EuGH (Große Kammer): Cartesio - EuGH lehnt freie Verwaltungssitzverlegung ab
EuGH (Große Kammer), Urteil vom 16.12.2008 - Rs. C-210/06; Cartesio Oktató és Szolgáltató bt
Tenor
1. Ein Gericht wie das vorlegende, bei dem eine Berufung gegen die Entscheidung eines mit der Führung des Handelsregisters betrauten Gerichts anhängig ist, das einen Antrag auf Änderung einer Angabe in diesem Register abgelehnt hat, ist als Gericht anzusehen, das nach Art. 234 EG zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens befugt ist, obwohl weder die Entscheidung des Handelsregistergerichts in einem streitigen Verfahren ergeht noch die Prüfung der Berufung durch das vorlegende Gericht in einem solchen erfolgt.
2. Ein Gericht wie das vorlegende, dessen in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens ergangene Entscheidungen Gegenstand einer Revision sein können, kann nicht als Gericht im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG angesehen werden, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.
3. Art. 234 Abs. 2 EG ist bei nationalen Rechtsvorschriften über das Recht, gegen eine Entscheidung, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt wird, Rechtsmittel einzulegen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Ausgangsverfahren insgesamt beim vorlegenden Gericht anhängig bleibt und nur die Vorlageentscheidung Gegenstand eines beschränkten Rechtsmittels ist, dahin auszulegen, dass die mit dieser Vertragsbestimmung den nationalen Gerichten eingeräumte Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nicht durch die Anwendung dieser Rechtsvorschriften in Frage gestellt werden darf, nach denen das Rechtsmittelgericht die Entscheidung, mit der die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof beschlossen wird, abändern, außer Kraft setzen und dem Gericht, das diese Entscheidung erlassen hat, aufgeben kann, das nationale Verfahren, das ausgesetzt worden war, fortzusetzen.
4. Die Art. 43 EG und 48 EG sind beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es einer nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, nach dessen Recht sie gegründet wurde, zu behalten.
EG Art. 43, 48, 234
Sachverhalt
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 43 EG, 48 EG und 234 EG. Es ergeht im Rahmen eines Rechtsmittels der Cartesio Oktató és Szolgáltató bt (im Folgenden: Cartesio), einer Gesellschaft mit Sitz in Baja (Ungarn), gegen die Entscheidung, mit der ihr Antrag auf Eintragung der Verlegung ihres Sitzes nach Italien in das Handelsregister abgelehnt worden war.
Cartesio wurde am 20.5.2004 in der Rechtsform einer „betéti társaság" (Kommanditgesellschaft) ungarischen Rechts gegründet. Als ihr Sitz wurde Baja (Ungarn) festgelegt. Sie wurde am 11.6.2004 ins Handelsregister eingetragen. Kommanditist - der nur zur Kapitaleinlage verpflichtet ist - und Komplementär - der unbeschränkt für die Schulden der Gesellschaft haftet - der Gesellschaft sind zwei natürliche Personen, die in Ungarn ansässig sind und die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen. Am 11.11.2005 stellte Cartesio beim Bezirksgericht als Handelsregistergericht einen Antrag, die Verlegung ihres Sitzes nach Gallerate (Italien) zu bestätigen und die Sitzangabe im Handelsregister entsprechend zu ändern. Mit Entscheidung vom 24.1.2006 wurde dieser Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass eine in Ungarn gegründete Gesellschaft nach geltendem ungarischem Recht ihren Sitz nicht unter Beibehaltung des ungarischen Personalstatuts ins Ausland verlegen könne. Cartesio hat gegen diese Entscheidung Berufung beim Regionalgericht Szeged eingelegt. Da das Berufungsgericht der Auffassung ist, dass das Ergebnis des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhängt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen. Es hat dem Gerichtshof vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, von denen die vierte wie folgt lautet:
a) Handelt es sich bei der Absicht einer in Ungarn nach ungarischem Gesellschaftsrecht gegründeten und in das ungarische Handelsregister eingetragenen Gesellschaft, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu verlegen, um eine Frage, deren Regelung unter das Gemeinschaftsrecht fällt, oder ist mangels Harmonisierung der Rechtsvorschriften ausschließlich das nationale Recht anwendbar?
b) Kann sich eine ungarische Gesellschaft bei der Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union unmittelbar auf das Gemeinschaftsrecht (hier die Art. 43 EG und 48 EG) berufen? Wenn ja, kann die Sitzverlegung - sei es durch den Herkunftsstaat, sei es durch den Aufnahmestaat - von einer Bedingung oder einer Genehmigung abhängig gemacht werden?
c) Sind die Art. 43 EG und 48 EG dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung oder Praxis mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, wonach Handelsgesellschaften in Bezug auf die Ausübung ihrer Rechte unterschiedlich behandelt werden, je nachdem, in welchem Mitgliedstaat sie ansässig sind?
d) Sind die Art. 43 EG und 48 EG dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung oder Praxis mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, wonach es einer Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats verwehrt ist, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu verlegen?
Der EuGH hat auf die vierte Vorlagefrage wie aus Tenor 4 ersichtlich entschieden.
Aus den Gründen (zu Tenor 4)
Zur vierten Frage
99. Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 43 EG und 48 EG dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es einer nach dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft, die dem innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats unterliegt, nach dessen Recht sie gegründet wurde, behält.
100. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Cartesio, eine nach ungarischem Recht gegründete Gesellschaft, die bei ihrer Gründung ihren Sitz in Ungarn genommen hat, diesen nach Italien verlegt hat, dabei aber ihre Eigenschaft als Gesellschaft ungarischen Rechts behalten möchte.
101. Nach dem Gesetz über die Handelsregistereintragung befindet sich der Sitz einer Gesellschaft ungarischen Rechts an dem Ort, an dem sich die Hauptverwaltung befindet.
Ausführungen des vorlegenden Gerichts
102. Das vorlegende Gericht führt aus, dass der Antrag von Cartesio auf Eintragung der Änderung ihres Sitzes im Handelsregister vom Handelsregistergericht abgelehnt worden sei, weil eine in Ungarn gegründete Gesellschaft nach ungarischem Recht nicht ihren Sitz, wie er in dem genannten Gesetz definiert sei, ins Ausland verlegen und zugleich das ungarische Recht als Personalstatut behalten könne.
103. Eine solche Verlegung erfordere, dass die Gesellschaft zunächst zu bestehen aufhöre und dann nach dem Recht des Landes, in das der Sitz verlegt werden solle, neu gegründet werde.
104. In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof in Randnr. 19 des Urteils Daily Mail and General Trust (RIW 1989, 304) ausgeführt, dass eine aufgrund einer nationalen Rechtsordnung gegründete Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat.
105. In Randnr. 20 des genannten Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt, dass hinsichtlich dessen, was für die Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung mit dem nationalen Gebiet erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit einer nach einem nationalen Recht gegründeten Gesellschaft, diese Verknüpfung nachträglich zu ändern, erhebliche Unterschiede im Recht der Mitgliedstaaten bestehen. In einigen Mitgliedstaaten muss nicht nur der satzungsmäßige, sondern auch der wahre Sitz, also die Hauptverwaltung der Gesellschaft, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegen; die Verlegung der Geschäftsleitung aus diesem Gebiet hinaus setzt somit die Liquidierung der Gesellschaft mit allen Folgen voraus, die eine solche Liquidierung auf gesellschaftsrechtlichem Gebiet mit sich bringt. Andere Mitgliedstaaten gestehen den Gesellschaften das Recht zu, ihre Geschäftsleitung ins Ausland zu verlegen, aber einige beschränken dieses Recht; die rechtlichen Folgen der Verlegung sind in jedem Mitgliedstaat anders.
106. Der Gerichtshof hat in Randnr. 21 des Urteils Daily Mail and General Trust (RIW 1989, 304) weiter ausgeführt, dass der EWG-Vertrag diesen Unterschieden im nationalen Recht Rechnung trägt. Bei der Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, in Art. 58 EWG-Vertrag (zunächst Art. 58 EG‑Vertrag, jetzt Art. 48 EG) werden der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft als Anknüpfung gleich geachtet.
107. Im Urteil vom 5. November 2002, Überseering (C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = RIW 2002, 954, Randnr. 70), hat der Gerichtshof unter Bestätigung dieser Erwägungen festgestellt, dass sich die Möglichkeit für eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, ohne die ihr durch die Rechtsordnung des Gründungsmitgliedstaats zuerkannte Rechtspersönlichkeit zu verlieren, und gegebenenfalls die Modalitäten dieser Verlegung nach den nationalen Rechtsvorschriften beurteilen, nach denen diese Gesellschaft gegründet worden ist. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass ein Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, einer nach seiner Rechtsordnung gegründeten Gesellschaft Beschränkungen hinsichtlich der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes aus seinem Hoheitsgebiet aufzuerlegen, damit sie die ihr nach dem Recht dieses Staates zuerkannte Rechtspersönlichkeit beibehalten kann.
108. Zu diesem Schluss ist der Gerichtshof auch auf der Grundlage des Art. 58 EWG-Vertrag gelangt. Denn bei der Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, in dieser Vorschrift betrachtet der EWG-Vertrag die Unterschiede, die die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der für ihre Gesellschaften erforderlichen Anknüpfung sowie der Möglichkeit und gegebenenfalls der Modalitäten einer Verlegung des satzungsmäßigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft nationalen Rechts von einem Mitgliedstaat in einen anderen aufweisen, als Probleme, die durch die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst sind, sondern einer Lösung im Wege der Rechtsetzung oder des Vertragsschlusses bedürfen; dazu ist es jedoch bisher noch nicht gekommen (vgl. in diesem Sinne Urteile Daily Mail and General Trust, RIW 1989, 304 Randnrn. 21 bis 23, und Überseering, RIW 2002, 954, Randnr. 69).
Anwendbarkeit des Art. 43 EG auf eine sich auf die Niederlassungsfreiheit berufende Gesellschaft ist eine nach nationalem Recht zu beurteilende, vor der Möglichkeit der Freiheitsbeschränkung zu beantwortende Vorfrage
109. In Ermangelung einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, anhand einer einheitlichen Anknüpfung, nach der sich das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht bestimmt, ist die Frage, ob Art. 43 EG auf eine Gesellschaft anwendbar ist, die sich auf die dort verankerte Niederlassungsfreiheit beruft, ebenso wie im Übrigen die Frage, ob eine natürliche Person ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist und sich aus diesem Grund auf diese Freiheit berufen kann, daher gemäß Art. 48 EG eine Vorfrage, die beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nur nach dem geltenden nationalem Recht beantwortet werden kann. Nur wenn die Prüfung ergibt, dass dieser Gesellschaft in Anbetracht der in Art. 48 EG genannten Voraussetzungen tatsächlich die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, stellt sich die Frage, ob sich die Gesellschaft einer Beschränkung dieser Freiheit im Sinne des Art. 43 EG gegenübersieht.
110. Ein Mitgliedstaat kann somit sowohl die Anknüpfung bestimmen, die eine Gesellschaft aufweisen muss, um als nach seinem innerstaatlichen Recht gegründet angesehen werden und damit in den Genuss der Niederlassungsfreiheit gelangen zu können, als auch die Anknüpfung, die für den Erhalt dieser Eigenschaft verlangt wird. Diese Befugnis umfasst die Möglichkeit für diesen Mitgliedstaat, es einer Gesellschaft seines nationalen Rechts nicht zu gestatten, diese Eigenschaft zu behalten, wenn sie sich durch die Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat dort neu organisieren möchte und damit die Anknüpfung löst, die das nationale Recht des Gründungsmitgliedstaats vorsieht.
Differenzierung zwischen Sitzverlegung unter Wahrung des maßgeblichen Rechts und Sitzverlegung mit grenzüberschreitendem Rechtsformwechsel
111. Der Fall einer solchen Verlegung des Sitzes einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat ohne Änderung des für sie maßgeblichen Rechts ist jedoch von dem Fall zu unterscheiden, dass eine Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat unter Änderung des anwendbaren nationalen Rechts verlegt und dabei in eine dem nationalen Recht des zweiten Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaftsform umgewandelt wird.
112. Denn in diesem zweiten Fall kann die in Randnr. 110 des vorliegenden Urteils angesprochene Befugnis - die keinesfalls irgendeine Immunität des nationalen Rechts über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften im Hinblick auf die Vorschriften des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit impliziert - insbesondere nicht rechtfertigen, dass der Gründungsmitgliedstaat die Gesellschaft dadurch, dass er ihre Auflösung und Liquidation verlangt, daran hindert, sich in eine Gesellschaft nach dem nationalen Recht dieses anderen Mitgliedstaats umzuwandeln, soweit dies nach diesem Recht möglich ist.
113. Ein solches Hemmnis für die tatsächliche Umwandlung, ohne vorherige Auflösung und Liquidation, einer solchen Gesellschaft in eine Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, in den sie sich begeben möchte, stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit der betreffenden Gesellschaft dar, die, wenn sie nicht zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht, nach Art. 43 EG verboten ist (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil CaixaBank France, Randnrn. 11 und 17).
114. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die in den Art. 44 Abs. 2 Buchst. g EG und 293 EG vorgesehenen legislativen und vertraglichen Arbeiten im Bereich des Gesellschaftsrechts seit den Urteilen Daily Mail and General Trust und Überseering bisher nicht die in diesen Urteilen aufgezeigten Unterschiede der nationalen Rechtsvorschriften betroffen haben, so dass diese nach wie vor bestehen.
115. Die Kommission trägt jedoch vor, das vom Gerichtshof in Randnr. 23 des Urteils Daily Mail and General Trust (RIW 1989, 304) festgestellte Fehlen einer entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Regelung sei durch Gemeinschaftsvorschriften über die Sitzverlegung in einen anderen Mitgliedstaat ausgeglichen worden, die in Verordnungen wie den Verordnungen Nrn. 2137/85 und 2157/2001 über die EWIV bzw. die Europäische Gesellschaft oder der Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) (ABl. L 207, S. 1) sowie in den nach diesen Verordnungen erlassenen ungarischen Rechtsvorschriften enthalten seien.
116. Diese Regeln könnten, ja müssten entsprechende Anwendung auf die grenzüberschreitende Verlegung des wahren Sitzes einer nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft finden.
117. Hierzu ist festzustellen, dass diese auf der Grundlage von Art. 308 EG erlassenen Verordnungen zwar tatsächlich eine Regelung enthalten, wonach die mit ihnen eingeführten neuen Rechtsformen ihren satzungsmäßigen Sitz und damit auch ihren wahren Sitz, die nämlich in demselben Mitgliedstaat gelegen sein müssen, in einen anderen Mitgliedstaat verlegen können, ohne dass dies zur Auflösung der ursprünglichen juristischen Person und zur Schaffung einer neuen juristischen Person führt, dass eine solche Verlegung aber dennoch zwangsläufig die Änderung des auf die betreffende Einheit anwendbaren nationalen Rechts mit sich bringt.
118. Dies ergibt sich z. B. für eine Europäische Gesellschaft aus den Art. 7 bis 9 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii der Verordnung Nr. 2157/2001.
119. Im vorliegenden Fall möchte Cartesio jedoch nur ihren wahren Sitz von Ungarn nach Italien verlegen und zugleich eine Gesellschaft ungarischen Rechts bleiben, also ohne dass sich das anwendbare nationale Recht änderte.
120. Eine entsprechende Anwendung der von der Kommission angeführten Gemeinschaftsvorschriften, selbst wenn sie im Fall der grenzüberschreitenden Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats geboten sein sollte, kann daher in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens jedenfalls nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen.
121. Darüber hinaus ist zur Bedeutung des Urteils Sevic Systems (RIW 2006, 140) für den in den Urteilen Daily Mail and General Trust (RIW 1989, 304) und Überseering (RIW 2002, 954) aufgestellten Grundsatz festzustellen, dass diese Urteile nicht dasselbe Problem behandeln, so dass nicht geltend gemacht werden kann, dass das erstgenannte die Tragweite der beiden letztgenannten präzisiert habe.
122. Die Rechtssache Sevic Systems betraf nämlich die Anerkennung - im Mitgliedstaat der Gründung einer Gesellschaft - der Niederlassung dieser Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat im Wege einer grenzüberschreitenden Verschmelzung, eine Fallkonstellation, die sich grundlegend von der der Rechtssache Daily Mail and General Trust unterscheidet. Damit ähnelt der Fall, um den es in der Rechtssache SEVIC Systems ging, anderen Urteilen des Gerichtshofs zugrunde liegenden Fällen (vgl. Urteil vom 9. März 1999, Centros, C-212/97, Slg. 1999, I-1459 = RIW 1999, 447, Urteil Überseering, RIW 2002, 954, Urteil vom 30. September 2003, Inspire Art, C-167/01, Slg. 2003, I-10155 = RIW 2003, 957).
123. In solchen Fällen stellt sich jedoch nicht die in Randnr. 109 des vorliegenden Urteils angeführte Vorfrage, ob die betreffende Gesellschaft als eine Gesellschaft anzusehen ist, die die Nationalität des Mitgliedstaats hat, nach dessen Recht sie gegründet wurde, sondern vielmehr, ob sich diese Gesellschaft, die unstreitig eine Gesellschaft des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats ist, in der Ausübung ihres Rechts auf Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat einer Beschränkung gegenübersieht oder nicht.
124. Nach alledem ist auf die vierte Vorlagefrage zu antworten, ... [s. Tenor 4.].
Hinweis der Redaktion
Zu diesem Urteil erscheint in Heft 3/2009 des „Betriebs-Berater" ein Besprechungsaufsatz von Hoffmann/Leible.
Cartesio
Niederlassungsfreiheit, grenzüberschreitende Sitzverlegung, Wegzug, Handelsregistereintragung 4
Handelsregistereintragung
Cartesio, Niederlassungsfreiheit, grenzüberschreitende Sitzverlegung, Wegzug 4
Niederlassungsfreiheit
Cartesio, grenzüberschreitende Sitzverlegung, Wegzug, Handelsregistereintragung 4
Sitzverlegung, grenzüberschreitende
Cartesio, Niederlassungsfreiheit, Wegzug, Handelsregistereintragung 4
Wegzug
Cartesio, Niederlassungsfreiheit, grenzüberschreitende Sitzverlegung, Handelsregistereintragung 4
BB-Kommentar
Caspar Behme, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kanzlei Hengeler Mueller, Frankfurt, und Nicolas Nohlen, g
„Die Differenzierungen des EuGH sind weder überzeugend noch praxistauglich"
Problem
In der Rechtssache Cartesio hatte sich der EuGH erstmals seit der Daily-Mail-Entscheidung aus dem Jahre 1988 wieder mit der Wegzugsfreiheit von Gesellschaften zu befassen. Das zuständige Registergericht hatte der ungarischen Kommanditgesellschaft Cartesio die nach ungarischem Recht erforderliche Eintragung einer Verwaltungssitzverlegung nach Italien verweigert. Während es aufgrund der Urteile Centros, Überseering und Inspire Art schon seit einigen Jahren unstreitig ist, dass jede rechtliche Behandlung von Gesellschaften durch den Zuzugsstaat (hier: Italien) am Maßstab der Niederlassungsfreiheit zu messen ist, war bis zum jüngsten Urteil des EuGH unklar, inwiefern auch Beschränkungen durch den Wegzugsstaat (hier: Ungarn) den Anforderungen der Niederlassungsfreiheit genügen müssen.
Entscheidung
Der EuGH kommt in seinem Urteil zu dem Ergebnis, dass die Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EG) Beschränkungen einer isolierten Verlegung des Verwaltungssitzes durch den Wegzugsstaat nicht entgegensteht (Rn. 99 ff.). Das ungarische Registergericht durfte also die Eintragung der Sitzverlegung von Cartesio verweigern. Den vorliegenden Fall der bloßen Verwaltungssitzverlegung einer ungarischen Gesellschaft unter Wahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaft ungarischen Rechts grenzt der EuGH von dem Fall einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung ab, bei der die Gesellschaft in eine dem nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaates unterliegende Gesellschaftsform „umgewandelt" wird (Rn. 111 ff.). Würde der Wegzugsstaat eine solche Sitzverlegung mit gleichzeitiger Umwandlung mit Auflösung und Liquidation sanktionieren, so würde dies eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit der betreffenden Gesellschaft darstellen, die der Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses bedarf (Rn. 113).
Praxisfolgen
1. Die Entscheidung mag vor dem Hintergrund der jüngeren EuGH-Rechtsprechung zum internationalen Gesellschaftsrecht überraschen, da sie die Entwicklung hin zu mehr Mobilität und Liberalität unterbricht. Vielmehr knüpft sie an die Daily-Mail-Entscheidung an. Der EuGH hatte in Daily Mail argumentiert, eine Gesellschaft könne erst aufgrund einer nationalen Rechtsordnung gegründet werden und habe daher jenseits dieser Rechtsordnung keine Realität. Wenn aber die Mitgliedstaaten über die Schaffung von Gesellschaften entscheiden, so müssen sie auch frei über die Beendigung deren Existenz im Falle des Grenzübertritts befinden können. Nach dieser Logik, die nun in Cartesio fortgeführt wird, ist die Vorfrage, ob eine Gesellschaft existiert, folglich allein vom nationalen Recht der Mitgliedstaaten zu beantworten und nicht an den Vorgaben der Niederlassungsfreiheit zu messen. Erst wenn eine Gesellschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaats besteht, kommt sie in den Genuss der Niederlassungsfreiheit. Im Falle der grenzüberschreitenden Verwaltungssitzverlegung ist daher nur der Zuzug, nicht aber der Wegzug geschützt. Aus Gründen des Effet utile ist diese Unterscheidung zweifelhaft: Die Niederlassungsfreiheit möchte den freien grenzüberschreitenden Verkehr gewährleisten; von welchem Staat eine Beeinträchtigung ausgeht ist funktional gesehen unerheblich. Entscheidend ist, dass der Marktakteur am Grenzübertritt gehindert, mithin der Binnenmarkt gestört wird.
Aus denselben Erwägungen kann die vom EuGH in Cartesio getroffene Differenzierung danach, ob durch die grenzüberschreitende Sitzverlegung eine Umwandlung stattfinden soll, nicht überzeugen. Denn für die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit kommt es nicht auf die Einzelheiten der rechtlichen Ausgestaltung einer grenzüberschreitenden Niederlassung an; entscheidend ist allein, ob „die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit" geplant ist (so zutreffend Generalanwalt Maduro in seinen Schlussanträgen, BB [●], Rn. 25 m. Anm. Teichmann EWiR 2008, 297). Dies ist unabhängig von der Frage, ob eine in einen anderen EG-Mitgliedstaat wegziehende Gesellschaft ihre Rechtsform wechselt oder nicht. Aus Effet-utile-Gesichtspunkten wäre es daher zu begrüßen gewesen, wenn der EuGH die ungarischen Wegzugsbeschränkungen für die nicht-rechtsformwechselnde Verwaltungssitzverlegung von Cartesio ebenfalls am Maßstab der Niederlassungsfreiheit geprüft und einer Rechtsfertigungsprüfung unterzogen hätte (vgl. Behme/Nohlen, NZG 2008, 496 f.).
2. Bei grenzüberschreitenden Sitzverlegungen in der Wegzugskonstellation gibt es nunmehr also zwei Fallgruppen, die der EuGH im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit unterschiedlich behandeln will.
Dies ist zum einen die Sitzverlegung unter Wahrung der bisherigen Eigenschaft als Gesellschaft des Gründungs-/Wegzugstaates, die dem Fall Cartesio zugrunde lag. Das deutsche Recht erlaubt Kapitalgesellschaften seit Inkrafttreten des MoMiG sowohl in sachrechtlicher als auch in kollisionsrechtlicher Hinsicht eine derartige Verlegung des Verwaltungssitzes ins europäische Ausland, §§ 4a GmbHG, 5 AktG (vgl. Behme, BB 2008, 70, 72; Mülsch/Nohlen, ZIP 2008, 1358, 1360). Man wird nach der Cartesio-Entscheidung jedoch davon ausgehen müssen, dass die Verwaltungssitzverlegung durch den Gesetzgeber und die Gerichte des Wegzugsstaats beschränkt und sogar gänzlich versagt werden kann, ohne dass die Niederlassungsfreiheit dem entgegensteht. Darüber hinaus lässt sich aus dem Urteil schließen, dass auch Beschränkungen einer Satzungssitzverlegung durch den Wegzugsstaat nicht am Maßstab der Niederlassungsfreiheit zu messen sind, da bei der Satzungssitzverlegung ebenfalls keine Änderung der Rechtsform stattfindet. Dies muss nach der Logik des EuGH sowohl für eine isolierte Satzungssitzverlegung als auch für eine gleichzeitige Satzungs- und Verwaltungssitzverlegung gelten. Dass das deutsche Recht einen inländischen Satzungssitz vorschreibt (§§ 4a GmbHG, 5 AktG) dürfte nach Cartesio jedenfalls gemeinschaftsrechtlich zulässig sein.
Hingegen müssen, zum anderen, Beschränkungen des Wegzugs in Gestalt einer Sitzverlegung mit gleichzeitiger Umwandlung in eine Gesellschaftsform des Zielstaats („grenzüberschreitender Rechtsformwechsel") den Vorgaben der Niederlassungsfreiheit genügen und können nur durch zwingende Allgemeininteressen gerechtfertigt werden. Will sich eine deutsche Gesellschaft also in eine Gesellschaftsform eines anderen Mitgliedstaates umwandeln, sind Beschränkungen durch die deutsche öffentliche Gewalt am Maßstab der Niederlassungsfreiheit zu messen, wenn der Zuzugsstaat eine derartige Umwandlung zulässt.
3. Der in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit fallende „grenzüberschreitende Formwechsel" ist in der Praxis kaum durchführbar, da bislang weder das nationale (deutsche) Recht noch das Gemeinschaftsrecht einen rechtlichen Rahmen vorgeben. Kein Hindernis für einen derartigen Formwechsel ist hingegen die Einschränkung, die der EuGH mit der Formulierung „soweit dies nach diesem Recht (scil. des Zuzugsstaats) möglich ist" trifft. Seit Inspire Art wird man annehmen müssen, dass Beschränkungen des grenzüberschreitenden Formwechsels durch den Zuzugsstaat unzulässig sind (grundlegend Jaensch, EWS 2007, 97 ff.). Der grenzüberschreitende Formwechsel stellt für Auslandsgesellschaften einen einfachen Weg zur Gründung einer deutschen Gesellschaft dar. Würde man ihnen diesen Weg sperren, so stellte man sie schlechter als eine vergleichbare deutsche Gesellschaft; eine Rechtfertigung für eine derartige Ungleichbehandlung ist nicht ersichtlich. Undurchführbar ist der grenzüberschreitende Formwechsel daher nur dann, wenn der Zuzugsstaat generell - also auch für nationale Gesellschaften - den Formwechsel nicht kennt. Im Interesse der Rechtsklarheit wäre eine gemeinschaftsweite Harmonisierung des grenzüberschreitenden Formwechsels in Gestalt einer EG-Richtlinie wünschenswert. Zudem dürfte nach der Cartesio-Entscheidung das zwischenzeitlich aufgegebene Projekt einer Sitzverlegungs-Richtlinie neu belebt werden.
Des Weiteren erzeugt der EuGH eine gewisse Rechtsunsicherheit, indem er nicht klar zum Ausdruck bringt, wie weit er mit seiner Negierung der Wegzugsfreiheit gehen möchte. Er betont nämlich ausdrücklich, dass durch das Recht der EG-Mitgliedstaaten auf Wegzugsbeschränkungen „keinesfalls irgendeine Immunität des nationalen Rechts über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften im Hinblick auf die Vorschriften des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit impliziert" seien (Rn. 112).
Schließlich sei noch erwähnt, dass der „grenzüberschreitende Rechtsformwechsel" ein Vehikel zur Flucht aus der deutschen Mitbestimmung darstellen kann. Zwar macht der EuGH deutlich, dass Beschränkungen des grenzüberschreitenden Rechtsformwechsels aufgrund zwingender Gründe des Allgemeininteresses - darunter der Schutz von Arbeitnehmern - gerechtfertigt sein können. Anders als die betriebliche Mitbestimmung, dient die deutsche unternehmerische Mitbestimmung aber nicht dem Schutz von Arbeitnehmerinteressen, sondern der Verwirklichung einer sozialtheoretischen Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit und Demokratie (Behme, ZIP 2008, 351, 356).