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Wirtschaftsrecht
14.03.2024
Wirtschaftsrecht
EuGH: Beweiskraft einer qualifizierten elektronischen Signatur

EuGH, Urteil vom 29.2.2024 – C-466/22, V.B. Trade OOD gegen Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ – Veliko Tarnovo

ECLI:EU:C:2024:185

Volltext: BB-Online BBL2024-641-2

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

Art. 25 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG ist dahin auszulegen, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten bei Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 3 Nr. 12 dieser Verordnung verpflichtet sind, im Rahmen dessen, was die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften für die handschriftliche Unterschrift vorsehen, der qualifizierten elektronischen Signatur die gleiche Beweiskraft wie der handschriftlichen Unterschrift zuzuerkennen.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 25 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG (ABl. 2014, L 257, S. 73).

 

2          Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der V.B. Trade OOD mit Sitz in Bulgarien und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ – Veliko Tarnovo (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ Veliko Tarnovo, Bulgarien) (im Folgenden: Direktor) wegen eines Bescheids über die Nacherhebung von Körperschaftsteuer.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          In den Erwägungsgründen 21, 22 und 49 der Verordnung Nr. 910/2014 heißt es:

„(21) … [Diese] Verordnung [sollte] keine Aspekte im Zusammenhang mit dem Abschluss und der Gültigkeit von Verträgen oder anderen rechtlichen Verpflichtungen behandeln, für die nach nationalem Recht oder Unionsrecht Formvorschriften zu erfüllen sind. Unberührt bleiben sollten ferner auch nationale Formvorschriften für öffentliche Register, insbesondere das Handelsregister und das Grundbuch.

(22) Um ihre allgemeine grenzüberschreitende Verwendung zu fördern, sollte es in allen Mitgliedstaaten möglich sein, Vertrauensdienste in Gerichtsverfahren als Beweismittel zu verwenden. Die Rechtswirkung von Vertrauensdiensten ist jedoch durch nationales Recht festzulegen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist.

(49) Diese Verordnung sollte den Grundsatz festlegen, dass einer elektronischen Signatur die Rechtswirkung nicht deshalb abgesprochen werden darf, weil sie in elektronischer Form vorliegt oder nicht alle Anforderungen einer qualifizierten elektronischen Signatur erfüllt. Die Rechtswirkung elektronischer Signaturen in den Mitgliedstaaten sollte jedoch durch nationales Recht festgelegt werden, außer hinsichtlich der in dieser Verordnung festgelegten Anforderungen, dass eine qualifizierte elektronische Signatur die gleiche Rechtswirkung wie eine handschriftliche Unterschrift haben sollte.“

 

4          Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 3 der Verordnung bestimmt:

„Diese Verordnung berührt nicht das nationale Recht oder das Unionsrecht in Bezug auf den Abschluss und die Gültigkeit von Verträgen oder andere rechtliche oder verfahrensmäßige Formvorschriften.“

 

5          In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung heißt es:

„Für die Zwecke dieser Verordnung gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:

10. ‚Elektronische Signatur‘ sind Daten in elektronischer Form, die anderen elektronischen Daten beigefügt oder logisch mit ihnen verbunden werden und die der Unterzeichner zum Unterzeichnen verwendet.

11. ‚Fortgeschrittene elektronische Signatur‘ ist eine elektronische Signatur, die die Anforderungen des Artikels 26 erfüllt.

12. ‚Qualifizierte elektronische Signatur‘ ist eine fortgeschrittene elektronische Signatur, die von einer qualifizierten elektronischen Signaturerstellungseinheit erstellt wurde und auf einem qualifizierten Zertifikat für elektronische Signaturen beruht.

15. ‚Qualifiziertes Zertifikat für elektronische Signaturen‘ ist ein von einem qualifizierten Vertrauensdiensteanbieter ausgestelltes Zertifikat für elektronische Signaturen, das die Anforderungen des Anhangs I erfüllt.

23. ‚Qualifizierte elektronische Signaturerstellungseinheit‘ ist eine elektronische Signaturerstellungseinheit, die die Anforderungen des Anhangs II erfüllt.

…“

 

6          Art. 21 („Beginn der Erbringung qualifizierter Vertrauensdienste“) Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Wenn Vertrauensdiensteanbieter ohne Qualifikationsstatus beabsichtigen, die Erbringung qualifizierter Vertrauensdienste aufzunehmen, legen sie der Aufsichtsstelle eine Mitteilung über ihre Absicht zusammen mit einem von einer Konformitätsbewertungsstelle ausgestellten Konformitätsbewertungsbericht vor.“

 

7          In Art. 25 („Rechtswirkung elektronischer Signaturen“) der Verordnung Nr. 910/2014 heißt es:

„(1) Einer elektronischen Signatur darf die Rechtswirkung und die Zulässigkeit als Beweismittel in Gerichtsverfahren nicht allein deshalb abgesprochen werden, weil sie in elektronischer Form vorliegt oder weil sie die Anforderungen an qualifizierte elektronische Signaturen nicht erfüllt.

(2) Eine qualifizierte elektronische Signatur hat die gleiche Rechtswirkung wie eine handschriftliche Unterschrift.

…“

 

8          Art. 26 („Anforderungen an fortgeschrittene elektronische Signaturen“) der Verordnung bestimmt:

„Eine fortgeschrittene elektronische Signatur erfüllt alle folgenden Anforderungen:

a) Sie ist eindeutig dem Unterzeichner zugeordnet.

b) Sie ermöglicht die Identifizierung des Unterzeichners.

c) Sie wird unter Verwendung elektronischer Signaturerstellungsdaten erstellt, die der Unterzeichner mit einem hohen Maß an Vertrauen unter seiner alleinigen Kontrolle verwenden kann.

d) Sie ist so mit den auf diese Weise unterzeichneten Daten verbunden, dass eine nachträgliche Veränderung der Daten erkannt werden kann.“

 

9          In Anhang I („Anforderungen an qualifizierte Zertifikate für elektronische Signaturen“) der Verordnung sind die verschiedenen Angaben aufgeführt, die qualifizierte Zertifikate für elektronische Signaturen enthalten müssen. So müssen diese Zertifikate nach den Buchst. b bis d dieses Anhangs enthalten: einen Datensatz, der den qualifizierten Vertrauensdiensteanbieter, der die qualifizierten Zertifikate ausstellt, eindeutig repräsentiert, mindestens den Namen des Unterzeichners oder ein Pseudonym, wobei die Verwendung eines Pseudonyms eindeutig anzugeben ist, sowie elektronische Signaturvalidierungsdaten, die den elektronischen Signaturerstellungsdaten entsprechen müssen.

 

10        Anhang II („Anforderungen an qualifizierte elektronische Signaturerstellungseinheiten“) der Verordnung sieht in Abs. 1 vor, dass diese Einheiten durch geeignete Technik und Verfahren insbesondere zumindest gewährleisten müssen, dass die Vertraulichkeit der zum Erstellen der elektronischen Signatur verwendeten elektronischen Signaturerstellungsdaten angemessen sichergestellt ist, dass diese Daten praktisch nur einmal vorkommen können, dass die elektronische Signatur verlässlich gegen Fälschung geschützt ist und dass die genannten Daten vom rechtmäßigen Unterzeichner gegen eine Verwendung durch andere verlässlich geschützt werden. Außerdem bestimmt Abs. 3 dieses Anhangs, dass das Erzeugen oder Verwalten von elektronischen Signaturerstellungsdaten im Namen eines Unterzeichners nur von einem qualifizierten Vertrauensdiensteanbieter durchgeführt werden darf.

 

Bulgarisches Recht

11        Nach Art. 4 des Zakon za elektronnia dokument i elektronnite udostoveritelni uslugi (Gesetz über das elektronische Dokument und elektronische Vertrauensdienste, DV Nr. 34 vom 6. April 2001) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über das elektronische Dokument) ist der Urheber der elektronischen Erklärung die natürliche Person, die in der Erklärung als ihr Ersteller angegeben ist. Diese Bestimmung sieht auch vor, dass der Inhaber der elektronischen Erklärung die Person ist, in deren Namen die elektronische Erklärung erstellt wurde.

 

12        In Art. 13 des Gesetzes über das elektronische Dokument heißt es:

„(1) Eine elektronische Signatur ist eine elektronische Signatur im Sinne von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung [Nr. 910/2014].

(3) Eine qualifizierte elektronische Signatur ist eine elektronische Signatur im Sinne von Art. 3 Nr. 12 der Verordnung [Nr. 910/2014].

…“

 

13        Art. 184 Abs. 2 des Grazhdanski protsesualen kodeks (Zivilprozessordnung), der auch auf Verfahren in Steuer- und Sozialversicherungssachen anwendbar ist, sieht die Möglichkeit vor, die Prüfung der Echtheit eines elektronischen Dokuments zu beantragen.

 

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

 

14        Gegen die Klägerin des Ausgangsverfahrens, V.B. Trade, erging am 13. Januar 2021 ein Steuerprüfungsbescheid über die Nacherhebung von Körperschaftsteuer in Höhe von 682 863,40 bulgarischen Leva (BGN) (etwa 349 000 Euro) zuzüglich Zinsen in Höhe von 192 770,62 BGN (etwa 98 500 Euro).

 

15        Dieser Steuerprüfungsbescheid wurde von der zuständigen Steuerverwaltung nach Abschluss eines Steuerprüfungsverfahrens erlassen, das von ihr mit Entscheidung vom 24. Juni 2020, geändert durch Entscheidungen vom 30. September und vom 29. Oktober 2020, angeordnet wurde und zu einem Steuerprüfungsbericht vom 15. Dezember 2020 führte.

 

16        Alle von der Steuerverwaltung im Rahmen dieses Steuerprüfungsverfahrens ausgestellten Dokumente wurden in Form von elektronischen Dokumenten erstellt, die mit qualifizierten elektronischen Signaturen unterzeichnet wurden.

 

17        Mit Entscheidung vom 17. Mai 2021 bestätigte der Direktor den Steuerprüfungsbescheid vom 13. Januar 2021.

 

18        Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob beim Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen diese Entscheidung.

 

19        Im Rahmen dieser Klage ficht sie die Gültigkeit der ausgestellten elektronischen Dokumente an und macht geltend, sie seien nicht ordnungsgemäß mittels einer qualifizierten elektronischen Signatur unterzeichnet worden. Zur Stützung dieses Vorbringens ersuchte sie das vorlegende Gericht um Bestellung und Vernehmung eines gerichtlichen Sachverständigen für Informatik zu einer Reihe von Fragen hinsichtlich der Gültigkeit dieser Signaturen.

 

20        Die Echtheit dieser Dokumente hänge nämlich von verschiedenen technischen Aspekten ab, die sich auf die Qualität einer elektronischen Signatur als „qualifizierte elektronische Signatur“ auswirkten. Insoweit macht die Klägerin u. a. geltend, dass Art. 25 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 910/2014 kein Hindernis für die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften darstelle, nach denen Beweise wegen fehlender Glaubhaftigkeit oder Echtheit oder aus einem anderen Grund angefochten werden könnten.

 

21        Der Direktor trat dem entgegen und machte geltend, aus der Verordnung Nr. 910/2014 ergebe sich im Gegenteil, dass jede Anfechtung der qualifizierten elektronischen Signaturen unzulässig sei.

 

22        Das vorlegende Gericht hält es für erforderlich, den Ausdruck „Rechtswirkung [einer elektronischen Signatur] … als Beweismittel in Gerichtsverfahren“ in Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 910/2014 näher zu erläutern. Insbesondere ergebe sich aus diesem Ausdruck ein Verbot, diese Rechtswirkung und die Zulässigkeit der elektronischen Signatur als Beweismittel in Frage zu stellen. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob dieses Verbot Vorrang vor dem Grundsatz der Verfahrensautonomie hat, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, einer Signatur bzw. einer Unterschrift mittels eines besonderen, in ihren nationalen Rechtsvorschriften geregelten Verfahrens die Beweiskraft abzusprechen.

 

23        Insoweit weist das vorlegende Gericht zum einen darauf hin, dass sich aus Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 910/2014 im Licht ihres 22. Erwägungsgrundes ergebe, dass ein mittels einer qualifizierten oder nicht qualifizierten elektronischen Signatur unterzeichnetes Dokument in Gerichtsverfahren aller Art eine zulässige Urkunde sei, die die Gerichte der Mitgliedstaaten zu beachten hätten, da Art. 25 Abs. 1 dieser Verordnung Vorrang vor dem allgemeinen Grundsatz der Verfahrensautonomie und den von den Mitgliedstaaten für die Zulässigkeit von Beweismitteln festgelegten Verfahrensvorschriften habe.

 

24        Zum anderen gehe aus dem zweiten Satz des 49. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 910/2014 hervor, dass der Ausdruck „Rechtswirkung [einer elektronischen Signatur]“ in Art. 25 Abs. 1 dieser Verordnung so verstanden werden könne, dass er sich auf die Beweiskraft der Signatur bzw. Unterschrift beziehe, wie sie im nationalen Rechtssystem jedes einzelnen Mitgliedstaats anerkannt sei. Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass Art. 25 Abs. 2 der Verordnung die Rechtswirkung der elektronischen Signatur jener der handschriftlichen Unterschrift nur dann gleichstelle, wenn es sich um eine qualifizierte elektronische Signatur handele.

 

25        Vor diesem Hintergrund hat der Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist die Wendung „Rechtswirkung [einer elektronischen Signatur] als Beweismittel“ in Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 910/2014 dahin auszulegen, dass diese Bestimmung die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet, anzuerkennen, dass bei Vorliegen oder Unstreitigkeit der Voraussetzungen von Art. 3 Nrn. 10, 11 und 12 der Verordnung Nr. 910/2014 die Existenz und die geltend gemachte Urheberschaft einer solchen Signatur von vornherein als zweifelsfrei und unstreitig erwiesen anzusehen sind, und ist sie dahin auszulegen, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen dieser Bestimmungen die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, anzuerkennen, dass die qualifizierte elektronische Signatur einen Beweiswert/eine Beweiskraft hat, der/die dem Beweiswert/der Beweiskraft einer handschriftlichen Unterschrift nur in dem Rahmen gleichwertig ist, den die einschlägige nationale rechtliche Regelung für diese handschriftliche Unterschrift vorsieht?

2. Ist die Wendung „darf … in Gerichtsverfahren nicht … abgesprochen werden“ in Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 910/2014 dahin auszulegen, dass sie den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten ein absolutes Verbot auferlegt, die in ihren Rechtssystemen vorgesehenen Verfahrensmöglichkeiten zu nutzen, um der in der Verordnung vorgesehenen Rechtswirkung der elektronischen Signatur die beweisrechtliche Bedeutung abzusprechen, oder ist sie dahin auszulegen, dass diese Bestimmung dem nicht entgegensteht, dass die in Art. 3 Nrn. 10, 11 und 12 der Verordnung genannten Voraussetzungen widerlegt werden, indem die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten die nach ihrem Verfahrensrecht anwendbaren Instrumente nutzen, und es auf diese Weise den Parteien eines vor Gericht geführten Rechtsstreits ermöglicht wird, die vorgesehene Beweiskraft und den vorgesehenen Beweiswert der elektronischen Signatur zu widerlegen?

 

Verfahren vor dem Gerichtshof

26        Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. September 2022 ist die vorliegende Rechtssache bis zur verfahrensbeendenden Entscheidung in der Rechtssache C‑362/21 ausgesetzt worden.

 

27        Nach Verkündung des Urteils vom 20. Oktober 2022, Ekofrukt (C‑362/21, EU:C:2022:815), hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mit Schreiben vom 18. November 2022 mitgeteilt, dass es die zweite Vorlagefrage zurückziehen wolle, die erste jedoch aufrechterhalte.

 

Zur Vorlagefrage

Zur Zulässigkeit

28        Der Direktor ist im Wesentlichen der Ansicht, die Vorlagefrage sei unzulässig. Sie erfordere keine Auslegung des Unionsrechts, da Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 910/2014 ausdrücklich bestimme, dass diese Verordnung das nationale Recht oder das Unionsrecht in Bezug auf den Abschluss und die Gültigkeit von Verträgen oder andere rechtliche oder verfahrensmäßige Formvorschriften nicht berühre. Auf der Grundlage des nationalen Rechts sei nämlich zu ermitteln, ob und unter welchen Voraussetzungen handschriftlich unterzeichnete Dokumente und dementsprechend Dokumente mit qualifizierter elektronischer Signatur auch in Bezug auf die Urhebereigenschaft angefochten werden könnten und welche verfahrensrechtlichen Folgen das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer solchen Anfechtung durch eine Partei des Rechtsstreits habe.

 

29        Insoweit ist festzustellen, dass sich das vorlegende Gericht, wie sich aus den Rn. 22 bis 24 des vorliegenden Urteils ergibt, im Rahmen dieser Rechtssache fragt, ob und inwieweit Art. 25 der Verordnung Nr. 910/2014 Vorrang vor dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten hat, indem er den nationalen Gerichten ein absolutes Verbot auferlegt, auf die in ihren Rechtsordnungen vorgesehenen verfahrensrechtlichen Mittel zurückzugreifen, um die sich aus dieser Verordnung ergebende Beweiskraft der elektronischen Signatur in Frage zu stellen. Diese Frage gehört jedoch zur inhaltlichen Prüfung der Vorlagefrage und nicht zur Prüfung ihrer Zulässigkeit.

 

30        Im Übrigen geht aus dieser Frage hervor, dass das vorlegende Gericht mit ihr um die Auslegung des Unionsrechts, insbesondere von Art. 25 der Verordnung Nr. 910/2014, und nicht um die Auslegung des bulgarischen Rechts ersucht.

 

31        Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.

 

Zur Vorlagefrage

32        Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 25 der Verordnung Nr. 910/2014 dahin auszulegen ist, dass er die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet, anzuerkennen, dass die Existenz und die geltend gemachte Urhebereigenschaft einer qualifizierten elektronischen Signatur bei Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 3 Nr. 12 dieser Verordnung als zweifelsfrei erwiesen anzusehen sind, oder ob diese Gerichte eine Beweiskraft dieser Signatur nur im Rahmen dessen anerkennen müssen, was die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften für eine handschriftliche Unterschrift vorsehen.

 

33        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Nr. 12 der Verordnung Nr. 910/2014 drei kumulative Anforderungen stellt, damit eine elektronische Signatur als „qualifizierte elektronische Signatur“ angesehen werden kann. Erstens muss die Signatur eine „fortgeschrittene elektronische Signatur“ sein, die nach Art. 3 Nr. 11 dieser Verordnung die Anforderungen von Art. 26 der Verordnung erfüllt. Zweitens muss die Signatur von einer „qualifizierten elektronischen Signaturerstellungseinheit“ erstellt worden sein, die nach Art. 3 Nr. 23 dieser Verordnung die Anforderungen des Anhangs II dieser Verordnung erfüllen muss. Drittens muss die Signatur auf einem „qualifizierten Zertifikat für elektronische Signaturen“ im Sinne von Art. 3 Nr. 15 der Verordnung Nr. 910/2014 beruhen, d. h. auf einem Zertifikat, das von einem „qualifizierten Vertrauensdiensteanbieter“ ausgestellt wurde und die Anforderungen des Anhangs I dieser Verordnung erfüllt (Urteil vom 20. Oktober 2022, Ekofrukt, C‑362/21, EU:C:2022:815, Rn. 43).

 

34        Sodann verbietet Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 910/2014, wie der Gerichtshof in Rn. 35 des Urteils vom 20. Oktober 2022, Ekofrukt (C‑362/21, EU:C:2022:815), entschieden hat, den nationalen Gerichten nicht, elektronische Signaturen für ungültig zu erklären, sondern stellt einen allgemeinen Grundsatz auf, der es diesen Gerichten verbietet, elektronischen Signaturen die Rechtswirkung und die Beweiskraft in Gerichtsverfahren allein deshalb abzusprechen, weil sie in elektronischer Form vorliegen.

 

35        Schließlich wird, wie sich aus den Rn. 36 und 37 des Urteils vom 20. Oktober 2022, Ekofrukt (C‑362/21, EU:C:2022:815), ergibt, die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführte Auslegung durch Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 910/2014 im Licht ihrer Erwägungsgründe 21 und 49 bestätigt, wonach die Rechtswirkung elektronischer Signaturen durch nationales Recht festzulegen ist. Die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht besteht in der in Art. 25 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehenen Anforderung, dass eine qualifizierte elektronische Signatur die gleiche Rechtswirkung wie eine handschriftliche Unterschrift haben muss, womit diese Bestimmung allein zugunsten der qualifizierten elektronischen Signatur eine Vermutung der „Gleichstellung“ mit der handschriftlichen Unterschrift aufstellt.

 

36        Aus der in den Rn. 32 bis 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt sich, dass die Festlegung der Rechtswirkung elektronischer Signaturen, einschließlich qualifizierter elektronischer Signaturen, Sache des nationalen Rechts ist, sofern die in Art. 25 Abs. 2 der Verordnung Nr. 910/2014 vorgesehene Gleichstellung der qualifizierten elektronischen Signatur mit der handschriftlichen Unterschrift beachtet wird.

 

37        Auch wenn sich aus Art. 25 der Verordnung Nr. 910/2014 ergibt, dass die Existenz und die geltend gemachte Urhebereigenschaft einer qualifizierten elektronischen Signatur erwiesen sind, wenn nachgewiesen wird, dass die fragliche Signatur die in Art. 3 Nr. 12 dieser Verordnung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt, gibt es nämlich keinen Grund, die qualifizierte elektronische Signatur in dem Sinn günstiger zu behandeln als die handschriftliche Unterschrift, dass Art. 25 dieser Verordnung den Gerichten der Mitgliedstaaten ein absolutes Verbot auferlegen würde, auf die in ihren Rechtsordnungen vorgesehenen verfahrensrechtlichen Mittel zurückzugreifen, um der qualifizierten elektronischen Signatur im Sinne dieser Verordnung die Beweiskraft abzusprechen.

 

38        Wenn und soweit das nationale Recht die Möglichkeit vorsieht, die Beweiskraft einer handschriftlichen Unterschrift in Frage zu stellen, muss folglich eine solche Möglichkeit auch in Bezug auf die qualifizierte elektronische Signatur bestehen.

 

39        Insbesondere kann, wie der Direktor in seinen schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, einer qualifizierten elektronischen Signatur im Rahmen des in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verfahrens zur Prüfung der Urkundenechtheit die Beweiskraft abgesprochen werden, allerdings unter der Voraussetzung, dass diese Rechtsvorschriften ein identisches Verfahren für die Anfechtung der handschriftlichen Unterschrift und der qualifizierten elektronischen Signatur vorsehen.

 

40        Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 25 der Verordnung Nr. 910/2014 dahin auszulegen ist, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten bei Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 3 Nr. 12 dieser Verordnung verpflichtet sind, im Rahmen dessen, was die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften für die handschriftliche Unterschrift vorsehen, der qualifizierten elektronischen Signatur die gleiche Beweiskraft wie der handschriftlichen Unterschrift zuzuerkennen.

 

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