenige Änderungen anderer Verordnungen, so auf Folgeänderungen wegen des Erlasses der EG-Fahrzeuggenehmigungs-verordnung a.F., und auf Anpassungen wegen der Ersetzung der Richtlinien 70/150/EWG und 92/53/EWG durch die Richtlinie 2007/46/EG (vgl. BR-Drucks. 190/09, S. 60), deren Umsetzung der Erlass der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung a.F. diente. Artikel 5 der Mantelverordnung regelte schlicht die Aufhebung der Vorgängervorschriften, Artikel 6 der Mantelverordnung das Inkrafttreten. Aufgrund des untergeordneten Regelungsgehalts der Artikel 2 bis 6 der Mantelverordnung war das Auffinden der Ermächtigungsgrundlagen für die in der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung a.F. getroffenen Regelungen nicht in einer Weise erschwert, die zu einer Nichtigkeit wegen eines Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG hätte führen können (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. August 2017 - 13 A 311/15, juris Rn. 9 ff.; OVG Thüringen, Beschluss vom 18. Februar 2021 - 3 EN 67/21, juris).
15 cc) Unerheblich ist, ob die in den Artikeln 2 bis 4 getroffenen Regelungen in den im Vorspruch der Mantelverordnung angeführten Bestimmungen eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage fanden (vgl. BR-Drucks. 723/10, S. 39; BR-Drucks. 724/10, S. 129; BR-Drucks. 861/11, S. 447 zur Neufassung der insoweit geänderten Verordnungen). Sollte dies nicht der Fall gewesen sein, hätte dies jedenfalls nicht die Nichtigkeit der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung a.F. zur Folge gehabt, weil sie eine selbständige Bedeutung hatte und ihre Rechtfertigung nicht verloren hätte, wenn die in den Artikeln 2 bis 4 getroffenen Regelungen nichtig gewesen wären (vgl. BVerfGE 8, 274, 301; 102, 26, 40; 128, 282, 321; BVerfG, NJW 2023, 2405 Rn. 238; Wienbracke, NJW 2020, 3351 Rn. 10; Will, NZV 2020, 601, 606).
16 c) Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; siehe auch BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
17 III. Die angefochtene Entscheidung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 ZPO, weil sie sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Das Berufungsgericht hat keine tragfähigen Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage eine deliktische Haftung der Beklagten wegen einer jedenfalls fahrlässigen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verneint werden könnte. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
18 Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.