BGH: Bakterienkulturen
BGH, Urteil vom 13.7.2023 – I ZR 68/21
ECLI:DE:BGH:2023:130723UIZR68.21.0
Volltext: BB-Online BBL2023-2625-1
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Amtliche Leitsätze
a) Ein Erzeugnis stellt ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 dar, wenn krankheitsbedingt ein erhöhter oder spezifischer Nährstoffbedarf besteht, der durch das Lebensmittel gedeckt werden soll. Für eine solche Einstufung reicht es nicht aus, dass der Patient allgemein aus der Aufnahme dieses Lebensmittels deswegen Nutzen zieht, weil darin enthaltene Stoffe der Störung entgegenwirken oder deren Symptome lindern (An-schluss an EuGH, Urteil vom 27. Oktober 2022 – C-418/21, GRUR 2022, 1765 [juris Rn. 59] = WRP 2022, 1484 – Orthomol).
b) Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 zeichnen sich durch ihre spezifische Ernährungs-funktion aus und enthalten Nährstoffe im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Buchst. s LMIV. Produkte, die in natürlicher Weise im menschlichen Darm vorkommende Bakterien enthalten, sind keine solchen Lebensmittel, weil Bakterien keine Nährstoffe in diesem Sinne sind.
c) Der Vertrieb und die Bewerbung von Produkten, die Bakterienkulturen enthalten, "zum Diätmanagement" ist irreführend, wenn diese Angabe den angesprochenen Verkehrskreisen suggeriert, es handele sich bei den Produkten um Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke.
UWG § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1; Verordnung (EU) Nr. 609/2013 Art. 2 Abs. 2 Buchst. g; LMIV Art. 2; Abs. 2 Buchst. s, Art. 7 Abs. 3 und 4
Sachverhalt
Der Kläger ist ein eingetragener Verein, zu dessen satzungsmäßigen Aufgaben die Wahrung der gewerblichen Interessen seiner Mitglieder gehört.
Die Beklagte bringt unter den Bezeichnungen "I. Microbiotic RDS", " I. Microbiotic CU", " I. Microbiotic ATOP" und " I. Microbiotic SUP" Produkte "zum Diätmanagement" bei Reizdarmsyndrom (RDS), Colitis Ulcerosa und Pouchitis (CU), atopischer Dermatitis (ATOP) sowie symptomatisch unkomplizierter Divertikelkrankheit (SUP) auf den Markt und bewirbt diese im Internet gemäß Anlage K 3 (Screenshots vom 23. Januar 2020) unter anderem mit den in den Klageanträgen wiedergegebenen Aussagen. Die Produkte enthalten in Kapseln verpackt vermehrungsfähige, natürlicherweise im menschlichen Darm vorkommende Bakterienkulturen.
Der Kläger mahnte die Beklagte wegen des Vertriebs und der Bewerbung der Produkte mit Schreiben vom 27. Januar 2020 erfolglos ab. Er ist der Auffassung, die Beklagte vertreibe die Produkte unberechtigt als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder, Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke und Tagesrationen für gewichtskontrollierende Ernährung.
Der Kläger hat die Beklagte auf Unterlassung und Erstattung einer Abmahnkostenpauschale nebst Zinsen in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Beklagte unter Androhung von Ordnungsmitteln unter (Teil-)Abweisung der Unterlassungsanträge im Übrigen verurteilt, es zu unterlassen,
im geschäftlichen Verkehr
1. das Mittel "I. RDS" zum Diätmanagement bei Reizdarmsyndrom in den Verkehr zu bringen und/oder zu vertreiben,
2. für das Mittel "I. RDS" wie folgt zu werben:
2.1. "zum Diätmanagement bei Reizdarmsyndrom",
2.2. "(...) Die hohe Anzahl an aktiven Darmsymbionten und die in wissenschaftlichen Studien belegte Wirkung machen I. ® RDS zu einem wertvollen Präparat zum Diätmanagement bei Reizdarmsyndrom",
2.3. "I. RDS enthält einen spezifischen, im menschlichen Darm vermehrungsfähigen Bakterienstamm zum Ausgleich der Dysbalance des Mikrobioms bei Reizdarmsyndrom. Die speziell für diesen besonderen Anwendungsbereich ausgewählte Bakterienkultur ist in angemessen hoher Dosierung enthalten, um das gastrointestinale Mikrobiom und damit auch die Symptome bei Reizdarmsyndrom positiv zu beeinflussen. Dies ist durch klinische Daten belegt",
2.4. (...) [Klage abgewiesen],
2.5. "Die ausgezeichnete Eignung von I. RDS zur Behandlung von Reizdarmsyndrom wurde in einer plazebokontrollierten Studie mit über 200 Patienten bestätigt. Die typischen Symptome wie Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall wurden nachweislich gebessert. (Ducrotté P, Sawant P. Jahynthi V. World J Gastroenterol, 2012 Aug 14; 18 (30): 4012-4018)",
3. das Mittel "I. CU" zum Diätmanagement bei Colitis UIcerosa und Pouchitis in den Verkehr zu bringen und/oder zu vertreiben,
4. für das Mittel "I. CU" wie folgt zu werben:
4.1. (...) [Klage abgewiesen],
4.2. "(...) I. CU eignet sich zum Diätmanagement bei Colitis UIcerosa und Pouchitis für Erwachsene und Kinder ab 4 Jahren",
4.3. "I. enthält auch acht spezifische, im menschlichen Darm vermehrungsfähige Bakterienstämme zum Ausgleich der Dysbalance des Mikrobioms bei Colitis UIcerosa und Pouchitis. Die Mengenverhältnisse und Dosierungen der speziell für diesen besonderen Anwendungsbereich ausgewählten Bakterienstämme sind so aufeinander abgestimmt, dass sie das gastrointestinale Mikrobiom und damit auch die Symptome bei Colitis UIcerosa und Pouchitis positiv beeinflussen. Dies ist durch klinische Daten belegt",
5. das Mittel "I. ATOP" zum Diätmanagement bei atopischer Dermatitis (Neurodermitis) in den Verkehr zu bringen und/oder zu vertreiben,
6. für das Mittel "I. ATOP" wie folgt zu werben:
6.1. "Zum Diätmanagement bei Neurodermitis",
6.2. "(...) Die hohe Anzahl an aktiven Darmsymbionten und die wissenschaftlich erforschte Zusammensetzung und Wirkung machen I. ® ATOP zu einem wertvollen Präparat zum Diätmanagement bei atopischer Dermatitis (Neurodermitis)",
6.3. "Neurodermitis ist eine häufige Erkrankung im Kindesalter, aber auch Erwachsene können betroffen sein. I. ATOP eignet sich zur begleitenden Therapie bei allen Formen der Neurodermitis für Erwachsene und Kinder ab 1. Jahr",
6.4. (...) [Klage abgewiesen],
6.5. "(...) die besondere Eignung zur Behandlung der atopischen Dermatitis wurde in einer klinischen Studie mit 90 Kleinkindern bestätigt. Gerasimov et al: Am J Clin Dermatolgy 2010; 11(5); 351-361",
6.6. "die Kombination von Bifidobacterium lactis UABLA-12 und Lactobacillus acidophilus DDS-1 bewirkt, dass sich beide Stämme besser im Darm ansiedeln und vermehren und das Wachstum von Krankheitserregern reduzieren können",
7. das Mittel "I. SUD" zum Diätmanagement bei symbiotischer unkomplizierter Divertikelkrankheit in den Verkehr zu bringen und/oder zu vertreiben,
8. für das Mittel "I. SUD" wie folgt zu werben:
8.1. "Damit die symptomatische unkomplizierte Divertikelkrankheit nicht wieder erwacht",
8.2. "(...) I. l SUD eignet sich zum Diätmanagement bei symptomatischer unkomplizierter Divertikelkrankheit",
8.3. "I. SUD enthält einen spezifischen im menschlichen Darm vermehrungsfähigen Bakterienstamm zum Ausgleich der Dysbalance des Mikrobioms bei symptomatischer unkomplizierter Divertikelkrankheit. Die speziell für diesen besonderen Anwendungsbereich ausgewählte Bakterienkultur ist in angemessen hoher Dosierung enthalten, um das gastrointestinale Mikrobiom und damit auch die Symptome bei symptomatischer unkomplizierter Divertikelkrankheit positiv zu beeinflussen. Dies ist durch klinische Daten belegt.",
8.4. "Der in I. SUD enthaltene Bakterienstamm Lactobacillus casai DG (Lactobacillus paracasei CNCM I-1572), dessen Wirksamkeit bei symptomatischer unkomplizierter Divertikelkrankheit klinisch belegt ist, wurde aufgrund seiner spezifischen Eigenschaft ausgewählt (...)",
jeweils sofern dies geschieht wie in der Anlage K 3 wiedergegeben.
Außerdem hat das Landgericht die Beklagte antragsgemäß zur Erstattung der Abmahnkostenpauschale nebst Zinsen verurteilt. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben (OLG München, MD 2021, 923). Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.
Aus den Gründen
6 A. Das Berufungsgericht hat die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche in dem vom Landgericht zugesprochenen Umfang für begründet erachtet und dazu im Wesentlichen ausgeführt:
7 Das Inverkehrbringen und der Vertrieb der Produkte "zum Diätmanagement bei" Reizdarmsyndrom, Colitis UIcerosa, Pouchitis, atopischer Dermatitis und symptomatisch unkomplizierter Divertikelkrankheit sowie die Bewerbung der Produkte mit der Angabe "zum Diätmanagement bei ..." suggeriere dem angesprochenen Durchschnittsverbraucher, dass es sich um Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke handle, was tatsächlich jedoch nicht der Fall sei. Damit liege ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1, Art. 9 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 als Marktverhaltensregelungen sowie gegen das allgemeine Irreführungsverbot nach § 5 Abs. 1 UWG vor.
8 Dem Kläger stünden auch Ansprüche auf Unterlassung der weiteren Werbeangaben zu. Den Produkten seien unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 Eigenschaften der Behandlung oder Heilung einer Krankheit zugeschrieben worden. Ob die beanstandeten Werbeangaben mit Blick auf die jeweils behaupteten Wirkungen auch unter dem Gesichtspunkt der Irreführung unzulässig seien, insbesondere ob die beworbenen Wirkungen anhand der vorgelegten Unterlagen hinreichend belegt seien, sei nicht entscheidungserheblich.
9 B. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Die Klage ist zulässig. Der Kläger ist insbesondere gemäß § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG in der bis zum 1. Dezember 2021 geltenden Fassung (vgl. § 15a Abs. 1 UWG) klagebefugt. Die Klageanträge sind in der im Berufungsverfahren erweiterten Fassung (dazu B I) zulässig und sowohl hinsichtlich des Inverkehrbringens, des Vertriebs und der Bewerbung "zum Diätmanagement bei…" (dazu B II) als auch hinsichtlich der weiteren Werbeangaben (dazu B III) sowie hinsichtlich des Anspruchs auf Erstattung der Abmahnkostenpauschale nebst Zinsen (dazu B IV) begründet.
10 I. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Kläger seine Anträge in der Berufungsinstanz erweitert hat.
11 Das Landgericht hat bei den Unterlassungsanträgen Ziffer 2.2, 4.2, 6.2, 6.5, 8.2, 8.4 jeweils Teile der angegriffenen Angaben vom Tenor ausgenommen. Darin liegt entgegen der Annahme des Landgerichts keine Einschränkung, sondern eine sachliche Erweiterung der Verurteilung. Die Untersagung nur eines Teils einer Angabe geht über die Untersagung der Gesamtangabe hinaus, weil sie die Verwendung des Teils der Angabe auch in jeder anderen Kombination ausschließt (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2012 - I ZR 85/11, GRUR 2013, 833 [juris Rn. 27] = WRP 2013, 1038 - Culinaria/Villa Culinaria). Der darin liegende Verstoß gegen die Bindung an die Parteianträge nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO, der in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 2015 - I ZR 105/14, BGHZ 207, 71 [juris Rn. 63] - Goldbären, mwN), ist jedoch dadurch geheilt worden, dass der Kläger sein Klagebegehren im Berufungsverfahren entsprechend erweitert hat. Er hat die Zurückweisung der Berufung der Beklagten beantragt und sich damit den Urteilsausspruch des Landgerichts zu eigen gemacht (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2005 - VIII ZR 5/05, NJW 2006, 1062 [juris Rn. 11] mwN).
12 II. Dem Kläger stehen gegen die Beklagte Ansprüche auf Unterlassung des Inverkehrbringens und des Vertriebs sowie der Bewerbung der Produkte jeweils "zum Diätmanagement bei …" (Anträge Ziffer 1, 2.1, 2.2, 3, 4.2, 5, 6.1, 6.2, 7, 8.2) aus § 8 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1, § 5 UWG zu (dazu B II 1 bis 7). Die Ansprüche sind dagegen nicht aus § 8 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1, Art. 9 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 begründet (dazu B II 8).
13 1. Der auf Wiederholungsgefahr gestützte Unterlassungsanspruch ist nur begründet, wenn das beanstandete Verhalten sowohl nach dem zum Zeitpunkt seiner Vornahme geltenden Recht wettbewerbswidrig war als auch nach dem zur Zeit der Revisionsentscheidung geltenden Recht wettbewerbswidrig ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 26. Januar 2023 - I ZR 111/22, GRUR 2023, 585 [juris Rn. 53] = WRP 2023, 576 - Mitgliederstruktur).
14 Nach dem beanstandeten Vertrieb im Januar 2020 ist die lauterkeitsrechtliche Bestimmung des § 5 UWG durch das am 28. Mai 2022 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung des Verbraucherschutzes im Wettbewerbs- und Gewerberecht vom 10. August 2021 (BGBl. I S. 3504) geändert worden. Eine für den Streitfall maßgebliche Änderung der Rechtslage ergibt sich daraus nicht. Die bisherige Bestimmung des § 5 Abs. 1 UWG aF ist wortgleich mit § 5 Abs. 1 und 2 UWG nF. Der Änderung der Vorschrift des § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG mit Wirkung zum 1. Dezember 2021 durch das Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs vom 26. November 2020 (BGBl. I S. 2568) kommt im Streitfall wegen der Übergangsvorschrift des § 15a Abs. 1 UWG keine Relevanz zu.
15 2. Nach § 5 Abs. 1 UWG nF handelt unlauter, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt, die geeignet ist, den Verbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte. Eine geschäftliche Handlung ist gemäß § 5 Abs. 2 UWG nF irreführend, wenn sie unwahre Angaben oder sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über - nachfolgend aufgezählte - Umstände enthält; hierzu zählen gemäß Nr. 1 auch solche über wesentliche Merkmale der Ware oder Dienstleistung wie Art, Ausführung, Vorteile, Zusammensetzung, Zwecktauglichkeit, Verwendungsmöglichkeit, Beschaffenheit und von der Verwendung zu erwartende Ergebnisse.
16 3. Das Berufungsgericht hat angenommen, das Inverkehrbringen und der Vertrieb der streitgegenständlichen Produkte "zum Diätmanagement bei" Reizdarmsyndrom, Colitis Ulcerosa und Pouchitis, Neurodermitis bzw. symbiotischer unkomplizierter Divertikelkrankheit sowie deren Bewerbung mit der Angabe "zum Diätmanagement bei…" suggeriere dem angesprochenen Durchschnittsverbraucher, dass es sich bei den jeweiligen Produkten um Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 handle, was tatsächlich nicht der Fall sei.
17 Soweit der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung zu § 1 Abs. 4a Satz 2 der Verordnung über diätetische Lebensmittel (DiätV), der der Umsetzung des Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 1999/21/EG über diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke gedient hat, einen weiten Ernährungsbegriff zugrunde gelegt habe (vgl. BGH, Urteil vom 2. Oktober 2008 - I ZR 220/05, GRUR 2008, 1118 [juris Rn. 16] = WRP 2008, 1513 - MobilPlus-Kapseln; Urteil vom 4. Dezember 2008 - I ZR 100/06, GRUR 2009, 413 [juris Rn. 19] = WRP 2009, 300 - Erfokol-Kapseln; Urteil vom 30. November 2011 - I ZR 8/11, GRUR 2012, 734 [juris Rn. 8] = WRP 2012, 1099 - Glucosamin Naturell), könne dieser auf Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 nicht übertragen werden. Nach dieser Rechtsprechung sei ein Nährstoffbedarf auch dann medizinisch bedingt, wenn auf Grund von Beschwerden, Krankheiten oder Störungen sonstige besondere Ernährungserfordernisse bestünden, denen mit einer diesen Erfordernissen angepassten Nährstoffformulierung entsprochen werden könne, was bereits dann der Fall sei, wenn die Patienten aus der kontrollierten Aufnahme bestimmter Nährstoffe einen besonderen Nutzen ziehen könnten.
18 Nach Inkrafttreten der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 liege ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke dagegen nur vor, wenn es dazu diene, ein medizinisch bedingtes Nährstoffdefizit auszugleichen. Es reiche nicht aus, wenn die Nährstoffzufuhr auf andere Weise Erkrankungen entgegenwirke. Ein "sonstiger medizinisch bedingter Nährstoffbedarf" sei gegeben, wenn bestimmte Beschwerden, Krankheiten oder Störungen einen besonderen Nährstoffbedarf begründeten, also für einen veränderten Nährstoffbedarf kausal seien.
19 Bei den in Rede stehenden Krankheiten handle es sich nicht um solche, die ursächlich für eine Unterversorgung des Patienten mit Bakterienkulturen seien, die ihm mit den Produkten der Beklagten verabreicht würden. Vielmehr sollten dem Patienten mit den Produkten Darmbakterien mit dem Ziel zugeführt werden, die Krankheiten und Beschwerden therapeutisch zu behandeln. Jedenfalls enthielten die streitgegenständlichen Produkte keine Nährstoffe, wie dies Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 voraussetze.
20 Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
21 4. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung des Begriffs des Lebensmittels für besondere medizinische Zwecke im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 entspricht der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union.
22 a) Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 sind Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke unter ärztlicher Aufsicht zu verwendende Lebensmittel zum Diätmanagement von Patienten, einschließlich Säuglingen, die in spezieller Weise verarbeitet oder formuliert werden; sie sind zur ausschließlichen oder teilweisen Ernährung von Patienten mit eingeschränkter, behinderter oder gestörter Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechslung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel oder bestimmter darin enthaltener Nährstoffe oder Stoffwechselprodukte oder von Patienten mit einem sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf bestimmt, für deren Diätmanagement die Modifizierung der normalen Ernährung allein nicht ausreicht.
23 b) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind diese Vorschrift und insbesondere der Begriff des sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarfs dahin auszulegen, dass ein Erzeugnis ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke darstellt, wenn krankheitsbedingt ein erhöhter oder spezifischer Nährstoffbedarf besteht, der durch das Lebensmittel gedeckt werden soll. Für eine solche Einstufung reicht es nicht aus, dass der Patient allgemein aus der Aufnahme dieses Lebensmittels deswegen Nutzen zieht, weil darin enthaltene Stoffe der Störung entgegenwirken oder deren Symptome lindern (EuGH, Urteil vom 27. Oktober 2022 - C-418/21, GRUR 2022, 1765 [juris Rn. 59] = WRP 2022, 1484 - Orthomol).
24 Die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 zuerst in Betracht gezogene Fallgestaltung betrifft die Kategorien von Patienten, deren Aufnahme- oder Resorptionsprozess oder Stoffwechsel gestört ist. Die in dieser Bestimmung genannte zweite Fallgestaltung betrifft Patienten, die sich in einer besonderen physiologischen Verfassung befinden und folglich in Bezug auf die Zusammensetzung, Beschaffenheit oder Form von Lebensmitteln spezifische Bedürfnisse haben (vgl. EuGH, GRUR 2022, 1765 [juris Rn. 33] - Orthomol).
25 Das Erfordernis, dass das Lebensmittel hinsichtlich seiner Zusammensetzung, seiner Beschaffenheit oder seiner Form für die Ernährungsanforderungen angemessen ist, die durch eine Krankheit, eine Störung oder Beschwerden bedingt sind und denen es gerecht werden soll, schließt es aus, ein Erzeugnis allein deshalb als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke einzustufen, weil die Nährstoffe, aus denen es besteht, positive Auswirkungen in dem Sinne haben, dass sie dem Patienten allgemein einen Nutzen verschaffen und dazu beitragen, dessen Krankheit, Störung oder Beschwerden vorzubeugen, sie zu lindern oder sie zu heilen. Das Angemessenheitserfordernis veranschaulicht den spezifischen Charakter der Ernährungsfunktion der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. So kann ein Erzeugnis, das dem Patienten zwar allgemein einen Nutzen verschafft oder durch Nährstoffzufuhr einer Krankheit, einer Störung oder Beschwerden entgegenwirkt, aber keine solche Ernährungsfunktion hat, nicht als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke eingestuft werden (vgl. EuGH, GRUR 2022, 1765 [juris Rn. 34 und 36] - Orthomol).
26 c) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat außerdem entschieden, dass der Begriff der Nährstoffe, an denen krankheitsbedingt ein erhöhter oder spezifischer Bedarf besteht, der durch das Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke gedeckt werden soll, in der Verordnung nicht definiert ist. Maßgeblich ist die Nährstoffdefinition der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel (LMIV). Denn sowohl Erwägungsgrund 24 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 als auch Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 2016/128 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 im Hinblick auf die besonderen Zusammensetzungs- und Informationsanforderungen für Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke knüpfen hieran an (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2023 - C-760/21, GRUR 2023, 656 [juris Rn. 60 bis 62] = WRP 2023, 557 - Kwizda Pharma). Nach dem damit maßgeblichen Art. 2 Abs. 2 Buchst. s LMIV sind Nährstoffe Eiweiße, Kohlenhydrate, Fett, Ballaststoffe, Natrium, Vitamine und Mineralstoffe, die in Anhang XIII Teil A Nr. 1 der Verordnung aufgeführt sind, sowie Stoffe, die zu einer dieser Klassen gehören oder Bestandteil einer dieser Klassen sind (vgl. auch die - gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV nicht bindende - Bekanntmachung der Kommission über die Einordnung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke, ABl. C 401 vom 25. November 2017, S. 1, 10 f.; Kügel, ZLR 2023, 384, 391).
27 5. Danach handelt es sich unter Zugrundelegung der Feststellungen des Berufungsgerichts bei den streitgegenständlichen Produkten nicht um Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013.
28 a) Die von der Beklagten vertriebenen Produkte bestehen nicht - wie erforderlich - (auch) aus Nährstoffen im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. s LMIV.
29 aa) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts enthalten die Produkte der Beklagten Bakterien, die in natürlicher Weise im menschlichen Darm vorkommen. Bakterien sind keine Nährstoffe im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Buchst. s LMIV. Die Revision stützt sich insofern auch lediglich darauf, dass die Produkte zwar selbst keine Nährstoffe seien oder enthielten, aber ein Mittel zur Selbsthilfe darstellten, indem sie einen krankheitsbedingten Verlust an körpereigenen Darmbakterien ausglichen, um die Fähigkeit der erkrankten Personen zu fördern, ihren Nährstoffbedarf aus eigener Kraft aus gewöhnlichen Lebensmitteln zu decken. Ein solcher Nutzen der enthaltenen Stoffe genügt jedoch nicht dem Begriff "Nährstoff" im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. s LMIV.
30 bb) Die Revision kann auch nicht mit Erfolg geltend machen, aus der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 ergebe sich nicht, dass ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke selbst ein Nährstoff sein oder Nährstoffe enthalten müsse.
31 (1) Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinn von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 dienen der - ausschließlichen oder teilweisen - Ernährung von Patienten, die einen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf haben. Sie zeichnen sich durch ihre spezifische Ernährungsfunktion aus (vgl. EuGH, GRUR 2022, 1765 [juris Rn. 36 und 40] - Orthomol; Rützler in Streinz/Kraus, LebensmittelR-HdB, 45. Lieferung Juli 2023, II. Grundlagen des Lebensmittelrechts Rn. 51c), was auf stofflicher Ebene das Vorhandensein von Nährstoffen erfordert (vgl. auch Meisterernst, ZLR 2023, 69, 75 f.).
32 (2) Soweit die Revision die Auffassung vertritt, es handle sich bei den streitgegenständlichen Produkten jedenfalls um Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne der ersten Variante der Vorschrift, hat sie damit keinen Erfolg. Die dargestellten Anforderungen an ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke gelten nicht nur für die zweite in der Vorschrift genannte Fallgestaltung - Ernährung von Patienten mit einem sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf -, sondern auch für den ersten Fall - Ernährung von Patienten mit eingeschränkter, behinderter oder gestörter Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechslung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel oder bestimmter darin enthaltener Nährstoffe oder Stoffwechselprodukte. Die Antwort des Gerichtshofs der Europäischen Union auf die Vorlagefrage nimmt zwar insbesondere Bezug auf den Begriff des sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarfs, sie beschränkt sich darauf jedoch nicht. Vielmehr differenziert der Gerichtshof der Europäischen Union nach einer Darstellung der beiden Fallgestaltungen des Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 (vgl. EuGH, GRUR 2022, 1765 [juris Rn. 33] - Orthomol) nicht mehr zwischen diesen, sondern spricht allgemein von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke. Die spezifische Ernährungsfunktion und das damit zusammenhängende Nährstofferfordernis gelten danach für den Begriff des Lebensmittels für besondere medizinische Zwecke im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 insgesamt. Dementsprechend geht auch der Gerichtshof der Europäischen Union davon aus, dass Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke aus Nährstoffen bestehen (vgl. EuGH, GRUR 2022, 1765 [juris Rn. 34] - Orthomol). Für die einheitliche Behandlung spricht zudem, dass bei der zweiten Fallgestaltung - unter Bezugnahme auf die erste Fallgestaltung - von einem "sonstigen" medizinisch bedingten Nährstoffbedarf die Rede ist (zur zweiten Fallgestaltung als Auffangtatbestand vgl. auch Meisterernst, ZLR 2023, 69, 76).
33 cc) Dieser Auslegung entspricht die Regelung des Art. 2 Abs. 1 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 2016/128, die Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke in drei Kategorien mit jeweils einer bestimmten Nährstoffformulierung unterteilt. Auch aus der Bekanntmachung der Kommission über die Einordnung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke (ABl. C 401 vom 25. November 2017, S. 1, 10) geht hervor, dass es bei dieser Kategorie von Lebensmitteln um die Versorgung des Patienten mit Nährstoffen geht (vgl. auch Kügel, ZLR 2023, 384, 391).
34 dd) Der Verweis der Revision auf Art. 15 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 führt zu keinem anderen Ergebnis.
35 (1) Nach Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 dürfen Stoffe der Kategorien Vitamine, Mineralstoffe, Aminosäuren, Carnitin und Taurin, Nucleotide und Cholin und Inositol einer oder mehreren der in Art. 1 Abs. 1 genannten Kategorien von Lebensmitteln - unter anderem Lebensmittel für bestimmte medizinische Zwecke (Art. 1 Abs. 1 Buchst. c) - zugesetzt werden, sofern sie in der im Anhang enthaltenen Unionsliste aufgeführt sind und mit den Angaben in dieser Liste gemäß Absatz 3 übereinstimmen. Gemäß Art. 15 Abs. 7 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 dürfen Stoffe, die keiner der in Absatz 1 dieses Artikels genannten Kategorien zugehören, den in Art. 1 Abs. 1 genannten Lebensmitteln zugesetzt werden, sofern sie die allgemeinen Anforderungen der Art. 6 und 9 und gegebenenfalls die gemäß Art. 11 festgelegten besonderen Anforderungen erfüllen.
36 (2) Damit wird entgegen der Auffassung der Revision nicht der vom Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache "Kwizda Pharma" (GRUR 2023, 656 [juris Rn. 66]) unter Verweis auf die Lebensmittelinformationsverordnung definierte Begriff "Nährstoff" für die Auslegung des Art. 2 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 erweitert. Vielmehr bestimmt Art. 15 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 lediglich, welche Stoffe einem Lebensmittel zugesetzt werden dürfen, das für sich genommen einer Lebensmittelkategorie gemäß Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 unterfällt. Zwischen den Stoffen, die zugesetzt werden dürfen, einerseits und dem Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. c, Art. 2 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 andererseits, das aus Nährstoffen besteht (vgl. EuGH, GRUR 2022, 1765 [juris Rn. 34] - Orthomol), muss differenziert werden. Das spiegelt sich auch in Erwägungsgrund 36 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 wider, wonach die Unionsliste lediglich dazu bestimmt ist wiederzugeben, welche Stoffe einer bestimmten Stoffkategorie als Zusatz für eine oder mehrere unter diese Verordnung fallende Lebensmittelkategorie zugelassen sind, während die besonderen Zusammensetzungsanforderungen dazu dienen sollen, die Zusammensetzung jeder einzelnen unter diese Verordnung fallenden Lebensmittelkategorie festzulegen.
37 b) Danach kann die Frage offenbleiben, ob die streitgegenständlichen Produkte der Beklagten - unabhängig davon, ob sie Nährstoffe enthalten - (auch) deswegen keine Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke sind, weil sie keinen erhöhten oder spezifischen durch die in Rede stehenden Krankheiten verursachten Bedarf an den in den Produkten enthaltenen Bakterienkulturen im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union decken. Insbesondere bedarf es weder einer Entscheidung darüber, ob das Berufungsgericht Vortrag der Beklagten zu einer "Unterversorgung" der Patienten mit den entsprechenden Bakterienkulturen aufgrund der jeweiligen Erkrankung übergangen hat, noch muss der Beklagten mit Blick auf die Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union in der "Orthomol"-Entscheidung (GRUR 2022, 1765) Gelegenheit für weiteren Vortrag gegeben werden.
38 6. Die Annahme des Berufungsgerichts, eine Irreführung liege darin, dass die angegriffenen Angaben den angesprochenen Verkehrskreisen suggerierten, es handle sich bei den Produkten um Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 609/2013, was tatsächlich jedoch nicht der Fall sei, hält der - eingeschränkten - revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.
39 a) Eine Irreführung liegt vor, wenn das Verständnis, das eine Angabe bei den Verkehrskreisen erweckt, an die sie sich richtet, mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht übereinstimmt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 7. April 2022 - I ZR 217/20, GRUR 2022, 844 [juris Rn. 12] = WRP 2022, 715 - Kinderzahnarztpraxis, mwN). Eine Irreführung über wesentliche Merkmale einer Ware im Sinne von § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG nF liegt nicht nur vor, wenn einer Ware konkrete, im Einzelnen benannte Eigenschaften zugewiesen werden, die sie tatsächlich nicht aufweist. Zu den wesentlichen Merkmalen einer Ware gehört auch ihre Art und damit ihre Zugehörigkeit zu einer Produktkategorie, die sich nach der Verkehrsauffassung von anderen Kategorien unterscheidet. Die Art eines Produkts bezeichnet seine Gattung und damit einen Oberbegriff für Produkte, die nach der Verkehrsauffassung in wesentlichen Merkmalen übereinstimmen. Der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Produktkategorie kann der Verbraucher auch ohne nähere Angaben zu konkreten Eigenschaften erste Informationen darüber entnehmen, welchen konkreten Bedarf dieses Produkt befriedigt. Die Angabe über die Art ist irreführend, wenn für die beworbene Ware oder Dienstleistung zu Unrecht die Zugehörigkeit zu einer Gattung in Anspruch genommen wird, mit der der Verkehr eine wie auch immer geartete Wertschätzung oder besondere Eigenschaften verbindet (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2018 - I ZR 157/16, GRUR 2018, 1263 [juris Rn. 20 f.] = WRP 2018, 1458 - Vollsynthetisches Motorenöl, mwN; zur Irreführung bei der Bezeichnung eines Mittels als bilanzierte Diät, ohne dass dieses Mittel die Voraussetzungen eines diätetischen Lebensmittels für besondere medizinische Zwecke erfüllt, vgl. bereits BGH, GRUR 2008, 1118 [juris Rn. 15] - MobilPlus-Kapseln).
40 b) Die Ermittlung der Verkehrsauffassung unterliegt nur einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfung dahingehend, ob das Berufungsgericht den Tatsachenstoff verfahrensfehlerfrei ausgeschöpft hat und die Beurteilung mit den Denkgesetzen und den allgemeinen Erfahrungssätzen in Einklang steht. Da es sich nicht um eine Tatsachenfeststellung im eigentlichen Sinne, sondern um die Anwendung spezifischen Erfahrungswissens handelt, kann ein Rechtsfehler auch darin bestehen, dass die festgestellte Verkehrsauffassung erfahrungswidrig ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, GRUR 2022, 844 [juris Rn. 19] - Kinderzahnarztpraxis).
41 c) Nach diesen Grundsätzen hält die Beurteilung des Berufungsgerichts der rechtlichen Nachprüfung stand. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass es Tatsachenstoff nicht verfahrensfehlerfrei ausgeschöpft, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hätte oder die festgestellte Verkehrsauffassung erfahrungswidrig wäre. Insbesondere ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht auf das Verständnis eines Durchschnittsverbrauchers abgestellt hat. Zwar richten sich die streitgegenständlichen Produkte nicht an den allgemeinen Verbraucher herkömmlicher Lebensmittel, sondern hauptsächlich an Personen, die unter den angesprochenen Krankheiten leiden oder dies jedenfalls in Betracht ziehen. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass diese Personen ein vom Verständnis des Durchschnittsverbrauchers abweichendes Verständnis von den angegriffenen Angaben gewinnen. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob die Patienten aus den angegriffenen Angaben eine Eigenschaft zur Linderung oder Heilung der jeweiligen Krankheit ableiten - worauf die Revision abstellt -, sondern darauf, ob die "zum Diätmanagement" bei bestimmten Erkrankungen angebotenen streitgegenständlichen Produkte als zur Kategorie der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zugehörig verstanden werden. Von einem solchen Verständnis ist nicht nur beim Durchschnittsverbraucher, sondern gerade auch bei betroffenen Patienten auszugehen, die mit dem Begriff des "Diätmanagements" vertraut sind, mit dem gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. e der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 2016/128 Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zu kennzeichnen sind.
42 7. Zu Recht und von der Revision nicht angegriffen hat das Berufungsgericht angenommen, die irreführende Angabe sei geeignet, den Verbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte (§ 5 Abs. 1 UWG nF).
43 8. Soweit das Berufungsgericht vorrangig von einem Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013, wonach die unter die Verordnung fallenden Lebensmittel nur in Verkehr gebracht werden dürfen, wenn sie der Verordnung genügen, und gegen das Irreführungsverbot aus Art. 9 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 ausgegangen ist, steht dem entgegen, dass die Produkte der Beklagten objektiv nicht unter diese Verordnung fallen. Der Umstand, dass bei Verbraucherinnen und Verbrauchern durch den Hinweis "zum Diätmanagement bei…" der Eindruck entstehen kann, es handle sich um Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, begründet - wie dargestellt - eine Irreführung, eröffnet aber nicht den Anwendungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 609/2013.
44 III. Dem Kläger stehen gegen die Beklagte auch Ansprüche auf Unterlassung der weiteren Werbeangaben zu (Anträge Ziffer 2.3, 2.5, 4.3, 6.3, 6.5, 6.6, 8.1, 8.3, 8.4).
45 1. Allerdings ergeben sich diese Ansprüche entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht aus § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 2, §§ 3, 3a UWG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013. Danach dürfen Kennzeichnung und Aufmachung der in Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 genannten Lebensmittel sowie die Werbung dafür unter anderem weder irreführend sein noch diesen Erzeugnissen Eigenschaften der Vorbeugung, Behandlung oder Heilung einer menschlichen Krankheit zuschreiben oder den Eindruck dieser Eigenschaft erwecken. Diese Vorschrift findet im Streitfall keine Anwendung, weil die Produkte der Beklagten keine Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 sind und damit nicht unter diese Verordnung fallen.
46 2. Mit Recht hat das Berufungsgericht die Ansprüche aber im Wege der Hilfsbegründung aus § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 2, §§ 3, 3a UWG in Verbindung mit § 11 Abs. 1 Nr. 2 LFGB, Art. 7 Abs. 3 und 4 LMIV für begründet erachtet.
47 a) Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 LFGB darf der nach Art. 8 Abs. 1 LMIV verantwortliche Lebensmittelunternehmer für Lebensmittel nicht mit Informationen werben, die den Anforderungen des Art. 7 Abs. 3 und 4 LMIV nicht entsprechen. Die Vorschrift des § 11 Abs. 1 LFGB bildet den wesentlichen Anknüpfungspunkt für die sich daran anschließenden Straf- und Bußgeldvorschriften. Wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche werden dagegen direkt über § 3a UWG in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 und 4 LMIV begründet (vgl. Meisterernst in Streinz/Meisterernst, BasisVO/LFGB, § 11 LFGB Rn. 3; vgl. auch Regierungsentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes, BT-Drucks. 18/3064, S. 6 f.).
48 Art. 7 Abs. 3 LMIV sieht vor, dass, vorbehaltlich der in den Unionsvorschriften über natürliche Mineralwässer und über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind, vorgesehenen Ausnahmen, Informationen über ein Lebensmittel diesem keine Eigenschaften der Vorbeugung, Behandlung oder Heilung einer menschlichen Krankheit zuschreiben oder den Eindruck dieser Eigenschaften entstehen lassen dürfen. Nach Art. 7 Abs. 4 Buchst. a LMIV gilt dies auch für die Werbung.
49 b) Das Berufungsgericht ist mit Recht von der Anwendbarkeit des Art. 7 Abs. 3 und 4 LMIV ausgegangen.
50 aa) Lebensmittel sind gemäß Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden. Dazu gehören auch die von der Beklagten angebotenen Produkte.
51 bb) Die in Art. 7 Abs. 3 LMIV vorgesehene Ausnahme für Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind, worunter Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke fallen (vgl. Grube in Voit/Grube, LMIV, 2. Aufl., Art. 7 Rn. 301 und 303 bis 305; Rathke in Sosnitza/Meisterernst, Lebensmittelrecht, 186. Lieferung März 2023, Art. 7 LMIV Rn. 414), ist nicht einschlägig, weil es sich bei den streitgegenständlichen Produkten nicht um solche Lebensmittel handelt.
52 cc) Die Revision kann sich für die Zulässigkeit der Angaben auch nicht auf die Vorschriften der Diätverordnung stützen.
53 (1) Die Diätverordnung wurde in ihrem Geltungsbereich für Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke vollständig von der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 abgelöst. Die Regelungen der - mittlerweile nach Art. 6 der Verordnung zur Neuordnung des Rechts über bestimmte Lebensmittel vom 26. April 2023 (BGBl. I Nr. 115) außer Kraft getretenen - Diätverordnung dienten unter anderem der Umsetzung der Richtlinie 1999/21/EG, gegenüber der die Verordnung (EU) Nr. 609/2013 gemäß ihrem Art. 20 Abs. 4 Unterabsatz 2 schon vor der Aufhebung der Richtlinie 1999/21/EG Anwendungsvorrang hatte, sowie der Richtlinie 2009/39/EG über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind, die gemäß Art. 20 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 mit Wirkung zum 20. Juli 2016 aufgehoben wurde. Die Definitionen der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 waren deshalb schon seit Geltung dieser Verordnung ab dem 20. Juli 2016 (vgl. Art. 22 der Verordnung [EU] Nr. 609/2013) auch für die Anwendung der Diätverordnung verbindlich (vgl. Rathke in Sosnitza/Meisterernst aaO § 1 DiätV Rn. 8). Danach war die Diätverordnung entgegen der Ansicht der Revision seit dem 20. Juli 2016 auch nicht mehr anwendbar, soweit ihr nach der Rechtsprechung des Senats ein weiterer Begriff der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zugrunde lag als der Verordnung (EU) Nr. 609/2013. Ausweislich der Erwägungsgründe 9 und 10 der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 sollte gerade eine Vereinheitlichung der Rechtsanwendung in den Mitgliedsstaaten hergestellt werden. Dem widerspräche ein Rückgriff auf die weiter gefasste ältere nationale Regelung.
54 (2) Die von der Revision angeführte Kommentierung (Rathke in Sosnitza/Meisterernst aaO Vorbem. zur DiätV Rn. 13) trägt ihre Auffassung nicht. Soweit es dort heißt, dass nicht von der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 erfasste Lebensmittel, die die begrifflichen Anforderungen des § 1 Abs. 2 DiätV erfüllen, nach wie vor den Vorschriften der Diätverordnung unterliegen, betraf dies bis zum Außerkrafttreten der Diätverordnung allein nicht in der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 definierte und von dieser Verordnung nicht erfasste Lebensmittel, insbesondere Milchgetränke und gleichartige Erzeugnisse für Kleinkinder, Mahlzeiten für kalorienarme Ernährung, Lebensmittel für intensive Muskelanstrengungen, insbesondere für Sportler sowie Lebensmittel für Senioren (vgl. Rathke in Sosnitza/Meisterernst aaO Vorbem. zur DiätV Rn. 13 und § 1 DiätV Rn. 9; Rützler in Streinz/Kraus, LebensmittelR-HdB aaO II. Grundlagen des Lebensmittelrechts Rn. 51). Die Beklagte macht nicht geltend und es ist auch nicht ersichtlich, dass die von ihr vertriebenen Produkte zu diesen Lebensmitteln zählen.
55 (3) Im Übrigen wäre nach § 3 Abs. 1 DiätV das Verbot der krankheitsbezogenen Werbung des Art. 7 Abs. 3 und 4 LMIV auch anwendbar gewesen, wenn die Produkte als diätetische Lebensmittel in den Anwendungsbereich der Diätverordnung gefallen wären. Nach § 3 Abs. 1 DiätV galten die Verbote des § 12 Abs. 1 Nr. 1 und 7 LFBG auch für diätetische Lebensmittel, soweit nicht nach Absatz 2 - wie hier nicht - zulässige Aussagen verwendet wurden. Gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 1 und 7 LFGB in der bis zum 12. Dezember 2014 gültigen Fassung waren im Verkehr mit Lebensmitteln sowie in der Werbung Aussagen, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen sowie Schriften oder schriftliche Angaben, die dazu anleiten, Krankheiten mit Lebensmitteln zu behandeln, verboten. Nach der Aufhebung des § 12 LFGB durch Gesetz vom 5. Dezember 2014 (BGBl. I S. 1975) unterlagen diätetische Lebensmittel dem vom Berufungsgericht im Streitfall herangezogenen Verbot krankheitsbezogener Informationen des § 11 Abs. 1 Nr. 2 LFGB in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 und 4 LMIV (vgl. Rathke in Sosnitza/Meisterernst aaO § 3 DiätV Rn. 6 f.).
56 c) Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler und von der Revision nicht angegriffen festgestellt, dass es sich bei den mit den Anträgen Ziffer 2.3, 2.5, 4.3, 6.3, 6.5, 6.6, 8.1, 8.3, 8.4 angegriffenen Angaben entgegen Art. 7 Abs. 3 und 4 LMIV um Zuschreibungen von Eigenschaften einer Behandlung einer menschlichen Krankheit handelt, mit denen die Beklagte wirbt. Auf eine Irreführung kommt es insoweit nicht an.
57 d) Das Verbot der krankheitsbezogenen Information und Werbung gemäß Art. 7 Abs. 3 und 4 LMIV stellt eine Marktverhaltensregelung dar, die dem Schutz der Verbraucher dient (vgl. OLG Hamburg, LMuR 2021, 42 [juris Rn. 30]; KG, MD 2023, 35 [juris Rn. 54]; zu § 12 Abs. 1 Nr. 1 LFGB aF vgl. BGH, GRUR 2008, 1118 [juris Rn. 25] - MobilPlus-Kapseln). Ihre Missachtung ist geeignet, den Wettbewerb zum Nachteil von Verbrauchern im Sinne von § 3a UWG spürbar zu beeinträchtigen.
58 IV. Das Berufungsgericht hat dem Kläger danach auch zu Recht einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung der Abmahnkostenpauschale gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 UWG in der bis zum 1. Dezember 2020 geltenden Fassung nebst Zinsen zugesprochen (zum zeitlich maßgeblichen Recht vgl. BGH, Urteil vom 7. April 2022 - I ZR 143/19, BGHZ 233, 193 [juris Rn. 54] - Knuspermüsli II, mwN; vgl. auch § 15a Abs. 2 UWG).
59 V. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - 283/81, Slg. 1982, 3415 [juris Rn. 21] = NJW 1983, 1257 - Cilfit u.a.; Urteil vom 1. Oktober 2015 - C-452/14, GRUR Int. 2015, 1152 [juris Rn. 43] - Doc Generici; Urteil vom 6. Oktober 2021 - C-561/19, NJW 2021, 3303 [juris Rn. 32 f.] - Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi). Die Frage, welche Anforderungen an Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 zu stellen sind, ist durch die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Rechtssachen "Orthomol" (GRUR 2022, 1765) und "Kwizda Pharma" (GRUR 2023, 656) geklärt.
60 C. Danach ist die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.