EuGH: DSGVO – Berichtigung von Daten betreffend Geschlechtsidentität unabhängig vom Nachweis einer Operation
EuGH, Urteil vom 13.3.2025 – C-247/23, VP gegen Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság
ECLI:EU:C:2025:172
Volltext: BB-Online BBL2025-705-1
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Tenor
1. Art. 16 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass danach eine mit der Führung eines öffentlichen Registers betraute nationale Behörde verpflichtet ist, personenbezogene Daten betreffend die Geschlechtsidentität einer natürlichen Person zu berichtigen, wenn diese Daten nicht richtig im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung sind.
2. Art. 16 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass eine natürliche Person für die Zwecke der Ausübung ihres Rechts auf Berichtigung von in einem öffentlichen Register enthaltenen personenbezogenen Daten betreffend ihre Geschlechtsidentität verpflichtet sein kann, relevante und hinreichende Nachweise vorzulegen, die von ihr vernünftigerweise verlangt werden können, um die Unrichtigkeit dieser Daten festzustellen. Ein Mitgliedstaat darf die Ausübung dieses Rechts jedoch keinesfalls mittels Verwaltungspraxis davon abhängig machen, dass eine geschlechtsangleichende Operation nachgewiesen wird.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen VP, einer natürlichen Person, und der Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság (Nationale Generaldirektion der Fremdenpolizei, Ungarn) (im Folgenden: Ausländerbehörde) wegen der Berichtigung von Daten betreffend die Geschlechtsidentität von VP in einem von dieser Behörde geführten öffentlichen Register.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 1, 10, 59 und 73 der DSGVO heißt es:
„(1) Der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ist ein Grundrecht. Gemäß Artikel 8 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden ‚Charta‘) sowie Artikel 16 Absatz 1 [AEUV] hat jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.
…
(10) Um ein gleichmäßiges und hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen zu gewährleisten und die Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten in der [Europäischen] Union zu beseitigen, sollte das Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung dieser Daten in allen Mitgliedstaaten gleichwertig sein. Die Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sollten unionsweit gleichmäßig und einheitlich angewandt werden. Hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung oder zur Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, nationale Bestimmungen, mit denen die Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung genauer festgelegt wird, beizubehalten oder einzuführen. …
…
(59) Es sollten Modalitäten festgelegt werden, die einer betroffenen Person die Ausübung der Rechte, die ihr nach dieser Verordnung zustehen, erleichtern, darunter auch Mechanismen, die dafür sorgen, dass sie unentgeltlich insbesondere Zugang zu personenbezogenen Daten und deren Berichtigung oder Löschung beantragen und gegebenenfalls erhalten oder von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch machen kann. …
…
(73) Im Recht der Union oder der Mitgliedstaaten können Beschränkungen hinsichtlich bestimmter Grundsätze und hinsichtlich des Rechts auf … Berichtigung oder Löschung personenbezogener Daten … vorgesehen werden, soweit dies in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismäßig ist, um die öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten, wozu unter anderem … die Verhütung, Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung – was auch den Schutz vor und die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit einschließt – … oder … das Führen öffentlicher Register aus Gründen des allgemeinen öffentlichen Interesses … gehört, und zum Schutz sonstiger wichtiger Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses der Union oder eines Mitgliedstaats, … oder die betroffene Person und die Rechte und Freiheiten anderer Personen, einschließlich in den Bereichen soziale Sicherheit, öffentliche Gesundheit und humanitäre Hilfe, zu schützen. Diese Beschränkungen sollten mit der Charta und mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] im Einklang stehen.“
4 Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) Abs. 2 DSGVO lautet:
„Diese Verordnung schützt die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten.“
5 Art. 2 („Sachlicher Anwendungsbereich“) Abs. 1 DSGVO lautet:
„Diese Verordnung gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.“
6 In Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) DSGVO heißt es:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
1. ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann;
2. ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung;
…“
7 Art. 5 („Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten“) Abs. 1 DSGVO bestimmt:
„Personenbezogene Daten müssen
…
d) sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sein; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit personenbezogene Daten, die im Hinblick auf die Zwecke ihrer Verarbeitung unrichtig sind, unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden (‚Richtigkeit‘);
…“
8 Art. 6 („Rechtmäßigkeit der Verarbeitung“) DSGVO sieht vor:
„(1) Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist:
…
c) die Verarbeitung ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der der Verantwortliche unterliegt;
…
e) die Verarbeitung ist für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde;
…
(2) Die Mitgliedstaaten können spezifischere Bestimmungen zur Anpassung der Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung in Bezug auf die Verarbeitung zur Erfüllung von Absatz 1 Buchstaben c und e beibehalten oder einführen, indem sie spezifische Anforderungen für die Verarbeitung sowie sonstige Maßnahmen präziser bestimmen, um eine rechtmäßig und nach Treu und Glauben erfolgende Verarbeitung zu gewährleisten, einschließlich für andere besondere Verarbeitungssituationen gemäß Kapitel IX.
(3) Die Rechtsgrundlage für die Verarbeitungen gemäß Absatz 1 Buchstaben c und e wird festgelegt durch
a) Unionsrecht oder
b) das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt.
Der Zweck der Verarbeitung muss in dieser Rechtsgrundlage festgelegt oder hinsichtlich der Verarbeitung gemäß Absatz 1 Buchstabe e für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sein, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. Diese Rechtsgrundlage kann spezifische Bestimmungen zur Anpassung der Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung enthalten, unter anderem Bestimmungen darüber, welche allgemeinen Bedingungen für die Regelung der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung durch den Verantwortlichen gelten, welche Arten von Daten verarbeitet werden, welche Personen betroffen sind, an welche Einrichtungen und für welche Zwecke die personenbezogenen Daten offengelegt werden dürfen, welcher Zweckbindung sie unterliegen, wie lange sie gespeichert werden dürfen und welche Verarbeitungsvorgänge und ‑verfahren angewandt werden dürfen, einschließlich Maßnahmen zur Gewährleistung einer rechtmäßig und nach Treu und Glauben erfolgenden Verarbeitung, wie solche für sonstige besondere Verarbeitungssituationen gemäß Kapitel IX. Das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten müssen ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen.
…“
9 Art. 16 („Recht auf Berichtigung“) DSGVO bestimmt:
„Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen unverzüglich die Berichtigung sie betreffender unrichtiger personenbezogener Daten zu verlangen. Unter Berücksichtigung der Zwecke der Verarbeitung hat die betroffene Person das Recht, die Vervollständigung unvollständiger personenbezogener Daten – auch mittels einer ergänzenden Erklärung – zu verlangen.“
10 Art. 23 („Beschränkungen“) Abs. 1 DSGVO bestimmt:
„Durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten, denen der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter unterliegt, können die Pflichten und Rechte gemäß den Artikeln 12 bis 22 und Artikel 34 sowie Artikel 5, insofern dessen Bestimmungen den in den Artikeln 12 bis 22 vorgesehenen Rechten und Pflichten entsprechen, im Wege von Gesetzgebungsmaßnahmen beschränkt werden, sofern eine solche Beschränkung den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten achtet und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, die Folgendes sicherstellt:
a) die nationale Sicherheit;
b) die Landesverteidigung;
c) die öffentliche Sicherheit;
d) die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit;
e) den Schutz sonstiger wichtiger Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses der Union oder eines Mitgliedstaats, insbesondere eines wichtigen wirtschaftlichen oder finanziellen Interesses der Union oder eines Mitgliedstaats, etwa im Währungs‑, Haushalts- und Steuerbereich sowie im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der sozialen Sicherheit;
…
h) Kontroll‑, Überwachungs- und Ordnungsfunktionen, die dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt für die unter den Buchstaben a bis e und g genannten Zwecke verbunden sind;
…“
Ungarisches Recht
11 § 81 des Menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht) vom 29. Juni 2007 (Magyar Közlöny 2007/83, im Folgenden: Asylgesetz) lautet:
„Die Ausländerbehörde verwaltet die personenbezogenen Daten der Flüchtlinge, Personen mit subsidiärem Schutzstatus, aufgenommenen Personen, Personen mit vorübergehendem Schutzstatus sowie ihre Anerkennung beantragenden Personen und unter das Dubliner Verfahren fallenden Personen (im Folgenden zusammen: unter dieses Gesetz fallende Personen), die mit deren Aufenthalt und den ihnen zustehenden Versorgungsleistungen und Beihilfen zusammenhängenden Daten sowie die dabei eingetretenen Veränderungen im Flüchtlingsregister
a) zur Feststellung des Bestehens der Rechtsstellung als Flüchtling, Person mit subsidiärem Schutzstatus, Person mit vorübergehendem Schutzstatus bzw. aufgenommene Person und zur Gewährung der daran geknüpften Berechtigungen,
b) zur Feststellung der Berechtigung zu der in diesem Gesetz und in einer Rechtsnorm festgelegten Versorgung und Beihilfe,
c) zur Identifizierung,
d) zur Verhinderung paralleler Verfahren sowie
e) zur Feststellung der mehrmaligen Einreichung eines Antrags.“
12 In § 82 des Asylgesetzes heißt es:
„Identifikationsdaten natürlicher Personen im Sinne dieses Abschnitts sind die folgenden Daten der unter dieses Gesetz fallenden Personen:
…
f) Geschlecht“.
13 § 83 Abs. 1 des Asylgesetzes bestimmt:
„Das Flüchtlingsregister enthält die folgenden Daten der unter dieses Gesetz fallenden Personen:
a) die Identifikationsdaten natürlicher Personen;
…“
14 § 83A. Abs. 5 des Asylgesetzes lautet:
„Die Ausländerbehörde muss [im Flüchtlingsregister] von Amts wegen eine rechtswidrige Eintragung löschen, eine falsche Eintragung berichtigen oder eine versäumte Eintragung nachholen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15 VP ist eine Person mit iranischer Staatsangehörigkeit, der 2014 in Ungarn die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Zur Stützung ihres Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hatte sich VP auf ihre Transidentität berufen und psychiatrische und gynäkologische Atteste vorgelegt. Nach diesen Attesten wurde VP zwar als Frau geboren, hatte jedoch eine männliche Geschlechtsidentität. Nach der Zuerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft auf dieser Grundlage wurde VP aber als Frau in das Flüchtlingsregister eingetragen, das nach den Bestimmungen des Asylgesetzes von der Ausländerbehörde geführt wird und die Identifikationsdaten, darunter das Geschlecht, der natürlichen Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, enthält.
16 Im Jahr 2022 stellte VP bei der Ausländerbehörde nach Art. 16 DSGVO einen Antrag auf Berichtigung der Angabe ihres Geschlechts als männlich und auf Änderung ihres Vornamens im Flüchtlingsregister. VP fügte diesem Antrag die erwähnten ärztlichen Atteste bei. Mit Bescheid vom 11. Oktober 2022 lehnte die Ausländerbehörde den Antrag mit der Begründung ab, VP habe nicht nachgewiesen, dass sie sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen habe, und die vorgelegten Atteste belegten nur ihre Transidentität.
17 VP erhob gegen diesen Bescheid Nichtigkeitsklage beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem vorlegenden Gericht. Zur Stützung ihrer Klage macht VP geltend, dass Transidentität definitionsgemäß eine Änderung der Geschlechtsidentität bedeute und dass die vorgelegten ärztlichen Atteste diese Änderung bestätigten. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergebe sich, dass für die Anerkennung einer Geschlechtsidentitätsänderung keine geschlechtsangleichende Operation verlangt werden dürfe. Ein derartiges Erfordernis verstieße auch u. a. gegen die Art. 3 und 7 der Charta. Im Übrigen erkennten mehrere Mitgliedstaaten, darunter das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, Irland, die Hellenische Republik, die Republik Malta, die Portugiesische Republik und das Königreich Schweden, Veränderungen der Geschlechtsidentität auf der Grundlage von Erklärungen der betroffenen Personen an. VP führt aus, dass die zur Stützung ihrer Klage vorgelegten ärztlichen Atteste ihr ein männliches Aussehen bescheinigten und für diagnostische Zwecke ausdrücklich auf den Code F64.0 (betreffend Transidentität) der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedeten Internationalen Klassifikation der Krankheiten Bezug nähmen.
18 Die Ausländerbehörde beantragt, die Klage abzuweisen.
19 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts enthält das Asylgesetz zwar eine allgemeine Bestimmung über die Berichtigung falscher Eintragungen, jedoch sehe dieses Gesetz weder das Verfahren noch die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Änderung der Geschlechtsidentität und/oder des Vornamens im Zusammenhang mit einer solchen Änderung vor. Insoweit habe das Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht, Ungarn) in seinem Urteil Nr. 6/2018 vom 27. Juni 2018 festgestellt, dass es verfassungswidrig sei, dass der ungarische Gesetzgeber kein Verfahren erlassen habe, das es Personen, die sich rechtmäßig in Ungarn aufhielten, ohne ungarische Staatsangehörige zu sein, erlaube, die Angabe ihres Geschlechts und ihres Vornamens zu ändern, während ungarischen Staatsangehörigen eine solche Möglichkeit eingeräumt werde. Außerdem habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 16. Juli 2020, Rana/Ungarn (CE:ECHR:2020:0716JUD004088817), entschieden, dass Ungarn dadurch gegen die EMRK verstoßen habe, dass es für Flüchtlinge kein Verfahren zur rechtlichen Anerkennung einer Änderung der Geschlechtsidentität vorgesehen habe. Diese Situation der Regelungslücke bestehe seitdem trotz dieser Urteile fort.
20 Diese Situation werde durch den Umstand verschärft, dass es seit 2020 für ungarische Staatsangehörige keine Möglichkeit der rechtlichen Anerkennung einer Geschlechtsidentitätsänderung mehr gebe. Gerade wegen dieser fehlenden Anerkennungsmöglichkeit im nationalen Recht habe VP ihre Klage auf der Grundlage von Art. 16 DSGVO eingereicht. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Ausländerbehörde nach diesem Artikel verpflichtet ist, die im Flüchtlingsregister enthaltenen Daten betreffend das Geschlecht zu berichtigen, und, wenn ja, welche Beweise die betroffene Person zur Stützung ihres Antrags vorlegen müsse.
21 Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 16 DSGVO dahin auszulegen, dass die Behörde, die nach dem mitgliedstaatlichen Recht die Register führt, im Hinblick auf die Ausübung der Rechte der betroffenen Person verpflichtet ist, von ihr registrierte personenbezogene Daten betreffend das Geschlecht dieser Person zu berichtigen, wenn sich diese Daten seit ihrer Eintragung in das Register geändert haben und daher nicht dem in Art. 5 Abs. 1 Buchst. d DSGVO niedergelegten Grundsatz der Richtigkeit entsprechen?
2. Falls Frage 1 bejaht wird: Ist Art. 16 DSGVO dahin auszulegen, dass die Person, die die Berichtigung von Daten betreffend ihr Geschlecht beantragt, verpflichtet ist, Nachweise zur Begründung ihres Berichtigungsantrags vorzulegen?
3. Falls Frage 2 bejaht wird: Ist Art. 16 DSGVO dahin auszulegen, dass die antragstellende Person nachweisen muss, dass sie sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen hat?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
22 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 DSGVO dahin auszulegen ist, dass danach eine mit der Führung eines öffentlichen Registers betraute nationale Behörde verpflichtet ist, personenbezogene Daten betreffend die Geschlechtsidentität einer natürlichen Person zu berichtigen, wenn diese Daten nicht richtig im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung sind.
23 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die betroffene Person nach Art. 16 DSGVO das Recht hat, von dem Verantwortlichen unverzüglich die Berichtigung sie betreffender unrichtiger personenbezogener Daten zu verlangen. Unter Berücksichtigung der Zwecke der Verarbeitung hat die betroffene Person das Recht, die Vervollständigung unvollständiger personenbezogener Daten – auch mittels einer ergänzenden Erklärung – zu verlangen.
24 Diese Bestimmung konkretisiert das in Art. 8 Abs. 2 Satz 2 der Charta verankerte Grundrecht, wonach jede Person das Recht hat, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken.
25 Außerdem ist Art. 16 DSGVO zum einen im Licht von Art. 5 Abs. 1 Buchst. d DSGVO zu lesen, in dem der Grundsatz der Richtigkeit verankert ist, wonach die verarbeiteten Daten sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sein müssen, wobei alle angemessenen Maßnahmen zu treffen sind, damit Daten, die im Hinblick auf die Zwecke ihrer Verarbeitung unrichtig sind, unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden. Zum anderen ist diese Bestimmung auch im Licht des 59. Erwägungsgrundes der DSGVO zu lesen, wonach Modalitäten festgelegt werden sollten, die einer betroffenen Person die Ausübung der Rechte, die ihr nach dieser Verordnung zustehen, erleichtern, darunter auch Mechanismen, die dafür sorgen, dass sie unentgeltlich insbesondere die Berichtigung ihrer personenbezogenen Daten beantragen und gegebenenfalls erhalten kann.
26 Hierzu ist anzumerken, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Richtigkeit und die Vollständigkeit personenbezogener Daten im Hinblick auf den Zweck zu beurteilen sind, für den die Daten erhoben wurden (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Nowak, C‑434/16, EU:C:2017:994, Rn. 53).
27 Schließlich ist für die Auslegung von Art. 16 DSGVO noch darauf hinzuweisen, dass das Ziel der DSGVO, wie aus ihrem Art. 1 und aus ihren Erwägungsgründen 1 und 10 hervorgeht, insbesondere darin besteht, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen – insbesondere ihres in Art. 8 Abs. 1 der Charta und in Art. 16 Abs. 1 AEUV verankerten Rechts auf Privatleben – bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten (Urteil vom 9. Januar 2025, Mousse, C‑394/23, EU:C:2025:2, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Gemäß diesem Ziel muss jede Verarbeitung personenbezogener Daten insbesondere mit den in Art. 5 DSGVO aufgestellten Grundsätzen für die Verarbeitung solcher Daten, einschließlich des oben in Rn. 25 angeführten Grundsatzes der Richtigkeit, im Einklang stehen, aber auch die in Art. 6 DSGVO aufgezählten Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Januar 2025, Mousse, C‑394/23, EU:C:2025:2, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Unter diesen Umständen stellt es einen wesentlichen Aspekt des Schutzes der betroffenen Person bei der Verarbeitung personenbezogener Daten dar, dass diese Daten auf dem neuesten Stand sind.
30 Im vorliegenden Fall steht zum einen fest, dass die Information betreffend die Geschlechtsidentität von VP als „personenbezogene“ Angabe eingestuft werden kann, da sie sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person im Sinne von Art. 4 Nr. 1 DSGVO bezieht, und zum anderen, dass diese Angabe Gegenstand einer „Verarbeitung“ im Sinne von Art. 4 Nr. 2 DSGVO war, da sie von der Ausländerbehörde erhoben und in einem öffentlichen Register, nämlich dem Flüchtlingsregister, erfasst wurde. Folglich fällt eine solche Verarbeitung, die sich auf Daten bezieht, die in einer Datei gespeichert sind oder gespeichert werden sollen, gemäß Art. 2 Abs. 1 DSGVO in deren sachlichen Anwendungsbereich (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Januar 2025, Mousse, C‑394/23, EU:C:2025:2, Rn. 30).
31 Zwar scheint im Rahmen des Ausgangsverfahrens die Einhaltung der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der betreffenden Verarbeitung im Sinne von Art. 6 DSGVO nicht in Frage gestellt worden zu sein, jedoch stellt VP, die nach Art. 16 DSGVO eine Berichtigung der personenbezogenen Angabe betreffend ihre Geschlechtsidentität beantragt, in Abrede, dass die Ausländerbehörde den in Art. 5 Abs. 1 Buchst. d DSGVO genannten Grundsatz der Richtigkeit beachtet habe.
32 Im Licht der oben in Rn. 26 angeführten Rechtsprechung obliegt es dem vorlegenden Gericht, die Richtigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Angabe im Hinblick auf den Zweck, für den sie erhoben wurde, zu prüfen und insbesondere im Licht von § 81 Buchst. c des Asylgesetzes zu beurteilen, ob die Erhebung dieser Angabe der Identifizierung der betroffenen Person dient. Sollte dies der Fall sein, dürfte sich diese Angabe wohl auf die von der betroffenen Person gelebte Geschlechtsidentität beziehen und nicht auf die, die ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. In einem solchen Kontext müsste der Verantwortliche, im vorliegenden Fall die Ausländerbehörde, entgegen dem Vorbringen der ungarischen Regierung nicht die Geschlechtsidentität, die der betroffenen Person bei der Geburt zugewiesen wurde, berücksichtigen, sondern jene, die sie zum Zeitpunkt ihrer Eintragung in das Flüchtlingsregister hatte.
33 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 31 und 40 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat und in Anbetracht der dem Gerichtshof vorliegenden Akten, denen zufolge Ungarn im Rahmen des Verfahrens zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft anerkannt hat, dass VP eine transgeschlechtliche Person ist, scheint die im Flüchtlingsregister enthaltene personenbezogene Angabe betreffend ihre Geschlechtsidentität bereits zum Zeitpunkt ihrer Eintragung unrichtig gewesen zu sein.
34 Insoweit kann sich ein Mitgliedstaat entgegen dem Vorbringen der ungarischen Regierung nicht auf spezifische, auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 und 3 DSGVO erlassene Bestimmungen des nationalen Rechts berufen, um das in Art. 8 Abs. 2 der Charta verankerte und in Art. 16 DSGVO konkretisierte Recht auf Berichtigung zu verweigern.
35 Zum einen geht nämlich aus dem dritten Satz des zehnten Erwägungsgrundes der DSGVO hervor, dass diese spezifischen Bestimmungen nur dazu dienen, die Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung genauer festzulegen, nicht aber dazu, von ihnen abzuweichen.
36 Zum anderen kann das in Art. 16 DSGVO vorgesehene Recht auf Berichtigung nur unter den in Art. 23 DSGVO im Licht ihres 73. Erwägungsgrundes genannten Voraussetzungen beschränkt werden. So kann ein Mitgliedstaat u. a. durch innerstaatliche Gesetzgebungsmaßnahmen Beschränkungen dieses Rechts in Bezug auf personenbezogene Daten vorsehen, die in öffentlichen Registern enthalten sind, die aus Gründen des allgemeinen öffentlichen Interesses geführt werden. Im vorliegenden Fall geht jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten weder hervor, dass der ungarische Gesetzgeber unter Beachtung der in Art. 23 DSGVO genannten Voraussetzungen dieses Recht auf Berichtigung beschränkt hätte, noch, dass die Ausländerbehörde ihre Ablehnung der beantragten Berichtigung auf eine solche gesetzliche Beschränkung gestützt hätte. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint es nämlich, dass diese Ablehnung nicht auf eine nach Art. 23 DSGVO erlassene Gesetzgebungsmaßnahme gestützt ist, sondern auf die Erwägung, dass VP ihre Geschlechtsidentität nicht nachgewiesen habe.
37 Jedenfalls kann ein Mitgliedstaat das Recht auf Berichtigung nicht mit der Begründung verweigern, dass es in seinem nationalen Recht kein Verfahren zur rechtlichen Anerkennung von Transidentität gebe. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht zwar die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Personenstands und der rechtlichen Anerkennung der Geschlechtsidentität unberührt lässt, diese Staaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch das Unionsrecht beachten müssen. Somit ist eine nationale Regelung, die es verhindert, dass eine transgeschlechtliche Person wegen fehlender Anerkennung ihrer neuen Geschlechtsidentität eine notwendige Voraussetzung erfüllen kann, um in den Genuss eines unionsrechtlich geschützten Anspruchs – wie im vorliegenden Fall des in Art. 8 Abs. 2 der Charta verankerten und in Art. 16 DSGVO konkretisierten Rechts – zu gelangen, grundsätzlich als mit dem Unionsrecht unvereinbar anzusehen (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Oktober 2024, Mirin, C‑4/23, EU:C:2024:845, Rn. 53 und 60 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 16 DSGVO dahin auszulegen ist, dass danach eine mit der Führung eines öffentlichen Registers betraute nationale Behörde verpflichtet ist, personenbezogene Daten betreffend die Geschlechtsidentität einer natürlichen Person zu berichtigen, wenn diese Daten nicht richtig im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung sind.
Zur zweiten und zur dritten Frage
39 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 DSGVO dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat mittels Verwaltungspraxis die Ausübung des Rechts auf Berichtigung von in einem öffentlichen Register enthaltenen personenbezogenen Daten betreffend die Geschlechtsidentität einer natürlichen Person davon abhängig machen kann, dass insbesondere eine geschlechtsangleichende Operation nachgewiesen wird.
40 Wie der Generalanwalt in Nr. 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist in Art. 16 DSGVO nicht festgelegt, welche Nachweise ein Verantwortlicher verlangen kann, um die Unrichtigkeit der personenbezogenen Daten festzustellen, deren Berichtigung eine natürliche Person beantragt.
41 In diesem Zusammenhang kann die betroffene Person, die die Berichtigung dieser Daten beantragt, zwar verpflichtet sein, relevante und hinreichende Nachweise vorzulegen, die unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls von ihr vernünftigerweise verlangt werden können, um die Unrichtigkeit dieser Daten festzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 8. Dezember 2022, Google [Auslistung eines angeblich unrichtigen Inhalts], C‑460/20, EU:C:2022:962, Rn. 68 und 72), jedoch ist darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat, wie oben in Rn. 36 ausgeführt, die Ausübung des Rechts auf Berichtigung nur unter Beachtung von Art. 23 DSGVO beschränken darf.
42 Art. 23 Abs. 1 DSGVO sieht vor, dass durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten, denen der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter unterliegt, die Pflichten und Rechte gemäß den Art. 12 bis 22 und Art. 34 sowie Art. 5 DSGVO, insofern dessen Bestimmungen den in den Art. 12 bis 22 DSGVO vorgesehenen Rechten und Pflichten entsprechen, im Wege von Gesetzgebungsmaßnahmen beschränkt werden können. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass eine solche Beschränkung den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten achtet und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, die bestimmte in der DSGVO aufgeführte Ziele, wie u. a. wichtige Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses der Union oder eines Mitgliedstaats, sicherstellt. Wie oben in Rn. 36 ausgeführt, kann das Recht auf Berichtigung im Zusammenhang mit der Führung öffentlicher Register, die aus Gründen des allgemeinen öffentlichen Interesses unterhalten werden, beschränkt werden, insbesondere um die Zuverlässigkeit und Kohärenz dieser Register zu gewährleisten.
43 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der betreffende Mitgliedstaat eine Verwaltungspraxis aufgenommen hat, die darin besteht, die Ausübung des Rechts einer transgeschlechtlichen Person auf Berichtigung von in einem öffentlichen Register enthaltenen Daten betreffend ihre Geschlechtsidentität davon abhängig zu machen, dass eine geschlechtsangleichende Operation nachgewiesen wird. Eine solche Verwaltungspraxis führt zu einer Beschränkung des Rechts auf Berichtigung, die, wie in den beiden vorstehenden Randnummern ausgeführt, die in Art. 23 DSGVO genannten Voraussetzungen erfüllen muss.
44 Erstens ist festzustellen, dass diese Verwaltungspraxis nicht dem Erfordernis entspricht, dass durch Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats das in Art. 16 DSGVO vorgesehene Recht nur im Wege von Gesetzgebungsmaßnahmen beschränkt werden darf. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint das ungarische Recht nämlich keine Gesetzgebungsmaßnahme zu den für die Berichtigung von Daten betreffend die Geschlechtsidentität von im Flüchtlingsregister eingetragenen Personen geltenden Nachweisanforderungen zu enthalten.
45 Zweitens beeinträchtigt eine solche Verwaltungspraxis den Wesensgehalt der durch die Charta garantierten Grundrechte, insbesondere den Wesensgehalt des Rechts auf Unversehrtheit (Art. 3 der Charta) und des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 der Charta).
46 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die durch sie garantierten Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben wie die entsprechenden Rechte aus der EMRK, wobei die EMRK einen Mindestschutzstandard darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2024, Mirin, C‑4/23, EU:C:2024:845, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte schützt Art. 8 EMRK, der Art. 7 der Charta entspricht, die Geschlechtsidentität einer Person, die ein konstitutives Element und eine der intimsten Angelegenheiten ihres Privatlebens ist. Somit umfasst diese Bestimmung das Recht jedes Einzelnen, die Einzelheiten seiner Identität als Mensch festzulegen, was das Recht transgeschlechtlicher Personen auf persönliche Entwicklung und auf körperliche und moralische Unversehrtheit sowie auf Achtung und Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität umfasst. Dieser Art. 8 erlegt den Staaten zu diesem Zweck neben negativen Verpflichtungen, die den Schutz transgeschlechtlicher Personen vor willkürlichen Eingriffen des Staates bezwecken, positive Verpflichtungen auf, was auch die Einrichtung wirksamer und zugänglicher Verfahren impliziert, die eine wirksame Achtung ihres Rechts auf Geschlechtsidentität gewährleisten. Zudem verfügen die Staaten angesichts der besonderen Bedeutung dieses Rechts in diesem Bereich nur über einen begrenzten Gestaltungsspielraum (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2024, Mirin, C‑4/23, EU:C:2024:845, Rn. 64 und 65 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
48 In diesem Zusammenhang hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte insbesondere entschieden, dass die Anerkennung der Geschlechtsidentität einer transgeschlechtlichen Person nicht davon abhängig gemacht werden darf, dass sich diese Person entgegen ihrem Wunsch einer Operation unterzieht (vgl. in diesem Sinne Urteil des EGMR vom 19. Januar 2021, X und Y/Rumänien, CE:ECHR:2021:0119JUD000214516, §§ 165 und 167 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Drittens schließlich ist eine Verwaltungspraxis wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende jedenfalls weder notwendig noch verhältnismäßig, um die Zuverlässigkeit und Kohärenz eines öffentlichen Registers wie des Flüchtlingsregisters zu gewährleisten, da ein ärztliches Attest, einschließlich einer vorherigen Psychodiagnostik, insoweit einen relevanten und hinreichenden Nachweis darstellen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil des EGMR vom 6. April 2017, A. P., Garçon und Nicot/Frankreich, CE:ECHR:2017:0406JUD007988512, §§ 139 und 142).
50 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 16 DSGVO dahin auszulegen ist, dass eine natürliche Person für die Zwecke der Ausübung ihres Rechts auf Berichtigung von in einem öffentlichen Register enthaltenen personenbezogenen Daten betreffend ihre Geschlechtsidentität verpflichtet sein kann, relevante und hinreichende Nachweise vorzulegen, die von ihr vernünftigerweise verlangt werden können, um die Unrichtigkeit dieser Daten festzustellen. Ein Mitgliedstaat darf die Ausübung dieses Rechts jedoch keinesfalls mittels Verwaltungspraxis davon abhängig machen, dass eine geschlechtsangleichende Operation nachgewiesen wird.