EuGH: Betrügerische Verschleierung der geschuldeten Steuer, Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem
EuGH, Urteil vom 5.5.2022 – C-570/20
ECLI:EU:C:2022:348
Volltext des Urteils://BB-ONLINE BBL2022-1109-2
Tenor
Das in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgte Grundrecht ist in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass
– es ihm nicht zuwiderläuft, wenn die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, die in einer nationalen Regelung für den Fall von betrügerischen Verschleierungen oder unvollständigen Erklärungen im Bereich der Mehrwertsteuer vorgesehen ist, nur dadurch auf besonders schwere Fälle beschränkt wird, dass die gesetzlichen Bestimmungen, die die Voraussetzungen für diese Kumulierung festlegen, nach gefestigter Rechtsprechung eng ausgelegt werden, vorausgesetzt, dass zum Zeitpunkt der Tatbegehung hinreichend vorhersehbar ist, dass die Tat zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen kann; aber dass
– es einer nationalen Regelung entgegensteht, die nicht durch klare und präzise Regeln, gegebenenfalls in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte, gewährleistet, dass im Fall der Kumulierung einer finanziellen Sanktion und einer Freiheitsstrafe die verhängten Sanktionen insgesamt nicht außer Verhältnis zur Schwere der festgestellten Tat stehen.
■§§
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen BV wegen Steuerstraftaten, die er u. a. im Bereich der Mehrwertsteuer begangen haben soll.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) bestimmt, welche Umsätze der Mehrwertsteuer unterliegen.
4 Art. 273 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Französisches Recht
5 Art. 1729 des Code général des impôts (allgemeines Steuergesetzbuch, im Folgenden: CGI) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung bestimmt:
„Bei Ungenauigkeiten oder Auslassungen in Steuererklärungen oder Urkunden, die sich auf für die Steuerbemessung oder ‑festsetzung wesentliche Elemente beziehen, sowie bei der Rückerstattung einer zu Unrecht vom Staat erlangten Steuergutschrift wird ein Aufschlag erhoben in Höhe von:
a. 40 % im Fall eines vorsätzlichen Verstoßes;
…“
6 Art. 1741 CGI in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung, die aus dem Gesetz Nr. 2010‑1658 vom 29. Dezember 2010 hervorgegangen war, sah vor:
„Unbeschadet der besonderen Bestimmungen dieses Gesetzbuchs wird jeder, der sich in betrügerischer Weise der vollständigen oder teilweisen Festsetzung oder Zahlung der unter dieses Gesetzbuch fallenden Steuern entzieht oder zu entziehen versucht, sei es, indem er vorsätzlich seine Steuererklärung nicht innerhalb der festgelegten Fristen abgibt, sei es, indem er vorsätzlich einen Teil der steuerpflichtigen Beträge verheimlicht, seine Zahlungsunfähigkeit herbeiführt oder die Erhebung der Steuer auf andere Weise behindert oder in sonstiger betrügerischer Weise handelt, unabhängig von den anwendbaren steuerrechtlichen Sanktionen mit einer Geldstrafe von 37 500 Euro und einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren bestraft. Wurden die Handlungen durch Käufe oder Verkäufe ohne Rechnung oder mit Rechnungen, die sich nicht auf tatsächliche Transaktionen beziehen, durchgeführt oder ermöglicht, oder sollten sie dazu dienen, ungerechtfertigte Erstattungen vom Staat zu erhalten, wird die Tat mit einer Geldstrafe von 75 000 Euro und einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren geahndet.
Diese Vorschrift gilt im Fall der Verschleierung jedoch nur, wenn diese ein Zehntel der Besteuerungsgrundlage oder den Betrag von 153 Euro übersteigt.
Jeder Person, die aufgrund dieses Artikels verurteilt wird, können gemäß Art. 131‑26 des Strafgesetzbuchs die staatsbürgerlichen, bürgerlichen und familiären Rechte entzogen werden.
Das Gericht kann darüber hinaus anordnen, dass die Entscheidung in Übereinstimmung mit den Art. 131‑35 oder 131‑39 des Strafgesetzbuchs veröffentlicht und verbreitet wird.
…“
7 Art. L. 228 des Livre des procédures fiscales (Steuerverfahrensordnung) bestimmte in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung:
„Anzeigen, die auf die Anwendung strafrechtlicher Sanktionen im Bereich der direkten Steuern, der Mehrwertsteuer und anderer Umsatzsteuern, der Eintragungsgebühren, der Grundsteuer und der Stempelsteuer abzielen, sind nur zulässig, wenn sie von der Verwaltung nach Zustimmung der Kommission für Steuerstraftaten eingereicht werden.“
8 Nach ständiger Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) ergibt sich aus Art. 1741 CGI in Verbindung mit den Art. L. 228 ff. der Steuerverfahrensordnung, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung nur dann einleiten kann, wenn die Steuerverwaltung zuvor Anzeige erstattet hat.
9 Mit den Beschlüssen Nr. 2016‑545 QPC vom 24. Juni 2016, Nr. 2016‑546 QPC vom 24. Juni 2016, Nr. 2016‑556 QPC vom 22. Juli 2016 und Nr. 2018‑745 QPC vom 23. November 2018 stellte der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat, Frankreich) fest, dass die aus den Art. 1729 und 1741 CGI resultierende Kumulierung von strafrechtlichen und steuerrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Fall der Verschleierung von steuerpflichtigen Beträgen sowie im Fall der unterlassenen Deklarierung mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit von Straftat und Strafmaß im Einklang stehe. So führte der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) aus, dass die beiden genannten Bestimmungen „es zusammen ermöglichen, die finanziellen Interessen des Staates und die steuerliche Gleichbehandlung zu wahren, indem gemeinsame Zwecke verfolgt werden, die zugleich abschreckend und repressiv sind“. Weiter stellte er fest: „Die Erhebung des erforderlichen öffentlichen Beitrags und das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung rechtfertigen in besonders schweren Betrugsfällen die Einleitung komplementärer Verfahren. Auf die Kontrollen, aufgrund derer die Steuerverwaltung Geldsanktionen verhängt, können daher strafrechtliche Verfahren folgen, und zwar unter den Bedingungen und nach den Verfahren, die gesetzlich vorgesehen sind.“
10 Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entwickelte der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) jedoch drei Auslegungsvorbehalte, die die Möglichkeit einer solchen Kumulierung beschränken:
– Erstens kann ein Steuerpflichtiger, der durch eine rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung aus einem materiellen Grund von der Steuer befreit wurde, nicht strafrechtlich wegen Steuerhinterziehung verurteilt werden;
– zweitens ist Art. 1741 CGI nur auf besonders schwere Fälle der betrügerischen Verschleierung steuerpflichtiger Beträge oder besonders schwere Fälle unterlassener Erklärungen anwendbar, wobei sich die besondere Schwere aus der Höhe der hinterzogenen Abgaben, aus der Natur der Taten des Beschuldigten oder aus den Umständen ihrer Begehung ergeben kann;
– drittens kann die Möglichkeit der Einleitung zweier Verfahren zwar zu einer Kumulierung von Sanktionen führen, doch gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Gesamthöhe der gegebenenfalls verhängten Sanktionen jedenfalls nicht den für eine einzelne Sanktion vorgesehenen Höchstbetrag übersteigen darf.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 BV war bis zum 14. Juni 2011 in der Rechtsform eines Einzelunternehmers als Wirtschaftsprüfer tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit war er von Rechts wegen mehrwertsteuerpflichtig und unterlag angesichts seines Umsatzes der normalen Steuerregelung, so dass er verpflichtet war, monatlich Steuererklärungen einzureichen.
12 Die Steuerverwaltung führte für die Jahre 2009, 2010 und 2011 Buchprüfungen durch.
13 Am 10. März 2014 erstattete die Steuerverwaltung beim Procureur de la République d’Annecy (Staatsanwaltschaft Annecy, Frankreich) Strafanzeige gegen BV. Sie legte ihm zur Last, er habe eine fehlerhafte Buchführung vorgelegt, Mehrwertsteuererklärungen abgegeben, die aufgrund der Verschleierung des Großteils der erzielten Einnahmen unvollständig gewesen seien, seine Einnahmen aus nicht gewerblicher Tätigkeit zu niedrig angegeben und unvollständige Gesamteinkommensteuererklärungen abgegeben, in denen geringere Einkünfte aus nicht gewerblicher Tätigkeit angegeben worden seien, als sie tatsächlich erzielt worden seien. Nach den Angaben in der Strafanzeige belief sich die hinterzogene Mehrwertsteuer auf 82 507 Euro und die hinterzogene Einkommensteuer auf 108 883 Euro.
14 Nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens erhob die Staatsanwaltschaft beim Tribunal correctionnel d’Annecy (Strafgericht Annecy, Frankreich) Anklage gegen BV wegen Steuerhinterziehung durch Verschleierung von steuerpflichtigen Einnahmen und Unterlassung von Eintragungen in Buchhaltungsunterlagen.
15 Mit Urteil vom 23. Juni 2017 erklärte das Tribunal correctionnel d’Annecy (Strafgericht Annecy) BV der ihm zur Last gelegten Straftaten für schuldig, verurteilte ihn zu zwölf Monaten Freiheitsstrafe und ordnete die Veröffentlichung der Entscheidung auf seine Kosten an.
16 Gegen dieses Urteil legte BV bei der Cour d’appel de Chambéry (Berufungsgericht Chambéry, Frankreich) Berufung ein. Zur Stützung der Berufung machte er geltend, seine strafrechtliche Verurteilung verstoße gegen den in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem, da wegen desselben Sachverhalts bereits ein Steuernacherhebungsverfahren gegen ihn geführt worden sei, das dazu geführt habe, dass Steuerstrafzuschläge in Höhe von 40 % der hinterzogenen Abgaben bestandskräftig festgesetzt worden seien.
17 Mit Urteil vom 13. Februar 2019 wies die Cour d’appel de Chambéry (Berufungsgericht Chambéry) die Berufung zurück. Das Gericht war der Ansicht, dass die Kumulierung strafrechtlicher und steuerrechtlicher Sanktionen gegen BV nicht gegen Art. 50 der Charta verstoße, da die Anwendung der maßgeblichen nationalen Regelung den Anforderungen genüge, die sich aus der einschlägigen Rechtsprechung des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) ergäben.
18 BV legte gegen das Urteil der Cour d’appel de Chambéry (Berufungsgericht Chambéry) bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof), dem vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache, Kassationsbeschwerde ein und machte geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht dem Erfordernis der Klarheit und Vorhersehbarkeit genüge, das nach der auf das Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 49 bis 51), zurückgehenden Rechtsprechung bei einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zu beachten sei. Außerdem sehe diese nationale Regelung entgegen der Rechtsprechung, die namentlich aus dem Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 56 und 60), hervorgegangen sei, keine Regeln vor, die sicherstellen könnten, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreite.
19 Das vorlegende Gericht führt einleitend aus, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstelle, da sie insbesondere darauf abziele, Mehrwertsteuerstraftaten zu bekämpfen, um die vollständige Erhebung der geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten. Daher müsse diese Regelung mit dem in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem im Einklang stehen.
20 In Bezug auf das Erfordernis der Klarheit und Vorhersehbarkeit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Art. 1729 und 1741 CGI genau festlegten, welche Handlungen und Unterlassungen sowohl strafrechtlich als auch steuerrechtlich geahndet werden könnten. Hinsichtlich der Anwendung dieser Vorschriften habe der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) die drei in Rn. 10 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegungsvorbehalte entwickelt.
21 Was speziell den zweiten Auslegungsvorbehalt betrifft, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es die Modalitäten seiner Anwendung präzisiert habe. Wenn eine wegen Steuerhinterziehung angeklagte Person nachweise, dass wegen desselben Sachverhalts bereits eine steuerrechtliche Sanktion gegen sie persönlich verhängt worden sei, obliege es dem Strafgericht, sich zunächst zur Einstufung der Straftat nach Maßgabe der Tatbestandsmerkmale von Art. 1741 CGI zu äußern. Sodann müsse es – gegebenenfalls von Amts wegen – prüfen, ob der festgestellte Sachverhalt schwer genug wiege, um die Strafverfolgung zusätzlich zur steuerrechtlichen Ahndung zu rechtfertigen. Diese Prüfung müsse anhand der vom Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) festgelegten Kriterien erfolgen, die sich auf die Höhe der hinterzogenen Beträge, die Natur der Tat und die Umstände ihrer Begehung bezögen. Außerdem müsse die Entscheidung über die Schwere begründet werden und vor der Festlegung und der Begründung des Strafmaßes ergehen.
22 Was die Frage anbelange, ob sich die Schärfe der verhängten Sanktionen insgesamt auf das zwingend Notwendige beschränke, sei festzustellen, dass die französische Regelung dem zweiten vom Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) entwickelten Auslegungsvorbehalt insofern entspreche, als sie die Strafverfolgung auf Straftaten von bestimmter Schwere beschränke, für die der nationale Gesetzgeber außer einer Geldstrafe auch eine Freiheitsstrafe vorgesehen habe.
23 Außerdem werde entsprechend dem dritten Auslegungsvorbehalt die Möglichkeit der Kumulierung von Sanktionen durch das Verbot beschränkt, den höchsten Betrag zu überschreiten, der für eine einzelne Sanktion vorgesehen sei. Dieser dritte Auslegungsvorbehalt betreffe jedoch nach der eigenen Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts nur gleichartige Sanktionen, und zwar solche finanzieller Art, da er voraussetze, dass das Gericht das jeweilige Höchstmaß der strafrechtlichen und steuerrechtlichen Sanktionen vergleichen könne, um den höchsten Betrag zu ermitteln, der die Obergrenze darstelle. Daher gelte dieser Auslegungsvorbehalt nicht für den Fall einer Kumulierung von steuerrechtlichen finanziellen Sanktionen und einer Freiheitsstrafe.
24 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das Gebot der Klarheit und Vorhersehbarkeit der Umstände, unter denen Verschleierungen bei Erklärungen im Bereich der geschuldeten Mehrwertsteuer zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen können, durch nationale Vorschriften wie die oben dargelegten erfüllt?
2. Ist das Gebot der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Kumulierung solcher Sanktionen durch nationale Vorschriften wie die oben dargelegten erfüllt?
Zu den Vorlagefragen
25 Mit seinen beiden Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass
– es ihm zuwiderläuft, wenn die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, die in einer nationalen Regelung für den Fall von betrügerischen Verschleierungen oder unvollständigen Erklärungen im Bereich der Mehrwertsteuer vorgesehen ist, nur dadurch auf besonders schwere Fälle beschränkt wird, dass die gesetzlichen Bestimmungen, die die Voraussetzungen für diese Kumulierung festlegen, nach gefestigter Rechtsprechung eng ausgelegt werden, und/oder dass
– es einer nationalen Regelung entgegensteht, die nicht durch klare und präzise Regeln, gegebenenfalls in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte, gewährleistet, dass im Fall der Kumulierung einer finanziellen Sanktion und einer Freiheitsstrafe die verhängten Sanktionen insgesamt nicht außer Verhältnis zur Schwere der festgestellten Tat stehen.
26 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass von den nationalen Steuerbehörden im Bereich der Mehrwertsteuer verhängte Verwaltungssanktionen und wegen Mehrwertsteuerstraftaten eingeleitete Strafverfahren nach ständiger Rechtsprechung als Durchführung der Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen sind und folglich das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht wahren müssen (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Gemäß letzterer Bestimmung darf niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.
28 Im vorliegenden Fall wird BV im Ausgangsstrafverfahren wegen betrügerischer Verschleierungen und unterlassener Erklärungen im Bereich der Mehrwertsteuer verfolgt, obwohl gegen ihn laut den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen wegen desselben Sachverhalts bereits eine bestandskräftige Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta verhängt wurde. Eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen stellt eine Einschränkung des in dieser Bestimmung der Charta verankerten Grundrechts dar, da diese Bestimmung es verbietet, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen (vgl. entsprechend Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35).
29 Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts jedoch auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 49).
30 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
31 Im vorliegenden Fall steht erstens fest, dass die Möglichkeit, strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sowie verwaltungsrechtliche Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zu kumulieren, gesetzlich vorgesehen ist, nämlich in den Art. 1729 und 1741 CGI. Soweit das Erfordernis, wonach jede Einschränkung der Grundrechtsausübung gesetzlich vorgesehen sein muss, impliziert, dass die gesetzliche Grundlage für den Grundrechtseingriff den Umfang, in dem die Ausübung des betreffenden Rechts eingeschränkt wird, selbst festlegen muss, so deckt sich dies weitgehend mit den Anforderungen an Klarheit und Genauigkeit, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Facebook Ireland und Schrems, C‑311/18, EU:C:2020:559, Rn. 180), der in den Rn. 34 ff. des vorliegenden Urteils geprüft wird.
32 Zweitens wahrt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche den Wesensgehalt des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts. Nach den Angaben in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten lässt sie eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nämlich nur unter abschließend festgelegten Voraussetzungen zu und stellt damit sicher, dass das in Art. 50 der Charta verbürgte Recht als solches nicht in Frage gestellt wird.
33 Drittens geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass diese Regelung die vollständige Erhebung der geschuldeten Mehrwertsteuer gewährleisten soll. Angesichts der Bedeutung, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten zur Erreichung dieses Ziels beimisst, entspricht die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ergibt, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung.
34 Viertens ist zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Eine nationale Regelung, die die Möglichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen vorsieht, ist geeignet, das legitime Ziel der Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten zu erreichen, um die Erhebung der gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 48).
36 Was die zwingende Erforderlichkeit einer solchen nationalen Regelung betrifft, hat der Gerichtshof in den Rn. 49, 52 und 55 des Urteils vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197), klargestellt, dass die betreffende Regelung klare und präzise Regeln aufstellen muss, die es erstens den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, zweitens eine Koordinierung der Verfahren gewährleisten, um die mit einer Kumulierung von Verfahren strafrechtlicher Natur, die unabhängig voneinander durchgeführt werden, verbundene zusätzliche Belastung auf das zwingend Erforderliche zu beschränken, und drittens gewährleisten können, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht.
37 Das vorlegende Gericht hegt zum einen Zweifel hinsichtlich der ersten der in der vorstehenden Randnummer dargelegten Anforderungen, die in Bezug auf das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht auch den in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen widerspiegelt. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 56 bis 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, findet der letztgenannte Grundsatz nämlich Anwendung, wenn eine bestandskräftige Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta und strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen kumuliert werden, da diese Kumulierung für den Betroffenen schwerere Folgen haben kann als die bloße Strafverfolgung. Insbesondere kann die verfolgungsbedingte Belastung, die sich aus der Kumulierung von Sanktionen strafrechtlicher Natur ergibt, über diejenige hinausgehen, die für ein inkriminiertes Verhalten gesetzlich vorgesehen ist. Daher muss jede Bestimmung, die eine doppelte Ahndung zulässt, den Anforderungen genügen, die mit dem in Art. 49 Abs. 1 der Charta garantierten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verbunden sind.
38 In Bezug auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen hat der Gerichtshof entschieden, dass, soweit dieser Grundsatz verlangt, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen gesetzlich klar definiert sind, diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (Urteile vom 22. Oktober 2015, AC‑Treuhand/Kommission, C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku, C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 49).
39 Der Umstand, dass sich die Voraussetzungen für eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur nicht ausschließlich aus gesetzlichen Vorschriften, sondern auch aus deren Auslegung durch die nationalen Gerichte ergeben, ist daher für sich genommen nicht geeignet, die Klarheit und Genauigkeit der nationalen Regelung in Frage zu stellen, vorausgesetzt allerdings, dass der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmungen und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen zu einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen führen können.
40 Was die Frage anbelangt, ob der nationale Gesetzgeber allgemeine Begriffe verwenden kann, um zu bestimmen, welche Taten zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen können, so ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den Rn. 52 und 53 seines Urteils vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193), festgestellt hat, dass die nationale Regelung, um die es in jener Rechtssache ging, hinreichend klar und präzise war, obwohl sie diese Kumulierung davon abhängig machte, ob die fraglichen Handlungen geeignet waren, den Preis von Finanzinstrumenten „erheblich zu verändern“, so dass es auf die Auslegung eines allgemeinen Begriffs ankam, die eine signifikante Würdigung seitens der nationalen Gerichte erforderte.
41 Nach der Rechtsprechung zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen darf dieser Grundsatz nämlich nicht so verstanden werden, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung von Fall zu Fall untersagt, vorausgesetzt, dass das Ergebnis zum Zeitpunkt der Begehung der Tat insbesondere unter Berücksichtigung der Auslegung, die zu dieser Zeit in der Rechtsprechung zur fraglichen Rechtsvorschrift vertreten wurde, hinreichend vorhersehbar ist (Urteile vom 22. Oktober 2015, AC‑Treuhand/Kommission, C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku, C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 50).
42 Daher steht der Umstand, dass sich die nationale Rechtsprechung im Rahmen ihrer Auslegung der maßgeblichen Rechtsvorschriften auf allgemeine Begriffe bezieht, die schrittweise zu präzisieren sind, vorbehaltlich der genannten Voraussetzungen grundsätzlich nicht der Feststellung entgegen, dass die nationale Regelung klare und präzise Regeln enthält, die es dem Rechtsunterworfenen ermöglichen, vorherzusehen, welche Handlungen und Unterlassungen zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen können.
43 In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass das Ausmaß der verlangten Vorhersehbarkeit in hohem Maß vom Inhalt der in Rede stehenden Vorschriften, von dem durch sie geregelten Bereich sowie von der Zahl und der Eigenschaft ihrer Adressaten abhängt. Mit der Vorhersehbarkeit des Gesetzes ist es nicht unvereinbar, dass die betreffende Person gezwungen ist, fachkundigen Rat einzuholen, um unter den Umständen des konkreten Falles angemessen zu beurteilen, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung ergeben können. Das gilt insbesondere für berufsmäßig tätige Personen, die gewohnt sind, sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit sehr umsichtig verhalten zu müssen. Von ihnen kann daher erwartet werden, dass sie die Risiken ihrer Tätigkeit besonders sorgfältig beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, EU:C:2005:408, Rn. 219 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 22. Oktober 2015, AC‑Treuhand/Kommission, C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 42, sowie vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 166).
44 Im vorliegenden Fall ist es zwar Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung die in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen an Klarheit und Genauigkeit erfüllt, doch ist es Aufgabe des Gerichtshofs, insoweit zweckdienliche Hinweise zu geben, damit das vorlegende Gericht über das bei ihm anhängige Verfahren entscheiden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Wirkungen einer Ausweisungsverfügung], C‑719/19, EU:C:2021:506, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Zunächst ergibt sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen, dass Art. 1729 CGI die Voraussetzungen regelt, unter denen betrügerische Verschleierungen oder unterlassene Erklärungen u. a. im Bereich der Mehrwertsteuer zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur führen können. Nach Art. 1741 CGI und unter den dort genannten Voraussetzungen können solche Taten „unabhängig von den anwendbaren steuerrechtlichen Sanktionen“ außerdem mit einer Geldstrafe und einer Freiheitsstrafe geahndet werden.
46 Ferner hat der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) entschieden, dass die in diesen Artikeln vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nur in besonders schweren Fällen der betrügerischen Verschleierung steuerpflichtiger Beträge oder in besonders schweren Fällen unterlassener Erklärungen anwendbar ist, wobei sich die besondere Schwere aus der Höhe der hinterzogenen Abgaben, aus der Natur der Taten des Beschuldigten oder aus den Umständen ihrer Begehung ergeben kann. Vorbehaltlich der Würdigung durch das vorlegende Gericht erscheint diese Auslegung, die der Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgenommen hat, als solche nicht unvorhersehbar.
47 Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es die in der vorstehenden Randnummer dargelegte Rechtsprechung des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) bereits mehrfach angewandt und sie auf diese Weise weiter konkretisiert habe. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es in Anbetracht dieser bereits bestehenden Rechtsprechung für BV zum Zeitpunkt der Begehung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Taten hinreichend vorhersehbar war, dass diese Taten zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gemäß den Art. 1729 und 1741 CGI führen konnten.
48 In diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass BV gegebenenfalls die Hilfe eines Rechtsberaters hätte in Anspruch nehmen müssen, um nach Maßgabe der Voraussetzungen für die in diesen Artikeln vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur – so, wie diese Voraussetzungen von den nationalen Gerichten ausgelegt werden – die Folgen zu beurteilen, die sich aus den ihm zur Last gelegten Taten ergeben konnten, nach der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht geeignet, die Klarheit und Genauigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung in Frage zu stellen. Dies gilt im Fall von BV umso mehr, als er diese Taten offenbar im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer begangen hat.
49 Zum anderen äußert das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der dritten in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Anforderung. Diese ergibt sich sowohl aus Art. 52 Abs. 1 der Charta als auch aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen, der für die zuständigen Behörden die Verpflichtung mit sich bringt, im Fall der Verhängung einer zweiten Sanktion dafür zu sorgen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 56).
50 Insoweit ist klarzustellen, dass diese Anforderung nach der in Rn. 36 und in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ausnahmslos für alle kumulativ verhängten Sanktionen gilt, also sowohl für die Kumulierung gleichartiger Sanktionen als auch für die Kumulierung verschiedenartiger Sanktionen, wie etwa die Kumulierung von finanziellen Sanktionen und Freiheitsstrafen. Der bloße Umstand, dass die zuständigen Behörden die Absicht haben, verschiedenartige Sanktionen zu verhängen, kann sie nicht von der Verpflichtung entbinden, sich zu vergewissern, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet, da andernfalls ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorläge.
51 Aufgrund dieser Erwägungen hat der Gerichtshof in Rn. 60 des Urteils vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193), entschieden, dass es dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit nicht genügt, wenn eine Regelung hinsichtlich der Kumulierung einer Geldstrafe und einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur vorsieht, dass sich die Erhebung der Geldstrafe auf den Teil beschränkt, der den Betrag der Geldbuße übersteigt, ohne eine entsprechende Regel auch für den Fall vorzusehen, dass eine Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur mit einer Freiheitsstrafe kumuliert wird.
52 Was den vorliegenden Fall betrifft, hat das vorlegende Gericht zwar laut den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen aufgrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen bereits entschieden, dass der Gesamtbetrag einer bei Mehrfachahndung verhängten Sanktion nicht den höchsten Betrag überschreiten dürfe, der für eine einzelne Sanktion vorgesehen sei. Allerdings hat das vorlegende Gericht klargestellt, dass diese Einschränkung nur für gleichartige Sanktionen, und zwar solche finanzieller Art, gelte. Wie der Generalanwalt in Nr. 103 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist eine solche Einschränkung jedoch nicht geeignet, ein angemessenes Verhältnis zwischen der Schwere des Verstoßes und der Schärfe der verhängten Sanktionen in ihrer Gesamtheit herzustellen, wenn eine finanzielle Sanktion mit einer Freiheitsstrafe kumuliert wird.
53 Soweit die französische Regierung vor dem Gerichtshof darauf hingewiesen hat, dass Strafgerichte verpflichtet seien, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Strafen zu beachten, der ihnen die Befugnis verleihe, das Strafmaß an den Umständen des Einzelfalls auszurichten, so ergibt sich aus der in den Rn. 36 und 49 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zum einen, dass die zuständigen Behörden verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet, und zum anderen, dass diese Verpflichtung klar und präzise aus der betreffenden nationalen Regelung hervorgehen muss.
54 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies vorliegend der Fall ist, wobei es zu berücksichtigen haben wird, dass es – auch mit Verweis auf Verhältnismäßigkeitserwägungen – entschieden hat, dass die in Rn. 52 dargelegte Einschränkung nur für die Kumulierung gleichartiger Sanktionen gelte.
55 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass
– es ihm nicht zuwiderläuft, wenn die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, die in einer nationalen Regelung für den Fall von betrügerischen Verschleierungen oder unvollständigen Erklärungen im Bereich der Mehrwertsteuer vorgesehen ist, nur dadurch auf besonders schwere Fälle beschränkt wird, dass die gesetzlichen Bestimmungen, die die Voraussetzungen für diese Kumulierung festlegen, nach gefestigter Rechtsprechung eng ausgelegt werden, vorausgesetzt, dass zum Zeitpunkt der Tatbegehung hinreichend vorhersehbar ist, dass die Tat zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur führen kann; aber dass
– es einer nationalen Regelung entgegensteht, die nicht durch klare und präzise Regeln, gegebenenfalls in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte, gewährleistet, dass im Fall der Kumulierung einer finanziellen Sanktion und einer Freiheitsstrafe die verhängten Sanktionen insgesamt nicht außer Verhältnis zur Schwere der festgestellten Tat stehen.
Kosten
56 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.