BGH: Dieselfall – sekundäre Darlegungslast des Kfz-Herstellers bzgl. der Kenntnis seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter über Verwendung einer „Täuschungssoftware“
BGH, Urteil vom 26.4.2022 – VI ZR 965/20
ECLI:DE:BGH:2022:260422UVIZR965.20.0
Volltext: BB-Online BBL2022-1345-2
Leitsatz
Eine sekundäre Darlegungslast eines Fahrzeugherstellers zu Vorgängen innerhalb seines Unternehmens, die auf eine Kenntnis seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter von der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung schließen lassen sollen, setzt jedenfalls voraus, dass das (unstreitige oder nachgewiesene) Parteivorbringen hinreichende Anhaltspunkte enthält, die einen solchen Schluss nahelegen (Senatsurteile vom 21. Dezember 2021 - VI ZR 875/20, MDR 2022, 308 [BB 2022, 257 Ls] Rn. 14 und vom 8. März 2021 - VI ZR 505/19, NJW 2021, 1669 Rn. 28; jeweils mwN).
Sachverhalt
Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasrückführung in Anspruch.
Im Juni 2015 erwarb die Klägerin von einem Dritten einen gebrauchten, von der Beklagten hergestellten Pkw Audi A1 Sportback zum Kaufpreis von 18.480 €. Das Fahrzeug verfügt über einen von der VW AG hergestellten, von der Beklagten im Fahrzeug verbauten Dieselmotor des Typs EA189. Die im Zusammenhang mit dem Motor ursprünglich verwendete Software erkannte, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wurde, und schaltete in diesem Fall vom regulären Abgasrückführungsmodus 0 in einen Stickoxid-optimierten Abgasrückführungsmodus 1 mit entsprechend niedrigeren Stickoxidemissionen.
Nachdem die Verwendung der genannten Software im September 2015 bekannt geworden war, ordnete das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) den Rückruf aller mit der vorstehend beschriebenen Software ausgerüsteten Fahrzeuge an. In der Folge bot die Beklagte an, kostenfrei ein von der VW AG entwickeltes Software-Update auf die betroffenen Fahrzeuge aufzuspielen, das bewirkt, dass der Motor durchgängig in einem angepassten Betriebsmodus 1 betrieben wird. Die Klägerin ließ das Software-Update auf das von ihr erworbene Fahrzeug aufspielen.
Im Wesentlichen mit der Behauptung, von der Beklagten vorsätzlich über das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung getäuscht und zum Abschluss des Kaufvertrags über das streitgegenständliche Fahrzeug veranlasst worden zu sein, hat die Klägerin in der Hauptsache beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 18.453,80 € Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des von ihr erworbenen Fahrzeugs zu zahlen. Das Landgericht hat der Klage - unter Klageabweisung im Übrigen - in Höhe eines Betrags von 17.723,80 € stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung dahingehend abgeändert, dass die Beklagte verurteilt wird, an die Klägerin 18.480 € abzüglich eines Betrages von 0,076 € - bei der Angabe "0,0076 €" im Tenor handelt es sich um ein offensichtliches Schreibversehen - für jeden von der Klägerin mit dem Fahrzeug über den Tachostand von 8.360 km hinaus gefahrenen Kilometer, mindestens aber 2.696,60 €, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs zu zahlen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte weiterhin das Ziel der vollständigen Abweisung der Klage. Die Klägerin verfolgt mit ihrer Anschlussrevision das Ziel, den vom Berufungsgericht vorgenommenen Abzug für jeden über den Tachostand von 8.360 km hinaus gefahrenen Kilometer um 0,013 € auf 0,063 € zu verringern.
Aus den Gründen
I.
5 Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren relevant - im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe gegen die Beklagte aus §§ 826, 31 BGB ein Schadensersatzanspruch in Höhe des von ihr aufgewendeten Kaufpreises abzüglich eines Ersatzes für die erlangten Gebrauchsvorteile Zug um Zug gegen Übereignung des von ihr erworbenen Fahrzeugs zu. Die maßgebliche Schädigungshandlung auf Seiten der Beklagten sei das Inverkehrbringen des mit der Umschaltlogik versehenen Motors beziehungsweise des mit dem Motor ausgestatteten Fahrzeugs. Durch den Abschluss des ungewollten Kaufvertrages habe die Klägerin einen Schaden erlitten. Die Beklagte habe auch sittenwidrig gehandelt. Als Beweggrund für das Inverkehrbringen des mit der unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs komme allein eine angestrebte Kostensenkung und Gewinnmaximierung durch hohe Absatzzahlen in Betracht. Zwar sei allein ein Handeln mit Gewinnstreben nicht per se als verwerflich zu beurteilen. Im Hinblick auf das eingesetzte Mittel sei das Handeln der Beklagten hier aber verwerflich, wobei bereits das Ausmaß der (konkludenten) Täuschung das besondere Unwerturteil rechtfertige. Denn die unzulässige Abschalteinrichtung sei in einer hohen Zahl von Fahrzeugen verschiedener Marken des VW-Konzerns mit der Folge einer entsprechend hohen Anzahl getäuschter Käufer verbaut.
6 Die subjektiven Voraussetzungen einer Haftung der Beklagten nach §§ 826, 31 BGB lägen ebenfalls vor. Denn nach dem prozessual zugrunde zu legenden Sach- und Streitstand stehe fest, dass der Vorstand der Beklagten, jedenfalls aber die Mitarbeiter des oberen Managements, nicht nur über umfassende Kenntnis von dem Einsatz der Software zur Motorsteuerung verfügt, sondern die Herstellung und das Inverkehrbringen der entsprechend ausgerüsteten Motoren auch in der Vorstellung veranlasst hätten, dass diese unverändert und ohne entsprechenden Hinweis weiter veräußert würden, obwohl die materiellen Typgenehmigungsvoraussetzungen fehlten und dies für die Käufer wesentlich sei. Die für die Voraussetzungen von §§ 826, 31 BGB grundsätzlich darlegungs- und beweisbelastete Klägerin habe insoweit vorgetragen, dass die Beklagte sie vorsätzlich getäuscht habe, wobei der Vorstand der Beklagten von der Manipulation gewusst und mit entsprechendem Schädigungsvorsatz gehandelt habe. Da sie außerhalb des für ihren Anspruch erheblichen Geschehensablaufs stehe, während die Beklagte alle wesentlichen Tatsachen kenne, treffe die Beklagte eine sekundäre Darlegungslast. Mit Blick auf die Konzernverbundenheit und die personellen Verflechtungen zwischen der Beklagten und der VW AG ändere daran auch der Umstand nichts, dass der in Rede stehende Motor nicht von der Beklagten selbst, sondern von der VW AG hergestellt worden sei. Ihrer sekundären Darlegungslast sei die Beklagte nicht hinreichend nachgekommen, weshalb der Vortrag der Klägerin als zugestanden anzusehen sei.
7 Auf ihren Schadensersatzanspruch müsse sich die Klägerin allerdings im Wege des Vorteilsausgleichs einen Ersatz für die erlangten Gebrauchsvorteile anrechnen lassen. Bei der Berechnung der Entschädigung für die gezogenen Nutzungen habe das Landgericht zutreffend den für jeden gefahrenen Kilometer in Abzug zu bringenden Betrag in der Weise ermittelt, dass es den vereinbarten Bruttokaufpreis durch die im Kaufzeitpunkt zu erwartende Restlaufleistung geteilt habe. Dem Landgericht sei es allerdings verwehrt gewesen, die Gesamtfahrleistung des von der Klägerin erworbenen Fahrzeugs analog § 287 ZPO auf 300.000 km zu schätzen, nachdem die Klägerin in der Klageschrift selbst eine Gesamtfahrleistung von nur 250.000 km behauptet habe.
II.
8 1. Die zulässige Revision ist begründet.
9 a) Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB können mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht bejaht werden. Das Berufungsgericht hat nicht rechtsfehlerfrei angenommen, dass ein verfassungsmäßig berufener Vertreter der Beklagten im Sinne von § 31 BGB die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 826 BGB verwirklicht hat. Die bisher getroffenen Feststellungen tragen bereits nicht die Annahme des Berufungsgerichts, ein verfassungsmäßig berufener Vertreter der Beklagten habe durch das Inverkehrbringen des von der Klägerin erworbenen Fahrzeugs mit dem Dieselmotor der Baureihe EA189 sittenwidrig gehandelt.
10 aa) Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung handelt ein Automobilhersteller gegenüber dem Fahrzeugkäufer sittenwidrig, wenn er entsprechend seiner grundlegenden strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und die ordnungsgemäße Durchführung des Typgenehmigungsverfahrens als selbstverständlich voraussetzen, Fahrzeuge mit einer Motorsteuerung in Verkehr bringt, deren Software bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden, und damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abzielt. Ein solches Verhalten steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleich (vgl. nur Senatsurteile vom 21. Dezember 2021 - VI ZR 875/20, juris [BB 2022, 257 Ls] Rn. 9 [insoweit nicht abgedruckt in MDR 2022, 308]; vom 8. März 2021 - VI ZR 505/19, NJW 2021, 1669 Rn. 19; vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 [BB 2020, 1869] Rn. 16 ff.; BGH, Urteile vom 13. Januar 2022 - III ZR 205/20, WM 2022, 539 [BB 2022, 577 Ls] Rn. 18; vom 25. November 2021 - VII ZR 257/20, WM 2022, 87 [BB 2022, 78] Rn. 20). Ein sittenwidriges Vorgehen des betreffenden Automobilherstellers kommt dabei nicht nur dann in Betracht, wenn dieser den Motor samt "Täuschungssoftware" selbst hergestellt und entwickelt hat, sondern bereits dann, wenn seine verfassungsmäßig berufenen Vertreter zumindest wissen, dass die von einem anderen hergestellten Motoren mit einer auf arglistige Täuschung abzielenden Prüfstanderkennungssoftware ausgestattet sind, und sie Fahrzeuge in Kenntnis dieses Umstandes mit einem solchen Motor versehen und in den Verkehr bringen (Senatsurteile vom 21. Dezember 2021 - VI ZR 875/20, MDR 2022, 308 [BB 2022, 257 Ls] Rn. 11; vom 8. März 2021 - VI ZR 505/19, NJW 2021, 1669 Rn. 21).
11 bb) Ein derartiges Vorstellungsbild im Hinblick auf Personen, für die die Beklagte gemäß § 31 BGB einzustehen hat, hat das Berufungsgericht nicht rechtsfehlerfrei festgestellt. Zwar hat es ausgeführt, der Vorstand der Beklagten, jedenfalls aber die Mitarbeiter des oberen Managements der Beklagten, hätten nicht nur über umfassende Kenntnisse vom Einsatz der Software zur Motorsteuerung verfügt, sondern die Herstellung und das Inverkehrbringen der entsprechend ausgerüsteten Motoren in der Vorstellung veranlasst, dass diese unverändert und ohne entsprechenden Hinweis weiter veräußert würden, obwohl die materiellen Typgenehmigungsvoraussetzungen fehlten und dies für die Käufer wesentlich gewesen sei. Diese Feststellungen sind aber, wie die Revision zu Recht rügt, von Rechtsfehlern beeinflusst.
12 (1) Das Berufungsgericht hat die - nach den tatbestandlichen Feststellungen von der Beklagten bestrittene - Kenntnis ihrer verfassungsmäßig berufenen Vertreter von der Prüfstanderkennungssoftware auf die Erwägung gestützt, das entsprechende Klagevorbringen gelte als zugestanden, weil die Beklagte der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast nicht in ausreichendem Maße nachgekommen sei. Dies ist aus Rechtsgründen zu beanstanden, weil es an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen für die vom Berufungsgericht angenommene sekundäre Darlegungslast fehlt.
13 (2) Eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten zu Vorgängen innerhalb ihres Unternehmens, die auf eine Kenntnis ihrer verfassungsmäßig berufenen Vertreter von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung schließen lassen sollen, setzt jedenfalls voraus, dass das (unstreitige oder nachgewiesene) Parteivorbringen hinreichende Anhaltspunkte enthält, die einen solchen Schluss nahelegen (vgl. nur Senatsurteile vom 21. Dezember 2021 - VI ZR 875/20, MDR 2022, 308 [BB 2022, 257 Ls] Rn. 14; vom 8. März 2021 - VI ZR 505/19, NJW 2021, 1669 Rn. 28; jeweils mwN). Das aus dem Berufungsurteil oder dem Sitzungsprotokoll ersichtliche, also der Beurteilung des Revisionsgerichts nach § 559 Abs. 1 ZPO unterliegende Parteivorbringen bietet keine entsprechenden Anhaltspunkte.
14 (a) Anders als in dem der Senatsentscheidung vom 25. Mai 2020 (VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 [BB 2020, 1869]) zugrundeliegenden Sachverhalt steht im Streitfall nicht fest, dass die strategische Entscheidung, die Prüfstanderkennungssoftware zu entwickeln und in den Verkehr zu bringen, bei der Beklagten getroffen worden wäre oder dass verfassungsmäßig berufene Vertreter der Beklagten an einer solchen Entscheidung zumindest beteiligt gewesen wären. Vielmehr wurde der (auch) in das Fahrzeug der Klägerin eingebaute Motor nach den Feststellungen im Berufungsurteil von der VW AG hergestellt.
15 (b) Hinreichende Feststellungen zu sonstigen Anhaltspunkten im Parteivorbringen für eine Kenntnis verfassungsmäßig berufener Vertreter der Beklagten von der Verwendung der Prüfstanderkennungssoftware enthält das Berufungsurteil nicht. Der bloße, nicht weiter unterfütterte Hinweis auf die "Konzernverbundenheit und die personellen Verflechtungen zwischen der Beklagten und VW AG" im Berufungsurteil allein legt einen Schluss auf ein entsprechendes Vorstellungsbild nicht nahe und vermag eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten deshalb nicht zu begründen.
16 b) Die Verurteilung der Beklagten zum Schadensersatz stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Ein Anspruch der Klägerin aus § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit § 826 BGB kann ebenfalls nicht bejaht werden, weil das Berufungsgericht eine im Unternehmen der Beklagten vorhandene Kenntnis von der unzulässigen Abschalteinrichtung - wie gezeigt - nicht rechtsfehlerfrei festgestellt hat (vgl. Senatsurteile vom 21. Dezember 2021 - VI ZR 875/20, MDR 2022, 308 [BB 2022, 257 Ls] Rn. 17; vom 8. März 2021 - VI ZR 505/19, NJW 2021, 1669 Rn. 33 ff.). Ansprüche gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 VO 715/2007/EG scheiden ebenfalls aus (vgl. Senatsurteile vom 21. Dezember 2021 - VI ZR 875/20, MDR 2022, 308 [BB 2022, 257 Ls] Rn. 17; vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 10 ff.; Senatsbeschluss vom 15. Juni 2021 - VI ZR 566/20, juris Rn. 7 ff.; jeweils mwN).
17 2. Die zulässige Anschlussrevision, mit der sich die Klägerin allein dagegen wendet, dass das Berufungsgericht den im Rahmen der Vorteilsanrechnung pro gefahrenem Kilometer anzusetzenden Betrag auf der Grundlage einer voraussichtlichen Gesamtlaufleistung von 250.000 km mit 0,076 € anstatt auf der Grundlage einer voraussichtlichen Gesamtlaufleistung von 300.000 km mit nur 0,063 € bemessen hat, hat ebenfalls Erfolg. Die Revision rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht keine eigene Schätzung durchgeführt und insoweit zudem aus dem Blick verloren hat, dass sich die Klägerin die Annahme des Landgerichts, es sei von einer Gesamtlaufleistung von 300.000 Kilometer auszugehen, in der Berufungserwiderung zu eigen gemacht hat.