LG München I: Beweislastumkehr bei einer Alleinstellungsbehauptung
LG München I, Urteil vom 7.1.2010 - 7 O 22405/08
Sachverhalt
Die Klägerin macht gegen die Beklagte Rechte aus einem Gebrauchsmuster geltend. Zudem sieht sie in einer Werbung der Beklagten eine irreführende Behauptung wettbewerbsrechtlicher Art.
Die Klägerin stellt Brillengläser her. Zudem vertreibt sie Produkte, welche Optiker bei der Anpassung von Brillen und Brillengläsern unterstützen. Die Beklagte stellt ebenfalls Produkte für den Optikerbedarf her, mit denen der Optiker bei der Anpassung einer Brille unterstützt wird.
Die Klägerin ist Inhaberin der deutschen Patentanmeldung 10 2004 ... ...7 (K 1) und der europäischen Patentanmeldung 05 008 ...1 (K 2). Die deutsche Patentanmeldung wurde am 30.04.2004 eingereicht und die europäische Patentanmeldung nimmt diese Priorität in Anspruch. Zudem hat die Klägerin am 01.04.2005 das deutsche Gebrauchsmuster 20 2005 ... ...8 (K 3) als Abzweigung aus der genannten europäischen Patentanmeldung 05 008 ...1 angemeldet. Dieses deutsche Gebrauchsmuster, auf das die Klägerin sich im vorliegenden Verfahren stützt, wurde am 08.05.2008 eingetragen.
Das Klagegebrauchsmuster betrifft eine Vorrichtung zur Messung des Winkels zwischen Nahsichtvektor und Fernsichtvektor, insbesondere an einer Brille, und ein Verfahren zur Messung dieses Winkels. Es beansprucht gemäß der von der Klägerin vorgelegten und von der Beklagtenpartei nicht beanstandeten Merkmalsanalyse (K 4) folgende Merkmale:
A. eine Vorrichtung zur Messung des Winkels zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor
B. die eine in-situ-Messung dieses Winkels bereitstellt
C. welche ohne Beeinträchtigung der Physiologie und der Kopfbewegung erfolgen kann.
d1. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform dient die Vorrichtung zur Messung an einer beliebigen Brille.
d2. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform kann die Vorrichtung an einem beliebigen Brillenbügel mittels einer Halterung angeordnet werden.
e. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform ist die Halterung vorgesehen um eine Fixierung der Vorrichtung im Wesentlichen am distalen Ende des Brillenbügels bereitzustellen.
f. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform ist die Vorrichtung derart gestaltet, dass der Schwerpunkt der Vorrichtung in Anlage an dem Brillenbügel unterhalb des Brillenbügels vorgesehen ist
g. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform umfasst die Vorrichtung zumindest einen elektronischen Winkelsensor.
h. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform hat der Winkelsensor eine Permanent-Kalibrierung
i. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform umfasst die Vorrichtung und eine Datenübertragungseinrichtung
j. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform umfasst die Datenübertragungseinrichtung zumindest einen Infrarot-Sender/-Empfänger
k. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform hat die Vorrichtung ein Gesamtgewicht von maximal 25g insbesondere von 20 g.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass der Inhalt des Gebrauchsmusters schutzfähig sei. Zwar habe das Europäischen Patentamt im Erstbescheid den Patentschutz für das inhaltsgleiche Patent 05 008 ...1 versagt (Bescheid vom 30.11.2007 - K 13), dies sei aber fehlerhaft erfolgt, wie sich aus der daraufhin veranlassten Eingabe der Klägerin ergäbe (Schreiben vom 09.04.2008 - Teil des Anlagenkonvoluts K 13).
Die Beklagte bietet das Produkt „V. Vorneigungssensor" an. Es handele sich nach den Werbeangaben der Beklagten um eine Vorrichtung zur Ermittlung der habituellen Kopfhaltung des Kunden eines Optikers bei der Anpassung einer Brille. Es soll die vertikale Kopfhaltung dieser Person präzise erfassen.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass das Produkt der Beklagten von dem klägerischen Gebrauchsmuster mittelbar und unmittelbar Gebrauch machen würde. Denn der Vorneigungssensor könne zur Messung eines Winkels der von einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor eingeschlossen werde, verwendet werden. Das Produkt der Beklagten würde so funktionieren, dass
- die Vorrichtung an einer Brille einer Messperson angebracht,
- die Kopfposition der Messperson im Fernsichtbereich festgestellt,
- die Kopfposition vom Fernsichtbereich in den Nahsichtbereich geschwenkt werde,
- Messdaten an ein Anzeigegerät übertragen werde und
- der Differenzwinkel durch das Anzeigegerät berechnet und angezeigt werde.
Dies würde sich aus der nachbenannten Beschreibung in der Anlage K 15 ergeben:
„Verschiedene Mess-Optionen stehen Ihnen mit V. zur Verfügung. Ganz gleich ob Nah- oder Fern-PD-Ermittlung, sitzend oder stehend: Sie erhalten alle Werte präzise, reproduzierbar und kontrolliert."
Zudem habe die Beklagte das deutsche Patent DE 102004...8 (K 11) angemeldet. Auch aus diesem Patent ergebe sich, dass die Beklagte von der im klägerischen Gebrauchsmuster enthaltenen Lehre Gebrauch machen würde.
Aus der vorliegenden Werbung der Beklagten und der Patentschrift der Beklagten ergäbe sich, dass „V." von allen Merkmalen des klägerischen Gebrauchsmusters Gebrauch machen würde:
Das Merkmal A sei erfüllt, da sich aus der Werbung der Beklagten ergebe, dass deren System die Nah- oder FernPD-Ermittlung ermitteln könne. Daraus folge, dass auch der Winkel zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor ermittelt werde. Dabei handele es sich um einen wesentlichen Anpassungsparameter bei Gleitsichtbrillen, der auch höhenseitige Zentrierdatenermittlung genannt werde.
Das Merkmal B sei erfüllt, da die Beklagte in ihrer Werbung angebe, dass das Produkt V. geeignet sei „die habituelle Kopfhaltung des Kunden bei vorangepasster Fassung frei von äußeren technischen Einflüssen zu ermitteln." Außerdem sei angegeben, dass das System „in jeder Position präzise Messwerte für die vertikale Kopfhaltung" ermittele und diese drahtlos an das Videozentriersystem übertrage. Es handele sich demnach um eine In-situ-Messung.
Merkmal C sei erfüllt, da die in der Werbung der Beklagten enthaltene Beschreibung „frei von äußeren technischen Einflüssen" ein Synonym für „ohne Beeinträchtigung der Physiologie und der Kopfbewegung" sei. Das Produkt der Beklagten ermögliche es, dass die Versuchsperson durch das Testgerät völlig unbeeinflusst bleibe, da eine Beeinträchtigung des Tragegefühls durch den Sensor ausgeschlossen werden kann.
Die Erfüllung der Merkmale d1, d2, e und f ergebe sich unmittelbar aus der bildlichen Darstellung des Vorneigungssensors. Die Merkmale g und h seien erfüllt, da es sich offensichtlich um einen kalibrierten elektronischen Winkelsensor handelt. Das Merkmal i sei erfüllt, da in der Werbung der Beklagten genannt sei, dass eine „drahtlose Datenübermittlung per Funk" erfolge. Merkmal j sei mindestens äquivalent erfüllt, da die Signalübertragung im Verletzungsprodukt im Frequenzband bei 868 MHz äquivalent zu einer Infrarotübertragung sei. Das Merkmal k sei erfüllt, da das Verletzerprodukt ein Gewicht von 10 Gramm habe.
Zudem habe die Beklagte in der Anlage K 5 zu Unrecht behauptet, dass es sich bei dem von ihr vertriebenen Vorneigungssensor um ein weltweit einmaliges System handele. Dabei handle es sich um eine unwahre Aussage, da es Produkte der Klägerin gäbe, die ähnlich funktionieren würden. Mit Schreiben vom 14.11.2008 habe die Klägerin die Beklagte zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung aufgefordert. Spätestens zu diesem Zeitpunkt habe die Beklagte insoweit auch Kenntnis gehabt.
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Die Klägerin habe Anspruch auf Unterlassung aus §§ 11 I, II, 24 I Gebrauchsmustergesetz sowie hinsichtlich der im Antrag II. geforderten Unterlassung aus §§ 11 II, 24 II, 24b III Gebrauchsmustergesetz. Angesichts der bereits erfolgten gewerblichen Verletzung und der von der Beklagten eingereichten Patentanmeldung auf die bereits von der Klägerin geschützte Erfindung sei auch eine vorsätzliche Verletzung des Schutzrechts der Klägerin gegeben, § 3 UWG i.V.m. § 4 Nr. 8 UWG. Der Unterlassungsanspruch aus wettbewerbsrechtlicher Sicht ergebe sich aus § 3 UWG i.V.m. § 4 Nr. 8 UWG. Insofern sei auch ein Schadensersatzanspruch gegeben.
Der Kläger beantragt zu erkennen:
I. Der Beklagte wird bei Meidung einer Ordnungsstrafe im Ermessen des Gerichts untersagt, eine Vorrichtung zur Messung des Winkels zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor anzubieten oder anbieten zu lassen sowie zu vertreiben oder vertreiben zu lassen, welche sich dadurch auszeichnet, dass sie eine in-situ-messung, ohne Beeinträchtigung der Physiologie und der Kopfbewegung bereitstellt;
- insbesondere zur Messung an einer beliebigen Brille;
- insbesondere an einem beliebigen Bügel mittels einer Halterung anordenbar;
- insbesondere mit ihren Schwerpunkt, wenn in Anlage an den Brillenbügel unterhalb des Brillenbügels;
- insbesondere einen elektronischen Winkelsensor aufweist;
- insbesondere einen elektronischen Winkelsensor welcher eine Permanentkalibrierung aufweist;
- insbesondere eine Datenübertragungseinrichtung, bevorzugt mittels eines Infrarotsender/-empfänger, enthält
- insbesondere ein Gesamtgewicht von max. 25 gr. hat;
und insbesondere dazu geeignet ist derart verwendet zu werden, dass die obige Vorrichtung an einer Brille einer Messperson angebracht wird, um den Winkel zu messen, der von einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor eingeschlossen wird.
II. Der Beklagten wird bei Meidung einer Ordnungsstrafe im Ermessen des Gerichts untersagt, eine Verwendung einer Vorrichtung zur Messung des Winkels zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor vorzunehmen, anzubieten oder anbieten zu lassen sowie zu vertreiben oder vertreiben zu lassen, bei welcher die Vorrichtung sich dadurch auszeichnet, dass sie eine in-situ-Messung, ohne Beeinträchtigung der Physiologie und der Kopfbewegung bereitstellt;
- insbesondere zur Messung an einer beliebigen Brille;
- insbesondere an einem beliebigen Bügel mittels einer Halterung anordenbar;
- insbesondere mit ihren Schwerpunkt, wenn in Anlage an den Brillenbügel unterhalb des Brillenbügels;
- insbesondere einen elektronischen Winkelsensor aufweist;
- insbesondere einen elektronischen Winkelsensor welcher eine Permanentkalibrierung aufweist;
- insbesondere eine Datenübertragungseinrichtung, bevorzugt mittels eines Infrarotsender/-empfänger, enthält
- insbesondere ein Gesamtgewicht von max. 25 gr. hat;
Verwendung bei welcher:
- die Vorrichtung an einer Brille einer Messperson angebracht wird,
- die Kopfposition der Messperson im Fernsichtbereich angeordnet wird,
- die Kopfposition vom Fernsichtbereich in den Nahsichtbereich geschwenkt wird.
- Messdaten an ein Anzeigegerät übertragen werden und
- der Differenzwinkel durch das Anzeigegerät berechnet und angezeigt wird.
III. Der Beklagten wird bei Meidung einer Ordnungsstrafe im Ermessen des Gerichts untersagt, zu Zwecke des Wettbewerbs zu behaupten, dass der Vorneigungssensor zum System V. weltweit einmalig sei.
IV. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin binnen einen Monats ab Rechtskraft des Urteils darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie die in I., II. und III. bezeichneten Handlungen begangen hat und zwar unter Angabe
a. der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermenge, Lieferzeit und Lieferpreis sowie der Namen und Anschriften der jeweiligen Abnehmer,
b. der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, Angebotszeiten und Angebotspreisen sowie der Namen und Anschriften der Angebotsempfänger,
c. der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
d. der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Entstehungskosten und des erzielten Gewinns, wobei die Gemeinkosten nur abgezogen werden dürfen, wenn und soweit sie ausnahmsweise den schutzrechtsverletzenden Gegenständen, unmittelbar zu gerechnet werden können,
und dabei bzgl. Ziffer a. und b. die entsprechenden Einkaufs- und Verkaufsbelege vorzulegen, wobei Daten, die sich nicht auf die geschuldete Auskunft von Rechnungslegung beziehen und hinsichtlich derer ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse der Beklagten nach vollziehen lässt, abgedeckt oder geschwärzt sein können.
V. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die in I., II. und III bezeichneten Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
Die Beklagte beantragt
Klageabweisung.
Die Beklagte würde ein Videozentriersystem „V." anbieten. Dieses System könne mit dem streitgegenständlichen „V.-Vorneigungssensor" ergänzt werden. Dieser Vorneigungssensor ermittle die Abweichungen in der Kopfhaltung einer Testperson, die dadurch entstehe, dass die Testperson in einer unnatürlichen Haltung in die Videozentriervorrichtung schaue. Der Vorneigungssensor messe den Winkel zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor nicht und würde diesen Winkel auch nicht darstellen können.
Die von der Beklagten entwickelte Lösung zur Optimierung der Anpassung von Brillen beruhe auf einem völlig anderen Prinzip und sei mit dem System der Klägerin nicht vergleichbar. Das System „V." der Beklagten funktioniere so, dass der Proband angehalten werde, geradeaus in eine vor ihm befindliche Kamera zu schauen. Diese Kamera fertige mehrere Fotos, welche anschließend unter Berücksichtigung des durch die Brillenfassung vorgegebenen Neigungswinkels der Brillengläser und des Kopfhaltungswinkels durch eine von der Beklagten entwickelten Software ausgewertet würden. Neben dem Kopfhaltungswinkelwürden auch der Vorneigungswinkel und der Hornhautscheitelabstand berücksichtigt.
Dieses System würde durch den „V.-Vorneigungssensor" ergänzt werden. Abweichungen von der natürlichen Kopfhaltung, welche durch das konzentrierte Schauen in die Kamera ausgelöst werden, sollen erkannt und ausgeglichen werden. Dieser Zweck werde so auch in der Offenlegungsschrift der Beklagten DE 10 2004 ... ...7 (K 11) benannt. Zur optimalen Zentrierung des Systems werde von dem Probanden verlangt, dass er einmal in natürlicher Haltung geradeaus sehen und einmal in die vor sich befindliche Kamera schauen soll. Eine bei diesen beiden Positionen möglicherweise vorhandene Abweichung wird gemessen und von der Software bei der Anpassung der Brille berücksichtigt. Im Ergebnis sei es deshalb so, dass das von der Beklagten entwickelte System die Kopfhaltung anhand mehrerer gefertigter Videofotos berechne. Die Messung diene lediglich zur Bestimmung der Abweichung zwischen einer erzwungenen Blickrichtung in die Kamera und der natürlichen Kopfhaltung. Der Vorneigungssensor diene allein der optimalen Bestimmung des Vorneigungswinkels in Bezug auf eine gedachte Geradeaus-Linie des Kopfes und berücksichtige deshalb allein den Blick in die Ferne.
Zudem mangele es an einem Empfangsgerät, welches den Winkel zwischen Nahsicht- und Fernsichtvektor auswerfe. Die Messdaten würden vielmehr direkt in die Messung des Video-Zentriersystems der Beklagten integriert und softwaremäßig verwertet. Das klägerische Gebrauchsmuster diene zur Messung eines Winkels, der durch einen Nahsichtvektor und einen Fernsichtvektor gebildet werde. Die Patentansprüche der Beklagten beträfen hingegen ein Verfahren zur Anpassung einer Brille, mit der für die Video-Zentrierdatenbestimmung notwendige Messdaten erfasst und bearbeitet werden würden. Eine In-situ-Messung ohne Beeinträchtigung der Physiologie sei nicht vorhanden. Vielmehr sei der Proband gezwungen, eine bestimmte Kopfhaltung zur Position der Kamera einzunehmen. Die Halterung des Winkelmessers sei nicht am distalen Ende des Brillenbügels angebracht, wie bei der klägerischen Lösung vorgesehen. Der Schwerpunkt der Messeinrichtung sei auch nicht unterhalb des Brillenbügels. Zudem habe die Beklagte keinen elektronischen Winkelmesser, sondern einen elektronischen Beschleunigungssensor. Die Datenübertragung erfolge nicht mit einem Infrarot-Sensor, sondern per Funk. Die Kopfposition der Messperson werde nicht von einem Fernsichtbereich in einen Nahsichtbereich geschwenkt. Auch würden die Messdaten nicht an ein Anzeigegerät übertragen und angezeigt, sondern lediglich softwaremäßig verarbeitet.
Der Winkel zwischen einem Fernsichtvektor und einem Nahsichtvektor werde bei der Herstellung von Gleitsichtgläsern in der Regel nicht benötigt. Weniger als 10 % der Hersteller würden diesen Winkel benötigen. Dieser Winkel sei erforderlich, um die „Progressionszonenlänge" zu bestimmen. Dabei handele es sich um den Abstand auf dem Brillenglas zwischen dem Durchblickspunkt für den Fernbereich und dem Durchblickspunkt für den Nahbereich. Es gebe von den Glasherstellern insoweit Gläser mit unterschiedlichen Progressionszonenlängen. In der Praxis würde sich die konkrete Auswahl zumeist an der Größe der Brillenfassung orientieren.
Das System der Beklagten sei auch weltweit einmalig, insofern bestehe der Unterlassungsanspruch zu III. nicht.
Darauf erwidert die Klägerin, dass der Vorneigungssensor der Beklagten selbst nach dem Vortrag der Beklagten von dem Merkmal A Gebrauch mache. Was unter Nahsichtvektor und Fernsichtvektor zu verstehen sei, bestimme sich anhand von Absatz 9 der Klagegebrauchsmusterschrift. Der Blick in die Kamera des Videozentriersystems sei in einen Nahbereich gerichtet und der anschließende unbeeinträchtigte Blick sei in die Ferne gerichtet.
Die Null-Blickrichtung des Auges definiere sich als waagerechte Blickrichtung geradeaus bei ungezwungener Kopf- und Körperhaltung ohne Sehhilfe, während die „Habituelle" Kopfhaltung, welche die Beklagte wohl mit „erzwungener Blickrichtung" beschreibe, als die gewohnheitsmäßige, einem Menschen zu eigen gewordene Kopfhaltung, darstelle. „Habituell" bedeute „gewohnheitsmäßig" oder „verhaltenseigen". Deshalb sei die Bezeichnung „vertikale Kopfhaltung", wie sie in der Anlage K 5 benannt wird, lediglich eine andere Bezeichnung für die von der Klägerin eingeführte Bezeichnung „Fernsicht- bzw. Nahsichtvektor".
Nach der bei der Klägerin vorliegenden Literatur werde die Vorneigung auf zwei Wegen bestimmt. Entweder durch Messen oder durch Rechnen. Dabei werde der Proband im Profil aufgenommen und die Vorneigung des Brillenglases gegenüber der Lotrechten bestimmt. Zunächst werde die sogenannte Nullblickrichtung, also die Blickrichtung waagerecht geradeaus, bei parallelen Fixierlinien beider Augen, etwa beim Blick zum Horizont gemessen. So erhalte man den Winkel aus der Vertikalebene zwischen der optischen Achse des Brillenglases und der Fixierlinie des Auges in der Primärposition, die üblicherweise als horizontal angenommen werde. Wenn der Proband beispielsweise ein Buch lese, so werde er es regelmäßig in Höhe seines Bauchnabels halten. Die Blickrichtung seiner Augen beim Lesen des Buches würden etwa 20 bis 40 Grad unterhalb der Nullblickrichtung liegen. Die klägerische Erfindung diene der Bestimmung des genauen Grades.
Soweit die Beklagte ausführt, dass ihr System die Kopfhaltung anhand mehrerer Videofotos fertige und nicht anhand einer Winkelmessung, so müsse dies falsch sein, da dann der Vorneigungssensor gar nicht nötig wäre.
Hinsichtlich der Ausführungsbeispiele trägt die Klägerin in Erwiderung zur Beklagten vor, dass sich aus den Werbeunterlagen der Beklagten ergebe, dass der „Vorneigungssensor" es ermögliche, in jeder Position präzise Messwerte für die vertikale Kopfhaltung zu erhalten. Es sei belanglos, wie die gewonnenen Daten weiterverwendet werden. Vielmehr stehe fest, dass der Vorneigungssensor der Beklagten geeignet und vorgesehen sei, den Winkel zwischen einem Fern- und einem Nahsichtvektor zu bestimmen.
Soweit die Beklagte vortrage, dass der Proband gezwungen sei, eine bestimmte Kopfhaltung zur Position der Kamera einzunehmen, widerspreche dies den Angaben im Prospekt der Beklagten, wonach es möglich sei, die habituelle Kopfhaltung frei von äußeren technischen Einflüssen zu ermitteln. Hinsichtlich der weiteren Erwiderung der Beklagten wird auf Seite 4 f. der Replik vom 23.04.2009 Bezug genommen.
Mit dem Wort „Vorneigung" bezeichne die Fachsprache der Optiker den Winkel, den eine Brillenfassung dem Brillenglas im Verhältnis zur Senkrechten vorgibt. Dieser Vorneigungswinkel sei im Wesentlichen eine Designfrage. Davon abzugrenzen sei die zur Bestimmung der Einschleifhöhe des Gleitsichtglases relevante natürliche Kopf- und Körperhaltung des Brillenträgers. Unter Einschleifhöhe verstehe der Optiker die Strecke vom unteren Fassungsrand zum Fernzentrierpunkt.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf alle Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen.
Aus den Gründen
Die Klage ist zulässig, aber weitgehend unbegründet. Lediglich soweit sich die Klägerin gegen die Behauptung der Beklagten wendet, dass diese ein „weltweit einmaliges" System betreibe, hat die Klage Erfolg.
Die in der als Anlage K 5 vorliegende Werbung für den Vorneigungssensor für das System V. enthaltene Behauptung, dass dieser Vorneigungssensor ein „weltweit einmaliges System" zur Messung der habituellen Kopfhaltung des Kunden bei vorangepasster Fassung frei von äußeren technischen Einflüssen sei, stellt eine irreführende Werbung gemäß §§ 5 II Nr. 3, 3 UWG dar. Im Umfang dieses Obsiegens war dem Auskunftsbegehren und dem Feststellungsanspruch der Klägerin gemäß § 9 UWG stattzugeben.
Im Übrigen war die Klage abzuweisen, da die Klägerin keinen Unterlassungsanspruch aus §§ 24 I, 11 I, II GebrmG hat. Der streitgegenständliche Vorneigungssensor macht von den Ansprüchen des Klagegebrauchsmusters keinen Gebrauch. Er misst keinen Winkel zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor.
Da der Verletzungsgegenstand das Klagegebrauchsmuster nicht verletzt, sind Ausführungen zum Schutzumfang nicht veranlasst.
1. Auslegung der Anträge
Die Antragsstellung der Klägerin ist teilweise missverständlich. Obwohl das Gericht auf die unübliche Antragstellung mit Hinweis vom 03.02.2009 hingewiesen hat und die Klägerin sich in ihrem Schriftsatz vom 10.02.2009 mit diesem Hinweis auseinandersetzte, stellte die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 10.09.2009 die Anträge aus der Klageschrift in unveränderter Form.
Das Gericht geht davon aus, dass dies auf einem Versehen beruht und berücksichtigt bei der Auslegung den benannten Vortrag der Klägerin. So wird das Wort „Ordnungsstrafe" in den Anträgen der Klägerin als Antrag auf Erlass von Ordnungsmitteln ausgelegt. Der Antrag IV. wird so ausgelegt, dass lediglich Auskunft über Art und Umfang der in III. genannten Handlungen begehrt wird (Bl. 20 d.A.).
2. Irreführende Behauptung
Die in der Produktbeschreibung des Vorneigungssensors für das System V. (K 5) enthaltene Behauptung: „Zentrierung im Stehen oder Sitzen? Der Vorneigungssensor erlöst Sie von dieser Entscheidung. Als bisher weltweit einmaliges System bietet der Vorneigungssensor Ihnen die Möglichkeit, die habituelle Kopfhaltung des Kunden bei vorangepasster Fassung frei von äußeren technischen Einflüssen zu ermitteln." stellt eine irreführende Werbung im Sinne der §§ 5 II Nr. 3, 3 UWG dar, so dass der Klägerin der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 8 I, III Nr. 1 UWG zusteht. Das von der Beklagten beworbene Produkt wurde zu Unrecht als weltweit einmalig bezeichnet, da sich aus dem Vortrag der Parteien und dem klägerischen Gebrauchsmuster ergibt, dass diese ein vergleichbares Produkt anbietet.
Alleinstellungsbehauptungen werden in wettbewerbsrechtlicher Sicht grundsätzlich als Unterfall des § 5 I Nr. 3 UWG behandelt. Es wird als irreführend angesehen, wenn unrichtige Tatsachen über die Stellung eines Unternehmens aufgestellt werden. Beweispflichtig für die Unrichtigkeit der aufgestellten Behauptung ist derjenige, der sich auf die Unrichtigkeit beruft. Dies ist vorliegend die Klägerin. Eine Beweislastumkehr, wie sie bei Fällen der unternehmensbezogenen Spitzenstellungsbehauptung im Einzelfall angenommen wird, wenn der Klagepartei die zur Beurteilung der Behauptung relevanten Interna des Beklagten nicht bekannt sind (vgl. Sosnitza in Piper/ Ohly/ Sosnitza, UWG, 5. Aufl., Rn. 646 zu § 5) kommt vorliegend nicht in Betracht, da beide Parteien hinsichtlich etwaiger Konkurrenzprodukte den gleichen Informationsstand haben.
Die Klägerin kann keine Beweislastumkehr für sich beanspruchen, indem sie behauptet, dass es sich bei der angegriffenen Behauptung um einen Verstoß gegen §§ 3, 4 Nr. 8 UWG handelt. Nach § 4 Nr. 8 UWG sind Handlungen insbesondere dann unlauter, wenn über die Produkte eines Mitbewerbers Tatsachen verbreitet werden, die geeignet sind, den Betrieb des Mitbewerbers zu schädigen. Es sei denn, dass die Tatsachen erweislich war sind. Somit liegt die Beweislast für die Wahrheit der Behauptung bei der Beklagten. Obwohl das Gericht mit Hinweis vom 03.02.2009 darauf hingewiesen hat, dass nicht verständlich ist, wie der Vortrag der Klägerin zur Verletzung dieser Norm gemeint sei, erfolgten keine klarstellenden Ausführungen. In der Erwiderung der Klagepartei vom 10.02.2009 benannte diese lediglich, dass sie die Behauptung „weltweit einzig" als wettbewerbswidrig ansehe. Weshalb diese Behauptung eine Herabsetzung der Klägerin darstellen soll, wurde nicht ausgeführt und ist auch nicht ersichtlich. Es findet sich keinerlei Bezug zum Angebot der Klägerin. Falls die Klägerin der Ansicht ist, dass die Behauptung der Beklagten zugleich die Behauptung enthalte, dass die Produkte der Klägerin nicht über die behaupteten Eigenschaften verfüge, so kann dies für § 4 Nr. 8 UWG zumindest dann nicht ausreichen, wenn der relevante Markt nicht so ausgestaltet ist, dass jede Äußerung über einen Anbieter auch zugleich eine Stellungnahme zu einem anderen Anbieter ist. Entsprechender Tatsachenvortrag wurde jedoch nicht erbracht.
Der Vortrag der Klagepartei geht dahin, dass die angegriffene Alleinstellungsbehauptung bereits deshalb irreführend sei, da die von ihr vertriebenen Produkte, welche sich an dem Klagegebrauchsmuster orientierten, ähnliche Eigenschaften hätten und es sich bei dem Produkt der Beklagten deshalb nicht um ein weltweit einmaliges System handeln könne. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen.
Vorab ist festzustellen, dass die angegriffene Behauptung der Beklagten nicht eindeutig ist. Auf Grund der Formulierung „als bisher weltweit einmaliges System bietet der Vorneigungssensor.." ist nicht deutlich, ob die Einmaligkeit allein durch eine Eigenschaft des Verneigungssensors oder aber durch die damit einhergehende Ergänzung des „V.-System" begründet sein soll. Etwas nachfolgend wird im gleichen Absatz der angegriffenen Werbung ausgeführt, dass die Messwerte an das „Videozentriersystem V." übertragen werden. Dies spricht dafür, dass die behauptete Einmaligkeit nur in Zusammenarbeit mit diesem Videozentriersystem eintreten kann. Deutlich gesagt wird dies in der angegriffenen Textstelle aber nicht.
Beide Parteien stellen Systeme her, die dazu dienen die Anpassung von Brillen so gestalten zu können, dass die auf Grund der Messungen gefertigte Brille einen optimalen Tragekomfort bietet. Allerdings verfolgen die Parteien dabei unterschiedliche Ansätze, wie unten auszuführen ist. Dem unwidersprochenen Vortrag der Klägerin folgend, stellt diese Systeme her, die dem Inhalt des Klagegebrauchsmusters entsprechen. Auch dieses System dient dazu, jeweils den individuellen „Fernsicht-„ und „Nahsichtvektor" zu bestimmen. Im Ergebnis wird auch hier die „natürliche" Kopfhaltung des Brillenträgers ermitteln. Dies entspricht dem, was die Beklagte als „habituelle" Kopfhaltung bezeichnet. Deshalb ist die angegriffene Behauptung der Beklagten als irreführend im Sinne des § 5 II Nr. 3 UWG anzusehen.
3. Keine Gebrauchsmusterverletzung
Der Klägerin steht kein Unterlassungsanspruch aus §§ 24 I, 11 I, II GebrmG zu. Der streitgegenständliche Vorneigungssensor macht keinen Gebrauch von dem klägerischen Gebrauchsmuster. Bereits das Merkmal A ist nicht erfüllt, da die Klägerin nicht dargelegt hat, dass in dem Verletzungsgegenstand eine Messung des Winkels zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor stattfindet, bzw. dass entsprechende Daten an das Videozentriersystem „V." weitergeleitet werden.
Die Klägerin stützt die Behauptung, dass der Vorneigungssensor der Beklagten ihr Gebrauchsmuster verletzten würde auf die von der Beklagten herausgegebenen Produktbeschreibungen K 5 (Vorneigungssensor) und K 15 (Videozentriersystem V.), sowie auf die Patentanmeldung der Beklagten K 11. Dabei geht die Klägerin davon aus, dass das von der Beklagten tatsächlich vertriebene Produkt von den in der Patentanmeldung K 11 enthaltenen Ansprüchen Gebrauch macht.
Auslegung des Klagegebrauchsmusters DE 20 2005 ... ...8
Das Gebrauchsmusters DE 20 2005 ... ...8 betrifft eine Vorrichtung zur Messung des Winkels zwischen einem Nahsichtvektor und einen Fernsichtvektor, insbesondere an einer Brille, und ein Verfahren zur Messung dieses Winkels.
Der Stand der Technik zum Zeitpunkt der beanspruchten Priorität stellt sich nach dem Inhalt der Gebrauchsmusterschrift so dar, dass die Mehrzahl der bekannten Ansätze zur Anpassung eines Gleitsichtglases an einen konkreten Träger sich darauf beschränkt, aus einer Auswahl von Gläsern das am besten passende Glas für einen Träger auszuwählen.
Diesen Stand der Technik kritisiert das Gebrauchsmuster dahingehend, dass eine solche Auswahl den Nachteil habe, dass die Gläser oft nicht ideal auf den Träger abgestimmt sind, da bei der Auswahl Kompromisse eingegangen werden müssen.
Hiervon ausgehend, stellt sich das Gebrauchsmuster die Aufgabe, eine Lösung zu finden, um möglichst individuell angepasste Gleitsichtgläser bereitstellen zu können. Dabei berücksichtigt das Gebrauchsmuster, dass ein wichtiger Parameter zur Herstellung eines individuellen Gleitsichtglases für einen konkreten Träger die individuell unterschiedliche Positionierung des Kopfes im Nahsichtbereich und im Fernsichtbereich ist. Falls diese unterschiedlichen Positionen bestimmt werden könnten, so könnten Fernsichtpunkt und Nahsichtpunkt im Gleitsichtglas für den Träger optimal festgelegt werden, so dass ein entsprechendes Glas entweder individuell hergestellt oder ausgewählt werden könnte.
Die bekannten Systeme zur Ermittlung der benannten Kopfstellungen seien relativ kostenträchtig und hätten den Nachteil, dass die Gefahr bestehe, dass die Testperson auf Grund des Einflusses der Messvorrichtung eine unnatürliche Kopfposition einnehme.
Zur Lösung dieser Problemstellung sieht das Gebrauchsmuster das in Anspruch 1 beschriebene Verfahren vor, dessen einzelne Merkmale sich, ausgehend von der von der Klagepartei vorgelegten Merkmalsanalyse, der die Beklagte nicht entgegengetreten ist, wie folgt gliedern lassen:
A. eine Vorrichtung zur Messung des Winkels zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor
B. die eine in-situ-Messung dieses Winkels bereitstellt
C. welche ohne Beeinträchtigung der Physiologie und der Kopfbewegung erfolgen kann.
d1. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform dient die Vorrichtung zur Messung an einer beliebigen Brille.
d2. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform kann die Vorrichtung an einem beliebigen Brillenbügel mittels einer Halterung angeordnet werden.
e. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform ist die Halterung vorgesehen um eine Fixierung der Vorrichtung im Wesentlichen am distalen Ende des Brillenbügels bereitzustellen.
f. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform ist die Vorrichtung derart gestaltet, dass der Schwerpunkt der Vorrichtung in Anlage an dem Brillenbügel unterhalb des Brillenbügels vorgesehen ist
g. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform umfasst die Vorrichtung zumindest einen elektronischen Winkelsensor.
h. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform hat der Winkelsensor eine Permanent-Kalibrierung
i. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform umfasst die Vorrichtung und eine Datenübertragungseinrichtung
j. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform umfasst die Datenübertragungseinrichtung zumindest einen Infrarot-Sender/-Empfänger
k. gemäß einer bevorzugten Ausführungsform hat die Vorrichtung ein Gesamtgewicht von maximal 25g insbesondere von 20 g.
Auslegungsmaßstab
Grundsätzlich wird der Schutzbereich eines Gebrauchsmusters durch den Inhalt der Ansprüche bestimmt, wobei die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen sind. Inhalt bedeutet nicht Wortlaut, sondern Sinngehalt. Maßgebend ist der Offenbarungsgehalt der Ansprüche und ergänzend im Sinne einer Auslegungshilfe - der Offenbarungsgehalt der Gebrauchsmusterschrift, soweit er einen Niederschlag in den Ansprüchen gefunden hat. Die Auslegung dient nicht nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten in den Ansprüchen, sondern auch zur Klarstellung der in den Ansprüchen verwendeten technischen Begriffe sowie zur Klärung der Bedeutung und der Tragweite der Erfindung. Für die Beurteilung entscheidend ist dabei die Sicht eines Fachmanns aus dem jeweiligen Fachgebiet. Begriffe in den Ansprüchen und in der Gebrauchsmusterbeschreibung sind deshalb so zu deuten, wie sie der angesprochene Durchschnittsfachmann nach dem Gesamtinhalt der Gebrauchsmusterschrift unter Berücksichtigung von Aufgabe und Lösung der Erfindung versteht (zum Patentrecht: BGH GRUR 1999, 909 = Mitt. 1999, 304, 306 f - Spannschraube).
Ausgangspunkt ist folglich zunächst der Wortlaut des Anspruchs bzw. des fraglichen Merkmals. Um den Sinngehalt und die Bedeutung eines Merkmals zu verstehen, wird der Fachmann zu ermitteln suchen, was mit dem fraglichen Merkmal im Hinblick auf die Erfindung erreicht werden soll. Das Verständnis des Fachmanns wird sich deshalb entscheidend an dem in der Gebrauchsmusterschrift zum Ausdruck gekommenen Zweck des einzelnen Merkmals orientieren. Dabei wird der Fachmann nicht nur den Wortlaut aller Ansprüche, sondern den gesamten Inhalt der Gebrauchsmusterschrift zu Rate ziehen. Belehrt der Stand der Technik ihn darüber, dass eine Auslegung in dieser oder in jener Richtung nicht in Betracht kommen kann, etwas deshalb, weil die betreffende Vorrichtung nicht ausführbar erscheint, so wird er diese Auslegung verwerfen, auch wenn sie nach dem Wortlaut an sich in Betracht käme.
Bei der Auslegung ist nicht am Wortlaut zu haften, sondern es ist auf den technischen Gesamtzusammenhang abzustellen, den der Inhalt der Gebrauchsmusterschrift dem Durchschnittsfachmann vermittelt. Der Anspruch ist nicht wörtlich in philologischer Betrachtung, sondern seinem technischen Sinn nach aufzufassen, d.h. der Erfindungsgedanke muss unter Ermittlung von Aufgabe und Lösung, wie sie sich aus dem Gebrauchsmuster ergeben, bestimmt werden. Entscheidend ist deshalb nicht die sprachliche oder logisch-wissenschaftliche Begriffsabstimmung, sondern die Auffassung des praktischen Fachmanns, so wie ein unbefangener, technisch geschulter Leser die in der Gebrauchsmusterschrift verwendeten Begriffe versteht. Dabei können der allgemeine Sprachgebrauch wie auch der allgemeine technische Sprachgebrauch Anhaltspunkte für das Verständnis des Fachmanns geben. Auch wird der allgemeine Sprachgebrauch den Fachmann veranlassen, gegebenenfalls weitere Auslegungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen. Allerdings wird stets zu berücksichtigen sein, dass Gebrauchsmusterschriften im Hinblick auf die dort gebrauchten Begriffe gleichsam ihr eigenes Lexikon darstellen, die Begriffe abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch benutzt werden können und dass letztlich nur der aus der Gebrauchsmusterschrift sich ergebende Begriffsinhalt maßgeblich ist. Deshalb wird für einen Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch um so weniger Raum sein, desto eindeutiger der Wortlaut des Merkmals und seine Bestimmung aus dem Inhalt der Gebrauchsmusterschrift erscheint (BGH, a.a.O. - Spannschraube).
Die Feststellung, welchen Sinngehalt der vom Klagepatent angesprochene Fachmann den Merkmalen des Gebrauchsmusteranspruchs entnimmt, hat stets den Gesamtzusammenhang des Gebrauchsmusteranspruchs in den Blick zu nehmen. Feststellungen zum Inhalt einzelner Merkmale dienen nur dazu, schrittweise den allein maßgeblichen Wortsinn des Gebrauchsmusteranspruchs als einer Einheit zu ermitteln (zum Patentrecht: BGH GRUR 2004, 845 - Drehzahlermittler).
Hierbei ist auf die Sichtweise des Fachmanns abzustellen, der sich mit Fortentwicklungen auf dem in Rede stehenden Gebiet befasst. Da die streitgegenständliche Vorrichtung sowohl eingehende theoretische Kenntnisse und praktische Erfahrungen im Bereich der Herstellung von Brillengläsern, als auch der Messung von für die Herstellung von Brillengläsern relevanter Daten erforderlich ist, ist der maßgebliche Fachmann ein Diplom-Ingenieur mit langjähriger Erfahrung im Bereich der Herstellung von Geräten für den Optikerbedarf.
Vorrichtung im Sinne des Gebrauchsmusters
Die im Gebrauchsmuster offenbarte Vorrichtung ist zur Messung eines Winkels zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor bestimmt. Um unverfälschte Messergebnisse zu erhalten, soll die Messung dieses Winkels unmittelbar am Kopf des Brillenträgers stattfinden. Dabei soll die Messung so erfolgen, dass weder die Physiologie noch die Kopfbewegung beeinträchtigt wird.
Keine Benutzung des Merkmals A durch die Beklagte
Die Klägerin ist beweispflichtig, dass die Beklagte von allen Merkmalen des Gebrauchsmusters Gebrauch macht. Diesen Beweis hat sie nicht angetreten. Dem Vortrag der Beklagten, dass diese ein System zur Anpassung von Brillengläsern mit dem Namen „V." anbietet und der hier streitgegenständliche „Vorneigungssensor" ein Ergänzungsgerät zu dem „V.-System" ist, ist die Klägerin nicht entgegengetreten.
Die Anlage K 15 beschreibt das „Videozentriersystem V.". In dieser Anlage ist benannt, dass das System bei der Nah- und Fern-PD-Ermittlung in jeder Position der Mess-Person alle Werte präzise, reproduzierbar und kontrolliert ermitteln könne. Die Anlage K 5 hingegen benennt als Eigenschaften für den streitgegenständlichen „V. Vorneigungssensor", dass dieser geeignet sei, die habituelle Kopfhaltung der Testperson zu bestimmen. Zudem wird benannt, dass das Gerät zur „Ermittlung der optimalen Einschleifhöhe für hochwertige Gleitsichtgläser" diene.
Die Patentanmeldung der Beklagten DE 10 2004 ... ...3 setzt sich mit dem Problem auseinander, dass bei der Messung, welche Brillengläser einer Person passen, Ungenauigkeiten dadurch entstehen, dass die Testpersonen bei der Messung mit einem Video-Zentriersystem dazu neigen eine unnatürliche Kopfhaltung anzunehmen. Die dadurch begründeten Testungenauigkeiten sollen dadurch ausgeglichen werden, dass die Kopfhaltung der Testperson zum Zeitpunkt der Messung am Video-Zentriersystem mit der Kopfhaltung bei einem Blick in die Ferne verglichen wird.
Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass sie bei der Bestimmung welche Brillengläser einer Testperson am besten passen, den Fernsichtpunkt und den Nahsichtpunkt und den dazwischen liegenden Abstand nicht individuell bestimmt. Vielmehr würde sie lediglich den Fernsichtpunkt bestimmen. Wie weit der Nahsichtpunkt von diesem Fernsichtpunkt entfernt liege (die Progressionszonenlänge), sei allein durch die Größe der Brillenfassung bestimmt. Dies hat die Klägerin nicht bestritten und ist diesem Vortrag auch nicht entgegengetreten.
Der Vortrag der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, dass auch die Messung des Unterschiedes zwischen der Kopfhaltung bei der Video-Zentrierung und dem Blick in die Ferne die Bestimmung des Unterschiedes zwischen einem Nah- und einem Fernsichtvektor darstelle, kann nicht gefolgt werden. Vielmehr handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Bestimmungen der Fernsicht, die unter unterschiedlichen Gegebenheiten erfolgt.
Keine mittelbare Verletzung des Klagegebrauchsmusters
Eine mittelbare Gebrauchsmusterverletzung nach § 11 II 1, 2 GebrMG setzt voraus, dass der angegriffene Gegenstand so sehr ausschließlich darauf gerichtet ist, zur Benutzung im Geltungsbereich des Schutzrechtes angewendet zu werden, dass eine andere Bestimmung vernünftigerweise nicht in Betracht kommt.
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zwar enthält der Vorneigungssensor einen Winkelmesser, so dass grundsätzlich die Winkel bei jeder Blickhaltung gemessen werden können. Nach dem Vortrag der Beklagtenpartei, dem die Klägerin nicht substantiiert entgegengetreten ist, werden die Daten für die konkrete Auswahl der Brillengläser durch die Auswertung der vom Probanden gefertigten Fotos im Videozentriersystem gewonnen. Anhaltspunkte, dass dieses Videozentriersystem Daten verwendet könnte, die über eine Berechnung der habituellen Kopfhaltung hinausgehen, wurden nicht vorgetragen.
Weiter hat die Beklagte - unbestritten - vorgetragen hat, dass sie die Progressionskanalzonenlänge nicht benötige, da sie die Auswahl der Gläser vorrangig an der Größe der Fassung ausrichte. Insgesamt gibt es deshalb keine Anhaltspunkte, dass der streitgegenständliche Vorneigungssensor auf eine Messung des Winkels zwischen einem Nahsichtvektor und einem Fernsichtvektor gerichtet ist.
4. Auskunft und Schadensersatz
Die Klägerin hat einen Schadensersatzanspruch aus §§ 9, 5 II Nr. 3 UWG. Sie kann Ersatz des Schadens verlangen, der Ihr durch die irreführende Behauptung der Beklagten entstanden ist. Um diesen Anspruch berechnen zu können steht ihr auch ein Auskunftsanspruch zu. Der Umfang des Auskunftsanspruchs richtet sich nach den Angaben der Klägerin in der Stellungnahme vom 10.02.2009 zu dem vorangegangenen richterlichen Hinweis.
5. Nebenentscheidung
Die Entscheidung hinsichtlich der Kosten beruht auf § 92 ZPO. Die Klägerin hat den Streitwert mit insgesamt 110.000 Euro angegeben und den Streitwert für den Antrag III. mit 10.000 Euro angegeben. Insofern hat die Klagepartei hinsichtlich eines Betrages von 100.000 Euro verloren und hinsichtlich eines Betrages von 10.000 Euro gewonnen. Daraus resultiert die im Tenor benannte Kostenquote. Die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 S. 1 ZPO. Für die Bestimmung der Höhe der Sicherheitsleistung wurden die wahrscheinlichen Kosten einer Bearbeitung der als Anlage K 5 vorliegenden Werbeschrift berücksichtigt.