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Wirtschaftsrecht
27.04.2023
Wirtschaftsrecht
EuGH: Bindungswirkung bestandskräftiger Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden

EuGH, Urteil vom 20.4.2023 – C-25/21, ZA, AZ, BX, CV, DU, ET gegen Repsol Comercial de Productos Petrolíferos SA

ECLI:EU:C:2023:298

Volltext: BB-Online BBL2023-961-1

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

1. Art. 101 AEUV, wie er mit Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln durchgeführt wird, in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz ist dahin auszulegen, dass die Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht, die in einer Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde festgestellt wurde, die vor den zuständigen nationalen Gerichten angefochten wurde, aber in Bestandskraft erwuchs, nachdem sie durch diese Gerichte bestätigt worden war, sowohl im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 101 Abs. 2 AEUV als auch im Rahmen einer Schadensersatzklage wegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV bis zum Beweis des Gegenteils als durch den Kläger nachgewiesen gilt, wodurch die in diesem Art. 2 definierte Beweislast auf den Beklagten übergeht, sofern die Art der behaupteten Zuwiderhandlung, die den Gegenstand dieser Klagen bildet, sowie ihre sachliche, persönliche, zeitliche und räumliche Dimension mit Art und Dimension der in der Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlung übereinstimmen.

2. Art. 101 AEUV ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, sofern es einem Kläger gelingt, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen diesen Artikel nachzuweisen, die Gegenstand seiner Nichtigkeitsklage nach Art. 101 Abs. 2 AEUV und seiner Schadensersatzklage wegen dieser Zuwiderhandlung ist, hieraus alle Konsequenzen ziehen und insbesondere gemäß Art. 101 Abs. 2 AEUV daraus ableiten muss, dass alle mit Art. 101 Abs. 1 AEUV unvereinbaren vertraglichen Bestimmungen nichtig sind; die gesamte Vereinbarung ist nur dann nichtig, wenn sich diese Teile nicht von den übrigen Teilen der Vereinbarung trennen lassen.

 

 

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 Abs. 2 AEUV und Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen ZA, AZ, BX, CV, DU und ET (im Folgenden zusammen: Erben von KN) auf der einen und der Repsol Comercial de Productos Petrolíferos SA (im Folgenden: Repsol) auf der anderen Seite wegen von den Erben von KN angestrengter Klagen, mit denen die Nichtigkeit der zwischen ihnen und Repsol geschlossenen Verträge sowie Ersatz für die Schäden begehrt wird, die durch diese Verträge verursacht worden sein sollen.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 1/2003

 

3          Art. 2 („Beweislast“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„In allen einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Verfahren zur Anwendung der Artikel [101 und 102 AEUV] obliegt die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Artikel [101] Absatz 1 oder Artikel [102 AEUV] der Partei oder der Behörde, die diesen Vorwurf erhebt. Die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des Artikels [101] Absatz 3 [AEUV] vorliegen, obliegt den Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, die sich auf diese Bestimmung berufen.“

 

Richtlinie 2014/104/EU

4          Der 34. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1) lautet:

 

„Zur Gewährleistung der Wirksamkeit und Kohärenz der Anwendung der Artikel 101 und 102 AEUV durch die [Europäische] Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden ist ein in der ganzen [Europäischen] Union einheitliches Konzept hinsichtlich der Wirkung bestandskräftiger Zuwiderhandlungsentscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden auf anschließende Schadensersatzklagen erforderlich. Solche Entscheidungen werden erst dann getroffen, wenn die Kommission zuvor über die in Aussicht genommene Entscheidung oder anderenfalls über jede sonstige Unterlage, der die geplante Vorgehensweise zu entnehmen ist, gemäß Artikel 11 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 unterrichtet wurde und wenn die Kommission die nationale Wettbewerbsbehörde nicht durch die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 11 Absatz 6 der genannten Verordnung von ihrer Zuständigkeit entbunden hat. Die Kommission sollte für eine konsequente Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union sorgen, indem sie den nationalen Wettbewerbsbehörden im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes Orientierungshilfen bereitstellt. Im Interesse der Rechtssicherheit, zur Vermeidung von Widersprüchen bei der Anwendung der Artikel 101 und 102 AEUV, zur Erhöhung der Wirksamkeit und verfahrensrechtlichen Effizienz von Schadensersatzklagen und zur Förderung des Funktionierens des Binnenmarkts für Unternehmen und Verbraucher sollte die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Artikel 101 oder 102 AEUV in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einer Rechtsmittelinstanz in späteren Verfahren über Schadensersatzklagen nicht erneut verhandelt werden. Daher sollte eine solche Feststellung in einem Verfahren über Schadensersatzklagen als unwiderlegbar nachgewiesen gelten, das im Mitgliedstaat der nationalen Wettbewerbsbehörde oder der Rechtsmittelinstanz im Zusammenhang mit dieser Zuwiderhandlung angestrengt wurde. Die Wirkung der Feststellung sollte jedoch nur die Art der Zuwiderhandlung sowie ihre sachliche, persönliche, zeitliche und räumliche Dimension erfassen, so wie sie von der Wettbewerbsbehörde oder der Rechtsmittelinstanz in Ausübung ihrer bzw. seiner Zuständigkeit festgestellt wurde. Diese Grundsätze sollten auch für eine Entscheidung in Fällen gelten, in denen das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht auf denselben Fall und parallel angewandt werden, und in der ein Verstoß gegen Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts festgestellt wurde.“

 

5          Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)       In dieser Richtlinie sind bestimmte Vorschriften festgelegt, die erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass jeder, der einen durch eine Zuwiderhandlung eines Unternehmens oder einer Unternehmensvereinigung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden erlitten hat, das Recht, den vollständigen Ersatz dieses Schadens von diesem Unternehmen oder dieser Unternehmensvereinigung zu verlangen, wirksam geltend machen kann. In dieser Richtlinie sind Vorschriften festgelegt, mit denen der unverfälschte Wettbewerb im Binnenmarkt gefördert und Hindernisse für sein reibungsloses Funktionieren beseitigt werden, indem in der ganzen Union ein gleichwertiger Schutz für jeden gewährleistet wird, der einen solchen Schaden erlitten hat.

(2)        In dieser Richtlinie sind Vorschriften für die Koordinierung der Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften durch die Wettbewerbsbehörden und der Durchsetzung dieser Vorschriften im Wege von Schadensersatzklagen vor nationalen Gerichten festgelegt.“

 

6          Art. 9 („Wirkung nationaler Entscheidungen“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)       Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass eine in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einer Rechtsmittelinstanz festgestellte Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht für die Zwecke eines Verfahrens über eine Klage auf Schadensersatz nach Artikel 101 oder 102 AEUV oder nach nationalem Wettbewerbsrecht vor einem ihrer nationalen Gerichte als unwiderlegbar festgestellt gilt.

(2)        Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass eine bestandskräftige Entscheidung nach Absatz 1, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen ist, gemäß ihrem jeweiligen nationalen Recht vor ihren nationalen Gerichten zumindest als Anscheinsbeweis dafür vorgelegt werden kann, dass eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen wurde, und gegebenenfalls zusammen mit allen anderen von den Parteien vorgelegten Beweismitteln geprüft werden kann.

(3)        Dieser Artikel lässt die Rechte und Pflichten nationaler Gerichte nach Artikel 267 AEUV unberührt.“

 

7          Art. 21 („Umsetzung“) Abs. 1 der Richtlinie hat folgenden Wortlaut:

„Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens bis zum 27. Dezember 2016 nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Rechtsvorschriften mit.

Wenn die Mitgliedstaaten diese Vorschriften erlassen, nehmen sie in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten der Bezugnahme.“

 

8          Art. 22 („Zeitliche Geltung“) dieser Richtlinie lautet:

„(1)       Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nach Artikel 21 erlassen werden, um den materiell-rechtlichen Vorschriften dieser Richtlinie zu entsprechen, nicht rückwirkend gelten.

(2)        Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Vorschriften, die nach Artikel 21 erlassen werden und die nicht unter Absatz 1 fallen, nicht für Schadensersatzklagen gelten, die vor dem 26. Dezember 2014 bei einem nationalen Gericht erhoben wurden.“

 

Spanisches Recht

9          Art. 75 Abs. 1 der Ley 15/2007 de Defensa de la Competencia (Gesetz 15/2007 zum Schutz des Wettbewerbs) vom 3. Juli 2007 (BOE Nr. 159 vom 4. Juli 2007, S. 28848) in der durch das Real Decreto-ley 9/2017, por el que se transponen directivas de la Unión Europea en los ámbitos financiero, mercantil y sanitario, y sobre el desplazamiento de trabajadores (Real Decreto-ley 9/2017 zur Umsetzung der Richtlinien der Europäischen Union im Finanz‑, Handels- und Gesundheitswesen sowie über die Entsendung von Arbeitnehmern) vom 26. Mai 2017 (BOE Nr. 126 vom 27. Mai 2017, S. 42820) geänderten Fassung sieht vor:

„Eine in einer bestandskräftigen Entscheidung einer spanischen Wettbewerbsbehörde oder einer Rechtsmittelinstanz festgestellte Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht gilt für die Zwecke eines Verfahrens über eine Klage auf Schadensersatz vor einem spanischen Gericht als unwiderlegbar festgestellt.“

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10        Die Erben von KN sind die Eigentümer einer von KN gebauten Tankstelle. Während des Zeitraums von 1987 bis 2009 schlossen KN bzw. die Erben von KN mit Repsol mehrere Alleinbezugsverträge über Kraftstoff.

 

11        Ausweislich der Vorlageentscheidung waren die ersten beiden Verträge, die am 1. Juli 1987 bzw. 1. Februar 1996 geschlossen wurden, „Weiterverkaufsvereinbarungen“, da das Eigentum an dem von Repsol gelieferten Kraftstoff auf KN bzw. die Erben von KN überging, sobald er in den Tank der in Rede stehenden Tankstelle gefüllt wurde. Diese Verträge sahen als Vergütung für den Tankstellenbetreiber eine Provision vor, die er auf die von Repsol empfohlenen Endverkaufspreise für Kraftstoffe anwenden konnte.

 

12        Am 27. April 1999 reichte die Asociación de Propietarios de Estaciones de Servicio y Unidades de Suministro de Andalucía (Verband der Eigentümer von Tankstellen und Versorgungseinheiten von Andalusien, Spanien) bei den zuständigen Behörden eine Beschwerde gegen mehrere Raffineriegesellschaften, darunter Repsol, ein, weil gegen das nationale und gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsrecht verstoßen worden sei.

 

13        Mit Entscheidung vom 11. Juli 2001 (im Folgenden: Entscheidung von 2001) stellte das Tribunal de Defensa de la Competencia (Gericht für Wettbewerbsschutz, Spanien) fest, dass Repsol dadurch, dass sie im Rahmen ihrer Vertragsbeziehungen mit bestimmten spanischen Tankstellen die Endverkaufspreise der Kraftstoffe festgesetzt habe, gegen die Vorschriften des Wettbewerbsrechts verstoßen habe. Das Gericht gab Repsol auf, diese Zuwiderhandlung zu beenden.

 

14        Diese Entscheidung, deren Gültigkeit von Repsol in Frage gestellt wurde, wurde durch ein Urteil der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) vom 11. Juli 2007 bestätigt. Gegen dieses Urteil legte Repsol ein Rechtsmittel beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) ein. Mit dessen Urteil vom 17. November 2010 wurde dieses Rechtsmittel zurückgewiesen. Dadurch wurde die Entscheidung von 2001 bestandskräftig.

 

15        Am 22. Februar 2001, am 22. Februar 2006 und am 17. Juli 2009 schlossen die Erben von KN mit Repsol drei weitere Verträge ab. Diese Verträge, bei denen es sich ebenfalls um Weiterverkaufsvereinbarungen handelte, enthielten eine Alleinbezugsverpflichtung zugunsten dieses Unternehmens.

 

16        Nach einer Untersuchung der Comisión Nacional de la Competencia (Nationale Wettbewerbskommission, Spanien), erließ diese Behörde am 30. Juli 2009 eine Entscheidung (im Folgenden: Entscheidung von 2009), mit der sie bestimmte Raffineriegesellschaften, darunter Repsol, wegen der indirekten Festsetzung des von den betreffenden Tankstellen angewandten Endverkaufspreises der Kraftstoffe sanktionierte. Die Behörde stellte fest, dass Repsol gegen Art. 81 Abs. 1 EG (jetzt Art. 101 Abs. 1 AEUV) und Art. 1 der Ley 16/1989 de Defensa de la Competencia (Gesetz 16/1989 zum Schutz des Wettbewerbs) vom 17. Juli 1989 (BOE Nr. 170 vom 18. Juli 1989, S. 22747) verstoßen habe.

 

17        Die Entscheidung von 2009, die im Klagewege angefochten wurde, wurde durch die Urteile des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vom 22. Mai und 2. Juni 2015 bestätigt und erlangte Bestandskraft.

 

18        Im Rahmen eines Überwachungsverfahrens erließ die Nationale Wettbewerbskommission drei Entscheidungen, in denen sie feststellte, dass Repsol bis 2019 weiterhin gegen die Vorschriften des Wettbewerbsrechts verstoßen habe.

 

19        Unter diesen Umständen erhoben die Erben von KN nach den Entscheidungen von 2001 und von 2009 beim Juzgado de lo Mercantil n° 2 de Madrid (Handelsgericht Nr. 2 Madrid, Spanien), dem vorlegenden Gericht, zum einen nach Art. 101 Abs. 2 AEUV eine Klage auf Nichtigerklärung der mit Repsol geschlossenen Verträge, weil dieses Unternehmen unter Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV den Endverkaufspreis der in Rede stehenden Brenn‑ und Kraftstoffe festgesetzt habe, und zum anderen eine Klage auf Ersatz des Schadens, der durch diese Verträge verursacht worden sein soll. Zum Beweis, dass die in Rede stehende Zuwiderhandlung gegeben ist, stützen sich die Erben von KN im Rahmen dieser Klagen auf die Entscheidungen von 2001 und von 2009.

 

20        Das vorlegende Gericht weist als Erstes darauf hin, dass nach Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV der Partei obliege, die diesen Vorwurf erhebe.

 

21        Als Zweites führt es aus, dass ein Kläger im Rahmen einer Schadensersatzklage, die erhoben worden sei, nachdem eine Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde bestandskräftig geworden sei, gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 der ihm hinsichtlich des Vorliegens der Zuwiderhandlung obliegenden Beweislast grundsätzlich Genüge tun könne, wenn er nachweise, dass diese Entscheidung gerade die in Rede stehende Vertragsbeziehung betreffe.

 

22        Nach der nationalen Rechtsprechung komme aber im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 101 Abs. 2 AEUV, wie sie von den Erben von KN angestrengt werde, einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde keine Bindungswirkung zu, wenn nicht nachgewiesen werde, dass die in dieser Entscheidung festgestellte Zuwiderhandlung und die behauptete Zuwiderhandlung, die den Gegenstand der Klage bildet, identisch sind, und dass der Kläger und nicht eine andere Person Opfer dieser Zuwiderhandlung geworden ist.

 

23        Mithin sei es erforderlich, die streitgegenständliche Vertragsbeziehung einer individuellen Analyse zu unterziehen und nachzuweisen, dass gerade der Kläger, ein Tankstellenbetreiber, und nicht eine andere Person Opfer der Praxis der Preisfestsetzung wurde.

 

24        Nach der nationalen Rechtsprechung stelle, wenn insbesondere die in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde festgestellte Zuwiderhandlung und die den Gegenstand einer Nichtigkeitsklage nach Art. 101 Abs. 2 AEUV bildende Zuwiderhandlung nicht übereinstimmten, eine solche Entscheidung nicht einmal ein Indiz für das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln dar.

 

25        Im vorliegenden Fall müssten daher folglich die Erben von KN, um eine Entscheidung zu erlangen, in der die Nichtigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträge festgestellt wird, vor diesem Gericht erneut die Beweise vorlegen, die im Rahmen der von den nationalen Wettbewerbsbehörden geprüften Verwaltungsakte eingereicht worden seien.

 

26        In diesem Zusammenhang ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass es zur Folge hätte, gegen Art. 101 AEUV verstoßende Verträge aufrechtzuerhalten, wenn bestandskräftigen Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörde jegliche Bindungswirkung abgesprochen würde.

 

27        Nur wenn den Erben von KN der Nachweis gelinge, dass die Verträge in zeitlicher und räumlicher Hinsicht den von den nationalen Wettbewerbsbehörden in ihren bestandskräftigen Entscheidungen sanktionierten Praktiken sowie der von diesen Behörden geprüften Vertragsart entsprechen, sei davon auszugehen, dass sie der ihnen nach Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 obliegenden Beweislast Genüge getan hätten, und sie mithin beweisen konnten, dass die den Gegenstand ihrer Klagen bildende Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV gegeben sei.

 

28        Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Mercantil n° 2 de Madrid (Handelsgericht Nr. 2 Madrid) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

 

1.         Wenn der Kläger nachweist, dass sein mit Repsol geschlossener Vertrag über den Alleinbezug und die Anbringung und Verwendung von Unternehmenskennzeichen (auf Provisionsbasis oder auf der Grundlage eines Festverkaufs mit einem Referenzpreis – Weiterverkauf mit Rabatt) in den von der nationalen Wettbewerbsbehörde geprüften räumlichen und zeitlichen Bereich fällt, war dann dieser Vertrag von der Entscheidung des Tribunal de Defensa de la Competencia (Gericht für Wettbewerbsschutz) vom 11. Juli 2001 (Rechtssache 490/00 REPSOL) und/oder von der Entscheidung der Nationalen Wettbewerbskommission vom 30. Juli 2009 (Sache 652/07 REPSOL/CEPSA/BP) betroffen, so dass aufgrund dieser Entscheidungen die Beweislastanforderungen von Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 hinsichtlich des Verstoßes als erfüllt anzusehen sind?

2.         Falls die erste Frage bejaht wird und im konkreten Fall festgestellt wird, dass der Vertrag von der Entscheidung des Tribunal de Defensa de la Competencia (Gericht für Wettbewerbsschutz) vom 11. Juli 2001 (Rechtssache 490/00 REPSOL) und/oder von der Entscheidung der Nationalen Wettbewerbskommission vom 30. Juli 2009 (Sache 652/07 REPSOL/CEPSA/BP) betroffen ist, ist dann zwingend festzustellen, dass der Vertrag nach Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig ist?

 

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

Vorbemerkungen

 

29        Das vorlegende Gericht nimmt auf die Richtlinie 2014/104, insbesondere auf deren Art. 9 Abs. 1, Bezug. Diese Bestimmung könnte aber nur dann für die Lösung des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren relevant sein, wenn der Rechtsstreit in ihren sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich fällt.

 

30        Insoweit ist hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs von Art. 9 der Richtlinie 2014/104 darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie, wie aus ihrem Titel und ihrem Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) hervorgeht, bestimmte Vorschriften für auf nationaler Ebene erhobene Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Union aufstellt.

 

31        Hieraus ergibt sich, dass der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/104 einschließlich ihres Art. 9 allein auf Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln beschränkt ist und sich somit nicht auf andere Arten von Klagen erstreckt, die Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen des Wettbewerbsrechts zum Gegenstand haben, wie etwa Nichtigkeitsklagen nach Art. 101 Abs. 2 AEUV.

 

32        Folglich fällt die von den Erben von KN nach Art. 101 Abs. 2 AEUV erhobene Nichtigkeitsklage nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/104.

 

33        Was die zeitliche Anwendbarkeit von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 auf die Schadensersatzklage der Erben von KN betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass zur Klärung der Frage der zeitlichen Anwendbarkeit der Bestimmungen dieser Richtlinie erstens zu prüfen ist, ob die betreffende Vorschrift eine materiell-rechtliche Vorschrift darstellt oder nicht (Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 38).

 

34        Sollte Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 als „materiell-rechtliche Vorschrift“ eingestuft werden, wäre angesichts dessen, dass diese Richtlinie im vorliegenden Fall unstreitig fünf Monate nach Ablauf der in ihrem Art. 21 vorgesehenen Umsetzungsfrist in spanisches Recht umgesetzt wurde, weil das Real Decreto-ley 9/2017 zur Umsetzung der Richtlinie am 27. Mai 2017 in Kraft getreten ist, zweitens zu prüfen, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt, soweit er nicht als neu eingestuft werden kann, vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie, d. h. dem 27. Dezember 2016, abgeschlossen war oder ob er nach Ablauf dieser Frist weiterhin Wirkung entfaltet hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 42 und 48).

 

35        Wenn dagegen diese Bestimmung als „Verfahrensvorschrift“ eingestuft wird, ist davon auszugehen, dass sie ab dem Datum ihres Inkrafttretens auf den betreffenden Sachverhalt Anwendung findet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2021, Jumbocarry Trading, C‑39/20, EU:C:2021:435, Rn. 28).

 

36        Was erstens die Frage anbelangt, ob Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 materiell-rechtlicher Natur ist oder nicht, ist daran zu erinnern, dass nach dem Wortlaut dieser Bestimmung die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass eine in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einer Rechtsmittelinstanz festgestellte Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht für die Zwecke eines Verfahrens über eine Klage auf Schadensersatz nach den Art. 101 oder 102 AEUV oder nach nationalem Wettbewerbsrecht vor einem ihrer nationalen Gerichte als unwiderlegbar festgestellt gilt.

 

37        Dem Wortlaut dieser Bestimmung ist zu entnehmen, dass sie im Wesentlichen bestandskräftigen Entscheidungen einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder gegebenenfalls Entscheidungen einer Rechtsmittelinstanz, mit denen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt werden, für die Zwecke eines Verfahrens über eine Klage auf Schadensersatz vor einem Gericht desselben Mitgliedstaats wie demjenigen, in dem diese Behörde ihre Befugnisse ausübt, Bindungswirkung verleiht.

 

38        Insbesondere stellt Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 eine unwiderlegbare Vermutung hinsichtlich des Vorliegens einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht auf.

 

39        Da aber, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht, das Vorliegen eines hierdurch verursachten Schadens, der ursächliche Zusammenhang zwischen diesem Schaden und dieser Zuwiderhandlung sowie die Identität des Rechtsverletzers zu den unerlässlichen Angaben gehören, über die der Geschädigte verfügen muss, um eine Schadensersatzklage zu erheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 60), ist davon auszugehen, dass sich Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 auf das Vorliegen eines der Tatbestandsmerkmale der zivilrechtlichen Haftung für Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften des Wettbewerbsrechts bezieht und mithin, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, als materiell-rechtliche Vorschrift einzustufen ist.

 

40        Daher ist davon auszugehen, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 materiell-rechtlicher Natur im Sinne von Art. 22 Abs. 1 dieser Richtlinie ist.

 

41        Wie sich aus Rn. 34 des vorliegenden Urteils ergibt, ist zur Klärung der Frage nach der zeitlichen Anwendbarkeit von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 zweitens zu prüfen, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt vor Ablauf der Umsetzungsfrist dieser Richtlinie abgeschlossen war oder ob er nach Ablauf dieser Frist weiterhin Wirkung entfaltet.

 

42        Zu diesem Zweck sind die Natur und der Funktionsmechanismus von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 49 und 100).

 

43        Wie sich aus Rn. 38 des vorliegenden Urteils ergibt, stellt diese Bestimmung eine Vermutung auf, wonach eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht, die in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder in einer Entscheidung einer Rechtsmittelinstanz festgestellt worden ist, für die Zwecke eines Verfahrens über eine nach diesen Entscheidungen erhobene Klage auf Schadensersatz vor einem Gericht des Mitgliedstaats, in dem diese Behörde oder diese Rechtsmittelinstanz ihre Befugnisse ausüben, als unwiderlegbar nachgewiesen gilt.

 

44        Da es sich bei dem Umstand, der vom Unionsgesetzgeber als Umstand identifiziert wird, der die Annahme zulässt, dass die betreffende Zuwiderhandlung für die Zwecke des Verfahrens über die betreffende Schadensersatzklage als unwiderlegbar nachgewiesen gilt, um den Zeitpunkt handelt, zu dem die betreffende Entscheidung bestandskräftig wurde, ist zu prüfen, ob dieser Zeitpunkt vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2014/104 liegt, da diese Richtlinie nicht innerhalb dieser Frist in spanisches Recht umgesetzt worden ist.

 

45        Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die Entscheidung von 2001 nach dem Urteil des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vom 17. November 2010 bestandskräftig wurde. Die Entscheidung von 2009 wurde nach den Urteilen des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vom 22. Mai bzw. 2. Juni 2015 bestandskräftig. Mithin wurden diese Entscheidungen vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2014/104 bestandskräftig. Folglich ist der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt abgeschlossen.

 

46        In Anbetracht von Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 ist daher davon auszugehen, dass Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie in zeitlicher Hinsicht nicht auf Schadensersatzklagen angewendet werden kann, die nach Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden angestrengt werden, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist dieser Richtlinie bestandskräftig wurden.

 

47        Unter diesen Umständen ist vorliegend die nationale Regelung in ihrer Auslegung durch die zuständigen nationalen Gerichte insbesondere im Hinblick auf Art. 101 AEUV, wie er in Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 durchgeführt wird, zu prüfen.

 

Zur Beantwortung der Vorlagefrage

 

48        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 AEUV, wie er mit Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 durchgeführt wird, in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen ist, dass die Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht, die in einer Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde festgestellt wurde, die vor den zuständigen nationalen Gerichten angefochten wurde, aber in Bestandskraft erwuchs, nachdem sie durch diese Gerichte bestätigt worden war, sowohl im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 101 Abs. 2 AEUV als auch im Rahmen einer Schadensersatzklage wegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV bis zum Beweis des Gegenteils als durch den Kläger nachgewiesen gilt, wodurch die in diesem Art. 2 definierte Beweislast auf den Beklagten übergeht, sofern die zeitliche und räumliche Dimension der behaupteten Zuwiderhandlung, die den Gegenstand dieser Klagen bildet, mit der Dimension der in der Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlung übereinstimmt.

 

49        Nach gefestigter Rechtsprechung kann das Unionsrecht dem Einzelnen Pflichten auferlegen, aber auch Rechte verleihen; solche Rechte entstehen nicht nur, wenn die Verträge dies ausdrücklich bestimmen, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die diese Verträge dem Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Union auferlegen (Urteil vom 11. November 2021, Stichting Cartel Compensation und Equilib Netherlands, C‑819/19, EU:C:2021:904, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

50        Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 AEUV in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen erzeugen und unmittelbar in deren Person Rechte entstehen lassen, die die nationalen Gerichte zu wahren haben (Urteil vom 14. März 2019, Skanska Industrial Solutions u. a., C‑724/17, EU:C:2019:204, Rn. 24).

 

51        Die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen und insbesondere die praktische Wirksamkeit der dort ausgesprochenen Verbote wären beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. März 2019, Skanska Industrial Solutions u. a., C‑724/17, EU:C:2019:204, Rn. 25, sowie vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 39).

 

52        Schadensersatzklagen wegen Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln der Union, die vor den nationalen Gerichten erhoben werden, gewährleisten nämlich die volle Wirksamkeit von Art. 101 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des in dessen Abs. 1 ausgesprochenen Verbots und erhöhen damit die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union, da sie geeignet sind, Unternehmen von – oft verschleierten – Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2021, Stichting Cartel Compensation und Equilib Netherlands, C‑819/19, EU:C:2021:904, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

53        Das Gleiche gilt, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 82 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, für nach Art. 101 Abs. 2 AEUV erhobene Nichtigkeitsklagen.

 

54        Daher kann sich jede Person vor Gericht auf einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV berufen und somit die nach Art. 101 Abs. 2 AEUV vorgesehene Nichtigkeit einer nach dieser Bestimmung verbotenen Vereinbarung bzw. eines solchen Beschlusses geltend machen und Ersatz des ihr entstandenen Schadens verlangen, wenn zwischen dem Schaden und dieser Vereinbarung oder diesem Beschluss ein ursächlicher Zusammenhang besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2021, Stichting Cartel Compensation und Equilib Netherlands, C‑819/19, EU:C:2021:904, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

55        Nach ständiger Rechtsprechung ist es Sache der nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Unionsrecht anzuwenden haben, nicht nur die volle Wirkung dieses Rechts zu gewährleisten, sondern auch die Rechte zu schützen, die das Unionsrecht dem Einzelnen verleiht. Die Aufgabe, den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung der Vorschriften des Unionsrechts ergibt, obliegt diesen Gerichten (Urteil vom 11. November 2021, Stichting Cartel Compensation und Equilib Netherlands, C‑819/19, EU:C:2021:904, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

56        In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass nach Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 in allen Verfahren zur Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV, gleich ob es sich dabei um einzelstaatliche Verfahren oder um Verfahren der Union handelt, die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 oder Art. 102 AEUV der Partei oder der Behörde obliegt, die diesen Vorwurf erhebt.

 

57        Zwar wird in Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 die Beweislast ausdrücklich geregelt, auch in den Fällen, in denen die Nichtigkeitsklagen nach Art. 101 Abs. 2 AEUV und/oder die Schadensersatzklagen wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht nach einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, erhoben werden. Die Verordnung Nr. 1/2003 enthält jedoch keine Bestimmungen in Bezug darauf, welche Wirkungen diese Entscheidungen im Rahmen dieser beiden Arten von Klage entfalten.

 

58        In Ermangelung einer sachlich oder zeitlich anwendbaren einschlägigen Unionsregelung ist die Regelung der Modalitäten für die Ausübung des Rechts, die Feststellung der Nichtigkeit der Vereinbarungen oder Beschlüsse nach Art. 101 Abs. 2 AEUV zu verlangen, sowie des Rechts auf Ersatz des aus einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV resultierenden Schadens, einschließlich derjenigen hinsichtlich der Bindungswirkungen von bestandskräftigen Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Rahmen solcher Arten von Klagen, Aufgabe der innerstaatlichen Rechtsordnung des einzelnen Mitgliedstaats, wobei der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 42).

 

59        Daher dürfen die Vorschriften über die Rechtsbehelfe, die den Schutz der dem Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig sein als bei entsprechenden Rechtsbehelfen, die nur innerstaatliches Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), und sie dürfen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 43).

 

60        Insbesondere dürfen die in Rn. 58 des vorliegenden Urteils genannten Modalitäten nicht die wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV beeinträchtigen und müssen den Besonderheiten von wettbewerbsrechtlichen Rechtssachen angepasst sein; diese erfordern grundsätzlich eine komplexe Analyse der zugrunde liegenden Tatsachen und wirtschaftlichen Zusammenhänge (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 44, 46 und 47).

 

61        Allerdings würde, wie der Generalanwalt in den Nrn. 91 und 92 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Geltendmachung des Anspruchs auf Schadensersatz wegen Verstößen gegen Art. 101 AEUV übermäßig erschwert, wenn bestandskräftigen Entscheidungen einer Wettbewerbsbehörde bei zivilrechtlichen Schadensersatzklagen oder bei Klagen, mit denen die Nichtigkeit von nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen oder Beschlüssen geltend gemacht wird, keinerlei Wirkung zuerkannt würde.

 

62        Um die wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV insbesondere im Rahmen von Nichtigkeitsklagen nach Art. 101 Abs. 2 AEUV und von Schadensersatzklagen wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln sicherzustellen, die nach einer Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde erhoben wurden, die vor den nationalen Gerichten angefochten wurde, aber in Bestandskraft erwuchs, nachdem sie durch diese Gerichte bestätigt worden war, und nicht mehr mit einem ordentlichen Rechtsmittel angefochten werden kann, ist mithin davon auszugehen, dass insbesondere im Rahmen von Verfahren über solche Klagen, die vor einem Gericht desselben Mitgliedstaats wie dem, in dem die Behörde ihre Befugnisse ausübt, angestrengt werden, die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht durch diese Behörde bis zum Beweis des Gegenteils, den der Beklagte zu erbringen hat, das Vorliegen dieser Zuwiderhandlung nachweist, sofern ihre Art sowie ihre sachliche, persönliche, zeitliche und räumliche Dimension Art und Dimension der in der Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlung entsprechen.

 

63        Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass für die Zwecke solcher Verfahren das in einer solchen Entscheidung festgestellte Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union bis zum Beweis des Gegenteils als vom Kläger nachgewiesen gilt, wodurch die in Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 definierte Beweislast auf den Beklagten übergeht, sofern die Art sowie die sachliche, persönliche, zeitliche und räumliche Dimension der behaupteten Zuwiderhandlung, die den Gegenstand der vom Kläger angestrengten Klagen bildet, Art und Dimension der in der Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlung entsprechen.

 

64        Darüber hinaus sind, wie der Generalanwalt in Nr. 97 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, dann, wenn der Urheber, die Art, die rechtliche Einstufung, die Dauer und die räumliche Tragweite der in dieser Art von Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlung und der Zuwiderhandlung, die den Gegenstand der in Rede stehenden Klage bildet, nur teilweise übereinstimmen, die in einer solchen Entscheidung enthaltenen Feststellungen nicht zwangsläufig ohne jede Relevanz, sondern stellen ein Indiz für die Existenz der Tatsachen dar, auf die sich diese Feststellungen beziehen.

 

65        Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Erben von KN nachgewiesen haben, dass ihre Situation in den Anwendungsbereich der Entscheidungen von 2001 und von 2009 fällt, und insbesondere, dass die Art sowie die sachliche, persönliche, zeitliche und räumliche Dimension der behaupteten Zuwiderhandlungen, die den Gegenstand ihrer Nichtigkeitsklage und ihrer Schadensersatzklage bilden, die sie nach diesen bestandskräftigen Entscheidungen angestrengt haben, Art und Dimension der in diesen Entscheidungen festgestellten Zuwiderhandlungen entsprechen.

 

66        Ist dies nicht der Fall und überschneiden sich die in den Entscheidungen festgestellten Zuwiderhandlungen nur in begrenztem Maß mit den Zuwiderhandlungen, die im Rahmen der von den Erben von KN erhobenen Klagen behauptet werden, können diese Entscheidungen als Indizien für die Existenz der Tatsachen geltend gemacht werden, auf die sich die in diesen Entscheidungen enthaltenen Feststellungen beziehen.

 

67        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 101 AEUV, wie er mit Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 durchgeführt wird, in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen ist, dass die Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht, die in einer Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde festgestellt wurde, die vor den zuständigen nationalen Gerichten angefochten wurde, aber in Bestandskraft erwuchs, nachdem sie durch diese Gerichte bestätigt worden war, sowohl im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 101 Abs. 2 AEUV als auch im Rahmen einer Schadensersatzklage wegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV bis zum Beweis des Gegenteils als durch den Kläger nachgewiesen gilt, wodurch die in diesem Art. 2 definierte Beweislast auf den Beklagten übergeht, sofern die Art der behaupteten Zuwiderhandlung, die den Gegenstand dieser Klagen bildet, sowie ihre sachliche, persönliche, zeitliche und räumliche Dimension mit Art und Dimension der in der Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlung übereinstimmen.

 

Zur zweiten Frage

68        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 101 AEUV dahin auszulegen ist, dass, sofern es einem Kläger gelingt, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen diesen Artikel nachzuweisen, die Gegenstand seiner Nichtigkeitsklage nach Art. 101 Abs. 2 AEUV und seiner Klage auf Ersatz des durch diese Zuwiderhandlung erlittenen Schadens ist, die von diesen Klagen betroffenen gegen Art. 101 AEUV verstoßenden Vereinbarungen in vollem Umfang nichtig sind.

 

69        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut von Art. 101 Abs. 2 AEUV die nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen oder Beschlüsse nichtig sind.

 

70        Diese Nichtigkeit, die von jedem geltend gemacht werden kann, hat das Gericht zu beachten, sofern der Tatbestand von Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt ist und die betroffene Vereinbarung die Gewährung einer Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht rechtfertigen kann. Da die Nichtigkeit nach Art. 101 Abs. 2 AEUV absolut ist, erzeugt eine nach dieser Vorschrift nichtige Vereinbarung zwischen den Vertragspartnern keine Wirkungen und kann Dritten nicht entgegengehalten werden. Darüber hinaus erfasst diese Nichtigkeit die getroffenen Vereinbarungen oder Beschlüsse in allen ihren vergangenen oder zukünftigen Wirkungen (Urteil vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C‑453/99, EU:C:2001:465, Rn. 22).

 

71        Die Nichtigkeit nach Art. 101 Abs. 2 AEUV erstreckt sich nur auf die mit Art. 101 Abs. 1 AEUV unvereinbaren vertraglichen Bestimmungen. Die Auswirkungen dieser Nichtigkeit auf die übrigen Bestandteile des Vertrags sind nicht nach Unionsrecht zu beurteilen. Über diese Auswirkungen hat das nationale Gericht nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu entscheiden, zu dem es gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 1983, Société de vente de ciments et bétons de l’Est, 319/82, EU:C:1983:374, Rn. 12).

 

72        Es ist Sache des nationalen Gerichts, die Tragweite einer möglichen Nichtigkeit bestimmter Vertragsbestimmungen nach Art. 101 Abs. 2 AEUV sowie deren Auswirkungen auf die gesamten vertraglichen Beziehungen nach dem einschlägigen nationalen Recht zu beurteilen (Urteil vom 18. Dezember 1986, VAG France, 10/86, EU:C:1986:502, Rn. 15).

 

73        Mithin sind nur die nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verbotenen Teile der Vereinbarung gemäß Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig. Die gesamte Vereinbarung ist nur dann nichtig, wenn sich diese Teile nicht von den übrigen Teilen der Vereinbarung trennen lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Februar 1991, Delimitis, C‑234/89, EU:C:1991:91, Rn. 40).

 

74        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 101 AEUV dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, sofern es einem Kläger gelingt, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen diesen Artikel nachzuweisen, die Gegenstand seiner Nichtigkeitsklage nach Art. 101 Abs. 2 AEUV und seiner Schadensersatzklage wegen dieser Zuwiderhandlung ist, hieraus alle Konsequenzen ziehen und insbesondere gemäß Art. 101 Abs. 2 AEUV daraus ableiten muss, dass alle mit Art. 101 Abs. 1 AEUV unvereinbaren vertraglichen Bestimmungen nichtig sind; die gesamte Vereinbarung ist nur dann nichtig, wenn sich diese Teile nicht von den übrigen Teilen der Vereinbarung trennen lassen.

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