BGH: COVID-19-Pandemie – kostenfreier Rücktritt von einer Pauschalreise im Einzelfall möglich
BGH, Urteil vom 30.8.2022 – X ZR 66/21
ECLI:DE:BGH:2022:300822UXZR66.21.0
Volltext: BB-Online BBL2022-2434-1
Amtliche Leitsätze
a) Die Bewertung der von der Covid-19-Pandemie ausgehenden Gefahr als unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB, der grundsätzlich geeignet ist, die Durchführung einer Pauschalreise erheblich zu beeinträchtigen, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn sich die Gefahr einer Erkrankung an Covid-19 im vorgesehenen Reisezeitraum (hier: Juni 2020) als ein nicht beherrschbares erhebliches Risiko für die menschliche Gesundheit darstellte und aufgrund der pandemischen Lage die Gefahr einer Infektion bei Durchführung der Reise bestand, die dem gewöhnlichen Reisebetrieb im Buchungszeitpunkt noch nicht innewohnte.
b) § 651h Abs. 3 BGB setzt nicht voraus, dass die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände sich nur am Bestimmungsort der Reise oder in dessen unmittelbarer Nähe und nicht auch am Wohnort des Reisenden auswirken.
c) Der Tatbestand des § 651h Abs. 3 BGB ist erfüllt, wenn schon vor Beginn der Reise unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung zum Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt ist.
d) Die Beurteilung der Frage, ob die Durchführung der Reise aufgrund von außergewöhnlichen Umständen mit erheblichen und nicht zumutbaren Risiken verbunden ist, bedarf einer Würdigung aller für den Einzelfall relevanten Umstände und ist aus Sicht eines verständigen Durchschnittsreisenden im Rücktrittszeitpunkt vorzunehmen.
e) Individuelle Verhältnisse oder Eigenschaften des Reisenden wie das Alter sind jedenfalls dann in die Abwägung einzubeziehen, wenn sie für die Durchführbarkeit der Reise erst aufgrund der außergewöhnlichen Umstände im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB Bedeutung gewonnen haben und die daraus resultierenden Gefahren für den Reisenden (etwa wegen der Zugehörigkeit zu einer besonders betroffenen Risikogruppe) dem gewöhnlichen Reisebetrieb im Buchungszeitpunkt noch nicht innegewohnt haben.
Sachverhalt
Die Klägerin beansprucht die Rückzahlung einer Anzahlung für eine Flusskreuzfahrt. Die Beklagte macht mit ihrer Widerklage darüber hinausgehende Stornogebühren geltend.
Die damals 84 Jahre alte Klägerin buchte am 17. Januar 2020 bei der Beklagten eine Flusskreuzfahrt (Stationen: Passau - Wien - Esztergom - Budapest - Mohacs - Budapest - Bratislava - Melk - Passau), die vom 22. bis 29. Juni 2020 stattfinden und 1.599,84 Euro kosten sollte. Der Buchung lagen die Allgemeinen Reisebedingungen der Beklagten zugrunde. Die Klägerin leistete eine Anzahlung in Höhe von 319,97 Euro.
Am 18. März 2020 sprach das Auswärtige Amt wegen der Covid-19-Pandemie eine weltweite Reisewarnung aus, die zunächst bis zum 29. April 2020 galt, später aber bis 14. Juni 2020 verlängert wurde.
Mit Schreiben vom 7. Juni 2020 stornierte die Klägerin die Reise unter Bezugnahme auf die Covid-19-Pandemie, nachdem ihr dies von ihrer Hausärztin mit Blick auf frühere Lungenentzündungen geraten worden war.
Die Beklagte übersandte mit Schreiben vom 25. Juni 2020 eine Stornorechnung, die nach Abzug der Anzahlung und einer Gutschrift einen offenen Betrag von 999,89 Euro ausweist.
Die Flusskreuzfahrt wurde mit einem angepassten Hygienekonzept und einer von 176 auf 100 verringerten Passagierzahl durchgeführt.
Das Amtsgericht hat, soweit für das Revisionsverfahren noch von Interesse, die Beklagte zur Rückzahlung der geleisteten Anzahlung und zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt und die auf Begleichung der restlichen Stornogebühr gerichtete Widerklage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren aus den Vorinstanzen weiter.
Aus den Gründen
8 Die zulässige Revision ist unbegründet.
9 I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
10 Das Amtsgericht habe zu Recht entschieden, dass die Klägerin von der gebuchten Kreuzfahrt ohne Entschädigungspflicht habe zurücktreten können.
11 Bei der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie sei das Vorliegen von unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen zu bejahen. Auch Erwägungsgrund 31 der Pauschalreiserichtlinie nenne ausdrücklich den Ausbruch einer schweren Erkrankung am Reiseziel als Beispiel.
12 Nach herrschender Meinung sei eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls aus Sicht eines objektiven Durchschnittsreisenden hinsichtlich der Frage, ob sich durch die außergewöhnlichen Umstände erhebliche Beeinträchtigungen der Reise ergäben, vorzunehmen. Hierbei sei auf eine ex-ante-Sicht abzustellen, es sei also der Umfang der Beeinträchtigung zugrunde zu legen, der sich zum Zeitpunkt der Stornierungsentscheidung darstelle.
13 Gemessen daran sei die Klägerin am 7. Juni 2020 zu Recht davon ausgegangen, dass außergewöhnliche Umstände vorlagen, die die Durchführung der von ihr gebuchten Kreuzfahrt erheblich beeinträchtigen würden.
14 Die weltweite Reisewarnung des Auswärtigen Amtes sei bis zum 14. Juni 2020 verlängert worden. Am 7. Juni 2020 sei keineswegs absehbar gewesen, dass diese nicht erneut - bis zum Zeitpunkt der Flusskreuzfahrt der Klägerin - verlängert werden würde. Eine solche Reisewarnung sei ein starkes Indiz für eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise.
15 Zudem stelle auch eine Flusskreuzfahrt mit begrenzter Passagierzahl und angepasstem Hygienekonzept eine Reiseart dar, bei der man auf begrenztem Raum mit vielen Menschen zusammen sei und Begegnungen mit ihnen nur schlecht aus dem Weg gehen könne. Die Klägerin habe die Reise alleine gebucht und erwartet, mit anderen Passagieren in Kontakt treten zu können, was durch die Covid-19-Pandemie nicht gewährleistet gewesen sei. Zum Zeitpunkt der Stornierung habe es weder Impfangebote noch eine spezielle Therapiemöglichkeit gegeben. Aufgrund der Vorschädigung ihrer Lunge hätte sich die Klägerin bei Durchführung der Reise einem erheblichen Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Diese objektiv erhöhte Gefährdung gehe über bloße individuelle Angst oder Sorge hinaus. Das Alter und das erhöhte Risiko der Klägerin fielen zwar alleine in deren Sphäre. Sie könne sich aber gleichwohl darauf berufen, weil die Buchung der Reise in Unkenntnis der Corona-Pandemie erfolgt sei. Da die Wahrscheinlichkeitsquote einer Ansteckung mit Corona bei einer Kreuzfahrt nicht fundiert bestimmt werden könne, könne dahingestellt bleiben, ob auf die Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung der Reise von mindestens 25% gemäß der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15. Oktober 2002 (X ZR 147/01) abzustellen sei.
16 Da die Klägerin entschädigungslos habe zurücktreten können, stehe ihr die Rückzahlung der Anzahlung samt Nebenforderungen zu. Die Widerklage sei abzuweisen, da die Beklagte keine Entschädigung verlangen könne.
17 II. Dies hält der rechtlichen Überprüfung stand.
18 1. Die Beklagte hat gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil die Klägerin nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam von dem Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist. Damit ist die Beklagte zur Rückzahlung der erbrachten Anzahlung verpflichtet.
19 2. Der Beklagten steht kein Entschädigungsanspruch aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB zu, den sie dem Klageanspruch entgegenhalten und mit der Widerklage geltend machen könnte.
20 a) Nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB kann der Reiseveranstalter bei einem Rücktritt des Reisenden vor Reiseantritt von diesem keine Entschädigung verlangen, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.
21 aa) Unvermeidbar und außergewöhnlich sind Umstände gemäß § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich darauf beruft, und sich ihre Folgen auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären.
22 Diese Definition wurde aus Art. 3 Nr. 12 der Richtlinie (EU) 2015/2302 (im Folgenden: Pauschalreiserichtlinie oder Richtlinie) übernommen. Erwägungsgrund 31 der Richtlinie nennt als Beispiele für solche Umstände Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus und erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie den Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen.
23 bb) Dass im Reisezeitraum (Juni 2020) die Gefahr einer Erkrankung an Covid-19 ein nicht beherrschbares erhebliches Risiko für die menschliche Gesundheit darstellte und aufgrund der pandemischen Lage die Gefahr einer Infektion auf der gebuchten Flusskreuzfahrt mit den vorgesehenen Anlauforten bestand, das dem normalen Reisebetrieb im Buchungszeitpunkt noch nicht innewohnte, zieht die Revision zu Recht nicht in Zweifel.
24 Vor diesem Hintergrund ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die Covid-19-Pandemie als Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB bewertet hat, der grundsätzlich geeignet war, die Durchführung der Pauschalreise erheblich zu beeinträchtigen (vgl. zur entsprechenden Einordnung der Covid-19-Pandemie: BeckOGKBGB/Harke, Stand 1. Juli 2022, § 651h Rn. 49.1; BeckOKBGB/Geib, 62. Edition, Stand 1. Mai 2022, § 651h Rn. 21; jurisPK/Steinrötter, 9. Aufl. [aktualisiert 11. Mai 2020], § 651h Rn. 44.1; Grüneberg/Retzlaff, 81. Aufl. 2022, § 651h Rn. 13; Binger, RRa 2021, 207, 208; Führich, NJW 2020, 2137; Führich, NJW 2022, 1641, 1643; Hopperdietzel, RRa 2022, 3; Löw, NJW 2020, 1252, 1253; Staudinger/Achilles-Pujol in: Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 29; Tonner, RRa 2021, 55, 57; Ullenboom, RRa 2021, 155, 157; Weller/Lieberknecht/Habrich, NJW 2020, 1017, 1021; Woitkewitsch, NJW 2022, 1134, 1136; aus der Instanzrechtsprechung statt vieler: LG Düsseldorf, Urteil vom 25. Oktober 2021 - 22 S 77/21, RRa 2022, 30, 31; LG Frankfurt am Main, Urteil vom 14. Oktober 2021 - 24 S 40/21, BeckRS 2021, 33155; AG München, Urteil vom 27. Oktober 2020 - 159 C 13380/20 Rn. 26, DAR 2021, 35, 36).
25 cc) Entgegen der Ansicht der Revision ist § 651h Abs. 3 BGB auch dann anwendbar, wenn dieselben oder vergleichbare Beeinträchtigungen im vorgesehenen Reisezeitraum auch am Heimatort des Reisenden vorliegen.
26 (1) Nach § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie sind die Verhältnisse am Bestimmungsort der Reise maßgeblich.
27 Hieraus folgt, dass es für den Ausschluss des Entschädigungsanspruchs grundsätzlich nicht genügt, wenn (nur) am Wohnort des Reisenden oder an sonstigen Orten Beeinträchtigungen auftreten, aufgrund derer der Reisende an einer Teilnahme gehindert ist, obwohl die Reiseleistungen am Bestimmungsort wie vorgesehen erbracht werden könnten. Der Reiseveranstalter trägt mithin nur das Risiko, dass die von ihm geschuldete Leistung nicht oder nur mit erheblichen Beeinträchtigungen erbracht werden kann, nicht aber das Risiko, dass Hindernisse außerhalb dieses Bereichs auftreten.
28 Bei dieser Ausgangslage ist ein Entschädigungsanspruch auch dann ausgeschlossen, wenn Beeinträchtigungen im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie sowohl am Bestimmungsort als auch am Wohnort des Reisenden auftreten. Auch in dieser Konstellation ist eine Erbringung der vorgesehenen Leistungen am Bestimmungsort nicht möglich. Dass die Leistungen auch an anderen Orten nicht erbracht werden könnten, ist demgegenüber unerheblich.
29 (2) Entgegen der Auffassung der Revision führt dies nicht dazu, dass die wirtschaftlichen Folgen einer Pandemie allein dem Reiseveranstalter auferlegt werden.
30 Sofern eine Pandemie dazu führt, dass die Durchführung der Reise aufgrund der Verhältnisse am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe erheblich beeinträchtigt ist, kann der Reiseveranstalter die mit einer Durchführung verbundenen wirtschaftlichen Vorteile allerdings nicht realisieren; zudem droht ihm die Gefahr, dass er zumindest einen Teil der für die Reise anfallenden Kosten tragen muss. Diese Folgen der in § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Risikoverteilung erscheinen aber konsequent, weil der Reiseveranstalter in solchen Fällen nicht in der Lage ist, die von ihm geschuldete Leistung ohne erhebliche Beeinträchtigungen zu erbringen. An dieser Beurteilung ändert sich nichts, wenn der Reisende aufgrund der Pandemie auch an seinem Wohnort erheblichen Beeinträchtigungen ausgesetzt ist.
31 Bestehen Beeinträchtigungen im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie nur am Wohnort des Reisenden oder an sonstigen Orten, steht dem Reiseveranstalter hingegen eine Entschädigung zu. Dies erscheint ebenfalls konsequent, weil die Durchführung der Reise in solchen Fällen allein an Umständen scheitert, die der Sphäre des Reisenden zuzuordnen sind.
32 Insgesamt führt die Regelung in § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie damit auch für Pandemie-Situationen zu einer differenzierten und ausgewogenen Risikoverteilung.
33 (3) Entgegen der Auffassung der Revision ist § 651h Abs. 3 BGB keine restriktiv anzuwendende Ausnahmeregelung, was der Anwendung der Vorschrift auf Pandemiesituationen entgegenstehen könnte.
34 Nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen des Unionsrechts sind Abweichungen oder Ausnahmen von einer allgemeinen Regel grundsätzlich eng auszulegen (vgl. nur EuGH, Urteil vom 6. September 2012 - C-190/11, NJW 2012, 3225 Rn. 27 - Mühlleitner). Dies gilt insbesondere für Bestimmungen, die eine Ausnahme von unionsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften darstellen (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008 - C-549/07, NJW 2009, 347 Rn. 17 - Wallentin-Herman; Urteil vom 10. März 2005 - C-336/03, NJW 2005, 3055 Rn. 21 - easyCar UK Ltd).
35 Die Regelungen in § 651h Abs. 1 und 3 BGB sowie Art. 12 Abs. 1 und 2 der Richtlinie stehen jedoch nicht in einem solchen Regel-Ausnahme-Verhältnis. Sie dienen vielmehr einem angemessenen Ausgleich zwischen dem berechtigten Vergütungsinteresse des Reiseveranstalters und dem Ziel eines hohen Verbraucherschutzniveaus, wie dies Erwägungsgrund 5 der Richtlinie vorgibt. Eine enge Auslegung von § 651h Abs. 3 BGB würde dazu führen, dass dem Verbraucher zusätzliche Risiken auferlegt würden - in diesem Fall das Risiko einer Pandemie. Dies stünde in Widerspruch zu der genannten Zielsetzung.
36 dd) Der Umstand, dass die von einer Pandemie für den Reisenden ausgehenden Risiken im Falle einer Durchführung der Reise nicht höher sind als bei ihrer Nichtdurchführung, mag in einzelnen Konstellationen allerdings dazu führen, dass es an einer erheblichen Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie fehlt.
37 (1) Ob eine pandemische Lage am Bestimmungsort eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise zur Folge hat, lässt sich nicht pauschal beantworten. Maßgeblich sind die Umstände des jeweiligen Falles, insbesondere die Gefahren, die dem Reisenden bei Durchführung der Reise drohen. Je nach Lage des Falles kann eine erhebliche Beeinträchtigung etwa zu verneinen sein, wenn die Teilnahme an der Reise mit keinem unzumutbaren Infektionsrisiko verbunden ist. Ein solches Risiko kann insbesondere dann ausgeschlossen sein, wenn ein engerer Kontakt mit anderen Reisenden oder sonstigen Personen nicht zu erwarten ist, zum Beispiel bei Unterkunft in Ferienhäusern oder -wohnungen und Anreise mit einem Mietwagen.
38 Ist die Durchführung der Reise mit nicht zumutbaren Risiken verbunden, steht dem Reiseveranstalter demgegenüber nicht schon deshalb ein Entschädigungsanspruch zu, weil der Reisende vergleichbaren Risiken auch dann ausgesetzt wäre, wenn die Reiseleistungen an seinem Wohnort erbracht würden. Maßgeblich ist vielmehr allein, ob es dem Reisenden zuzumuten ist, an der Reise trotz der damit verbundenen Beeinträchtigungen teilzunehmen. Sofern dies zu verneinen ist, kommt dem Umstand, welche Risiken dem Reisenden zu Hause drohen, keine eigenständige Bedeutung zu.
39 (2) Im Streitfall ist die Beurteilung des Berufungsgerichts auch unter diesem Gesichtspunkt aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
40 Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die Durchführung der Reise aufgrund der Verhältnisse am Bestimmungsort mit erheblichen Beeinträchtigungen verbunden gewesen wäre.
41 Bei dieser Ausgangslage brauchte sich das Berufungsgericht - entgegen der Auffassung der Revision - nicht mit der Frage zu befassen, welche Risiken der Klägerin an ihrem Wohnort drohten.
42 b) Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Tatbestand von § 651h Abs. 3 BGB erfüllt ist, wenn schon vor Beginn der Reise außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass die Reise oder die Beförderung zum Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt ist.
43 aa) Eine erhebliche Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB liegt nicht nur dann vor, wenn feststeht, dass die Durchführung der Reise nicht möglich ist oder zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Gesundheit oder sonstiger Rechtsgüter des Reisenden führen würde.
44 Wie sich insbesondere aus Erwägungsgrund 31 der Richtlinie ergibt, kann eine solche Beeinträchtigung vielmehr schon dann zu bejahen sein, wenn die Durchführung der Reise aufgrund von außergewöhnlichen Umständen mit erheblichen und nicht zumutbaren Risiken in Bezug auf solche Rechtsgüter verbunden wäre. Die Beurteilung, ob solche Risiken bestehen, erfordert eine Prognose vor Reisebeginn.
45 bb) Die Beurteilung, ob ein nicht zumutbares Risiko bestand, obliegt im Wesentlichen dem Tatrichter.
46 Die tatrichterliche Würdigung ist in der Revisionsinstanz lediglich darauf zu überprüfen, ob ein zutreffender rechtlicher Maßstab angelegt wurde, alle maßgeblichen Umstände des konkreten Einzelfalls in die Würdigung eingeflossen sind, Denkgesetze und Erfahrungssätze berücksichtigt wurden und keinem Umstand eine offensichtlich unangemessene Bedeutung beigemessen worden ist.
47 Das Bestehen einer Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für den betreffenden Zeitraum stellt in der Regel ein erhebliches Indiz für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände am Bestimmungsort dar. Außergewöhnliche Umstände im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB können aber auch dann vorliegen, wenn eine solche Warnung nicht ergangen ist (BeckOGKBGB/Harke, Stand 1. Juli 2022, § 651h Rn. 47; MünchKomm.BGB/Tonner, 8. Aufl. 2020, § 651h Rn. 43; jurisPK/Steinrötter, 9. Aufl. [aktualisiert 11. Mai 2020], § 651h Rn. 44.1; Löw, NJW 2020, 1252, 1253; Führich, NJW 2020, 2137, 2138; Ullenboom, RRa 2021, 155, 160; Staudinger/Achilles-Pujol in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 26; AG Duisburg, Urteil vom 14. Dezember 2020 - 506 C 2377/20, BeckRS 2020, 37777; AG Stuttgart, Urteil vom 13. Oktober 2020 - 3 C 2559/20, NJW-RR 2021, 53, 54).
48 Zu berücksichtigen sein können insbesondere auch Stellungnahmen fachkundiger Stellen wie etwa des Robert-Koch-Instituts oder der Weltgesundheitsorganisation (Staudinger/Achilles-Pujol in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 26, Staudinger/Ruks, DAR 2020, 314, 316), aber auch sonstige Äußerungen und Meldungen, die hinreichend zuverlässig Aufschluss über zu erwartende Gefahren und Beeinträchtigungen geben (vgl. Führich, NJW 2020, 2137, 2139; Ullenboom, RRa 2021, 155, 160; Binger, RRa 2021, 207, 212).
49 Wie bereits oben dargelegt wurde, sind innerhalb des so vorgegebenen Rahmens insbesondere die konkreten Umstände maßgeblich, unter denen die Reise erbracht werden soll, insbesondere etwa die Frage, ob es bei der An- und Rückreise oder am Bestimmungsort zwangsläufig zu engem Kontakt mit anderen Reisenden oder sonstigen Personen kommt.
50 cc) Gemessen daran hält die Würdigung des Berufungsgerichts, im Zeitpunkt des Rücktritts der Klägerin seien außergewöhnliche Umstände, die die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigen, hinreichend wahrscheinlich gewesen, der rechtlichen Überprüfung stand.
51 (1) Den Umstand, dass die bis zum 14. Juni 2020 verlängerte Reisewarnung des Auswärtigen Amtes den Zeitraum der eine Woche später beginnenden Reise nicht mehr erfasst hat, hat das Berufungsgericht berücksichtigt. Es hat maßgeblich darauf abgestellt, dass die Reisewarnung im Rücktrittszeitpunkt noch galt und ein ersatzloses Auslaufen dieser Warnung nicht absehbar war.
52 Diese Würdigung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
53 Die Indizwirkung einer befristeten Reisewarnung ist grundsätzlich zwar als eher gering zu bewerten, wenn nicht absehbar ist, ob die Warnung verlängert wird, und zwischen dem Fristende und dem vorgesehenen Beginn der Reise noch geraume Zeit verbleibt. Wenn die Frist wie im Streitfall jedoch nur wenige Tage vor dem geplanten Reisebeginn endet, ist es dem Reisenden nicht ohne weiteres zumutbar, die weitere Entwicklung abzuwarten. Dies kann es rechtfertigen, der Reisewarnung trotz ihrer Befristung ein stärkeres Gewicht beizumessen.
54 (2) Entgegen der Auffassung der Revision bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Berufungsgericht den Vortrag der Beklagten zu ihrem Hygienekonzept für die Kreuzfahrt übergangen hat.
55 (a) Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Das Gericht ist auch nicht ohne weiteres verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen einer Partei in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 24. März 2016 - I ZB 86/15 Rn. 9).
56 Im Streitfall hat das Berufungsurteil das Hygienekonzept der Beklagten mehrfach erwähnt und im Rahmen der Gesamtwürdigung berücksichtigt. Daraus ist zu entnehmen, dass das Berufungsgericht das diesbezügliche Vorbringen der Beklagten in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.
57 (b) Entgegen der Auffassung der Revision war das Berufungsgericht nicht gehalten, sich mit den vorgetragenen Hygienemaßnahmen im Einzelnen auseinanderzusetzen.
58 Das Berufungsgericht stützt seine Würdigung, dass auch unter Berücksichtigung des Hygienekonzepts prognostisch von einer objektiv erhöhten Gesundheitsgefährdung der Klägerin auszugehen war, vor allem auf die räumlich begrenzten Verhältnisse während der Schiffsreise und das Fehlen von Impfangeboten und speziellen Therapiemöglichkeiten zum damaligen Zeitpunkt. Die von der Beklagten vorgetragenen Hygienemaßnahmen - Essen in zwei Schichten und ohne Buffetbetrieb, Maskentragepflicht auf den Laufwegen an Bord und in den Ausflugsbussen, tägliche Fiebermessungen, Coronatests vor Reiseantritt, Einsatz einer größeren Anzahl von Bussen bei Ausflügen und Verringerung der Passagierzahl von 176 auf 100 - waren zwar ihrer Art nach geeignet, die aus der räumlichen Enge resultierenden Gefahren zu verringern. Den Ausführungen des Berufungsgerichts ist jedoch zu entnehmen, dass es das verbleibende Risiko angesichts der fehlenden Impf- und Therapiemöglichkeiten dennoch als nicht zumutbar angesehen hat.
59 Diese tatrichterliche Würdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Ausgehend von dieser Würdigung war eine Befassung mit den einzelnen Hygienemaßnahmen rechtlich nicht geboten.
60 (c) Vor diesem Hintergrund war das Berufungsgericht auch nicht gehalten, ein Sachverständigengutachten zur Ansteckungsgefahr einzuholen.
61 Wie bereits oben aufgezeigt wurde, ist für die rechtliche Beurteilung maßgeblich, welche Risiken die Reise aus der Sicht eines verständigen Reisenden zum damaligen Zeitpunkt barg. Erkenntnisse aus einem einzuholenden Sachverständigengutachten standen damals nicht zur Verfügung.
62 (3) Entgegen der Auffassung der Revision ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht das Alter der Klägerin berücksichtigt hat.
63 In diesem Zusammenhang braucht nicht abschließend geklärt zu werden, inwieweit bei der Beurteilung der Frage, ob die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigt ist, individuelle Verhältnisse oder Eigenschaften des Reisenden zu berücksichtigen sind. In die Abwägung einzubeziehen sind solche Besonderheiten jedenfalls dann, wenn sie für die Durchführbarkeit der Reise erst aufgrund der außergewöhnlichen Umstände im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie Bedeutung gewinnen und die daraus resultierenden Gefahren für den Reisenden dem gewöhnlichen Reisebetrieb im Buchungszeitpunkt noch nicht innegewohnt haben.
64 Eine solche Konstellation liegt im Streitfall vor.
65 Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich, dass zum Zeitpunkt der Buchung das Alter der Klägerin einer Teilnahme an der Reise nicht entgegengestanden hätte. Die Pandemie und die daraus resultierenden Risiken haben demgegenüber dazu geführt, dass die Klägerin zu einer Personengruppe gehört, für die die Reise mit besonderen Gefahren verbunden ist. Mit der Berücksichtigung dieser Veränderung hat das Berufungsgericht nicht auf individuelle Verhältnisse abgestellt, die allein der Risikosphäre der Klägerin zuzurechnen sind, sondern auf objektive Umstände, die den Charakter der Reise verändert haben und deshalb in die durch § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie definierte Risikosphäre der Beklagten fallen. Auf die vom Berufungsgericht zusätzlich angeführte Vorschädigung der Lunge, die das Risiko für die Klägerin noch weiter erhöht haben mag, kommt es vor diesem Hintergrund nicht mehr entscheidungserheblich an.
66 (4) Entgegen der Auffassung der Revision war das Berufungsgericht nicht gehalten, die Wahrscheinlichkeit für eine Ansteckung der Klägerin auf der Kreuzfahrt zu beziffern.
67 Wie bereits oben dargelegt wurde, bedarf die Beurteilung der Frage, ob die Durchführung der Reise aufgrund von außergewöhnlichen Umständen mit erheblichen und nicht zumutbaren Risiken verbunden wäre, einer Würdigung aller für den Einzelfall relevanten Umstände. Diese Würdigung kann nicht mit Hilfe mathematischer Methoden erfolgen. Sie bedarf einer wertenden Entscheidung.
68 Aus der von der Revision angeführten Entscheidung des Senats zu den Voraussetzungen einer Kündigung wegen höherer Gewalt gemäß § 651j BGB aF (BGH, Urteil vom 15. Oktober 2002 - X ZR 147/01, NJW 2002, 3700, 3701) ergibt sich nichts anderes. Dort konnte die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Hurrikans am Zielgebiet der Pauschalreise aufgrund meteorologischer Erkenntnisse zwar beziffert werden. Der Senat hat aber auch in diesem Zusammenhang klargestellt, dass die Frage, wann eine erhebliche Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, sich nicht allgemein beantworten lässt.
69 III. Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV besteht kein Anlass.
70 Die für die Entscheidung des Streitfalls erheblichen Fragen sind angesichts von Systematik und Zweck von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie derart offenkundig zu beantworten, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt ("acte clair", vgl. dazu EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 16 - C.I.L.F.I.T.).
71 Dass die Fragen in der Instanzrechtsprechung unterschiedlich beurteilt werden und dass einzelne Gerichte vergleichbare Fragen bereits dem Gerichtshof vorgelegt haben, begründet für sich gesehen keine relevanten Zweifel an der Richtigkeit dieses Verständnisses. Dies gilt insbesondere für den Vorlagebeschluss des Landgerichts München I (Beschluss vom 18. Mai 2021 - 13 S 17293/20, RRa 2021, 171; Rechtssache C-396/21), der im Kontext von Gewährleistungsansprüchen nach Art. 14 der Richtlinie die Frage nach den Auswirkungen der Pandemie auch am Heimatort des Reisenden aufwirft.
72 Aus der Vorlageentscheidung des österreichischen Obersten Gerichtshofs (Beschluss vom 25. Januar 2022 - 8 Ob 130/21; Rechtssache C-193/22) ergibt sich kein abweichendes Verständnis. Diese Vorlage betrifft allein die Berücksichtigungsfähigkeit von Umständen, die erst nach der Rücktrittserklärung eingetreten sind.