EuGH: Auslegung des Begriffs „Verkauf von Waren“ in der Handelsvertreter-Richtlinie
EuGH, Urteil vom 16.9.2021 – C‑410/19, The Software Incubator Ltd gegen Computer Associates (UK) Ltd
ECLI:EU:C:2021:742
Volltext: BB-Online BBL2021-2387-1
Tenor
Der Begriff „Verkauf von Waren“ in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter ist dahin auszulegen, dass er die elektronische Lieferung eines Computerprogramms an einen Kunden gegen Bezahlung einschließen kann, wenn diese Lieferung durch die Erteilung einer unbefristeten Lizenz zur Nutzung des Programms ergänzt wird.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. 1986, L 382, S. 17).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der The Software Incubator Ltd und der Computer Associates (UK) Ltd (im Folgenden: Computer Associates) über die Zahlung von Schadensersatz wegen der Beendigung des zwischen diesen beiden Unternehmen bestehenden Vertrags.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Austrittsabkommen
3 Mit seinem Beschluss (EU) 2020/135 vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 1, im Folgenden: Austrittsabkommen) hat der Rat der Europäischen Union das Austrittsabkommen im Namen der Union und der Europäischen Atomgemeinschaft genehmigt. Das Abkommen ist dem Beschluss beigefügt.
4 Art. 86 („Vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängige Rechtssachen“) des Austrittsabkommens sieht in den Abs. 2 und 3 vor:
„(2) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt werden.
(3) Für die Zwecke dieses Kapitels gilt ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Zeitpunkt als eingeleitet und ein Vorabentscheidungsersuchen zu dem Zeitpunkt als vorgelegt, zu dem die Unterlagen zur Einleitung des Verfahrens von der Kanzlei des Gerichtshofs … registriert wurden.“
5 Nach Art. 126 des Austrittsabkommens hat der Übergangszeitraum am Tag des Inkrafttretens des Abkommens begonnen und am 31. Dezember 2020 geendet.
Richtlinie 86/653
6 In den Erwägungsgründen 2 und 3 der Richtlinie 86/653 heißt es:
„Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen beeinflussen die Wettbewerbsbedingungen und die Berufsausübung innerhalb der [Europäischen Union] spürbar und beeinträchtigen den Umfang des Schutzes der Handelsvertreter in ihren Beziehungen zu ihren Unternehmen sowie die Sicherheit im Handelsverkehr. Diese Unterschiede erschweren im Übrigen auch erheblich den Abschluss und die Durchführung von Handelsvertreterverträgen zwischen einem Unternehmer und einem Handelsvertreter, die in verschiedenen Mitgliedstaaten niedergelassen sind.
Der Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten muss unter Bedingungen erfolgen, die denen eines Binnenmarktes entsprechen, weswegen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in dem zum guten Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlichen Umfang angeglichen werden müssen. Selbst vereinheitlichte Kollisionsnormen auf dem Gebiet der Handelsvertretung können die erwähnten Nachteile nicht beseitigen und lassen daher einen Verzicht auf die vorgeschlagene Harmonisierung nicht zu.“
7 Art. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Die durch diese Richtlinie vorgeschriebenen Harmonisierungsmaßnahmen gelten für die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Rechtsbeziehungen zwischen Handelsvertretern und ihren Unternehmern regeln.
(2) Handelsvertreter im Sinne dieser Richtlinie ist, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für eine andere Person (im folgenden Unternehmer genannt) den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen.
(3) Handelsvertreter im Sinne dieser Richtlinie ist insbesondere nicht
– eine Person, die als Organ befugt ist, für eine Gesellschaft oder Vereinigung verbindlich zu handeln;
– ein Gesellschafter, der rechtlich befugt ist, für die anderen Gesellschafter verbindlich zu handeln;
– ein Zwangsverwalter (receiver), ein gerichtlich bestellter Vermögensverwalter (receiver and manager), ein Liquidator (liquidator) oder ein Konkursverwalter (trustee in bankruptcy).“
8 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie ist nicht anzuwenden
– auf Handelsvertreter, die für ihre Tätigkeit kein Entgelt erhalten;
– auf Handelsvertreter, soweit sie an Handelsbörsen oder auf Rohstoffmärkten tätig sind;
– auf die unter der Bezeichnung ‚Crown Agents for Overseas Governments and Administrations‘ bekannte Körperschaft, wie sie im Vereinigten Königreich nach dem Gesetz von 1979 über die ‚Crown Agents‘ eingeführt worden ist, oder deren Tochterunternehmen.“
9 Art. 3 der Richtlinie lautet:
„(1) Bei der Ausübung seiner Tätigkeit hat der Handelsvertreter die Interessen des Unternehmers wahrzunehmen und sich nach den Geboten von Treu und Glauben zu verhalten.
(2) Im besonderen muss der Handelsvertreter
a) sich in angemessener Weise für die Vermittlung und gegebenenfalls den Abschluss der ihm anvertrauten Geschäfte einsetzen;
b) dem Unternehmer die erforderlichen ihm zur Verfügung stehenden Informationen übermitteln;
c) den vom Unternehmer erteilten angemessenen Weisungen nachkommen.“
10 Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 sieht vor:
„Insbesondere hat der Unternehmer dem Handelsvertreter
a) die erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die sich auf die betreffenden Waren beziehen;
b) die für die Ausführung des Handelsvertretervertrages erforderlichen Informationen zu geben und ihn insbesondere binnen angemessener Frist zu benachrichtigen, sobald er absieht, dass der Umfang der Geschäfte erheblich geringer sein wird, als der Handelsvertreter normalerweise hätte erwarten können.“
11 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Bei Fehlen einer diesbezüglichen Vereinbarung zwischen den Parteien und unbeschadet der Anwendung der verbindlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Höhe der Vergütungen hat der Handelsvertreter Anspruch auf eine Vergütung, die an dem Ort, an dem er seine Tätigkeit ausübt, für die Vertretung von Waren, die den Gegenstand des Handelsvertretervertrags bilden, üblich ist. Mangels einer solchen Üblichkeit hat der Handelsvertreter Anspruch auf eine angemessene Vergütung, bei der alle mit dem Geschäft zusammenhängenden Faktoren berücksichtigt sind.“
Recht des Vereinigten Königreichs
12 Die Richtlinie 86/653 wurde durch die Commercial Agents (Council Directive) Regulations 1993 (Statutory Instruments 1993/3053) (Regelungen zur Umsetzung einer Richtlinie des Rates über die Handelsvertreter [Rechtsverordnungen 1993/3053]) in das Recht des Vereinigten Königreichs umgesetzt. Art. 2 Abs. 1 dieser Rechtsverordnung bestimmt:
„Im Sinne dieser Rechtsverordnung
bezeichnet ‚Handelsvertreter‘ einen selbständigen Gewerbetreibenden, der ständig damit betraut ist, für eine andere Person (den ‚Unternehmer‘) den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen …“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
13 Bei Computer Associates handelt es sich um ein Unternehmen, das eine Software zur Automatisierung des Betriebs von Anwendungen für den übergreifenden Einsatz und die übergreifende Verwaltung von Anwendungen im Datenzentrum (im Folgenden: in Rede stehende Software) vermarktet. Der Zweck der Software besteht darin, den übergreifenden Einsatz und die übergreifende Aktualisierung anderer Softwareanwendungen in den verschiedenen Betriebsumgebungen großer Organisationen wie Banken und Versicherungsgesellschaften automatisch zu koordinieren und installieren, so dass die zugrunde liegenden Anwendungen vollständig in die Software-Betriebsumgebung integriert sind.
14 Computer Associates erteilte ihren Kunden für die in Rede stehende Software in einem bestimmten Gebiet und für eine genehmigte Anzahl von Endnutzern elektronisch Nutzungslizenzen.
15 Die Erteilung der Lizenz war mit bestimmten Bedingungen verbunden, wonach den Kunden u. a. untersagt war, auf nicht zugelassene Teile der Software zuzugreifen, sie zu dekompilieren oder zu modifizieren, sie zu vermieten, abzutreten, zu übertragen oder eine Unterlizenz zu erteilen.
16 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts konnte die Nutzungslizenz für die in Rede stehende Software entweder befristet oder unbefristet erteilt werden. Bei Kündigung des Vertrags wegen eines schwerwiegenden Verstoßes durch die andere Partei oder ihrer Insolvenz war das Programm an Computer Associates zurückzugeben oder vom Kunden zu löschen bzw. zu vernichten. In der Praxis waren die meisten Lizenzen unbefristet. Computer Associates behielt insoweit alle Rechte, u. a. Urheberrechte, Eigentum, Patente, Markenrechte und alle anderen Eigentümerrechte an der Software.
17 Am 25. März 2013 schloss Computer Associates einen Vertrag mit The Software Incubator. Gemäß Klausel 2.1 des Vertrags sprach Letztere für Computer Associates potenzielle Kunden im Vereinigten Königreich und Irland an, um „[die in Rede stehende Software] zu fördern, zu bewerben und zu verkaufen“. Nach dem Vertrag beschränkten sich die Verpflichtungen von The Software Incubator auf Werbung und Vertrieb der Software. The Software Incubator war nicht befugt, das Eigentum an der Software zu übertragen.
18 Mit Schreiben vom 9. Oktober 2013 kündigte Computer Associates den Vertrag mit The Software Incubator.
19 The Software Incubator erhob auf Grundlage der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 86/653 beim High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench, Vereinigtes Königreich) gegen Computer Associates Klage auf Schadensersatz. Computer Associates wandte sich gegen die Einstufung ihrer Beziehung mit The Software Incubator als Handelsvertretervertrag, weil die elektronische Lieferung eines Computerprogramms an einen Kunden in Verbindung mit der Erteilung einer unbefristeten Lizenz für die Nutzung des Programms keinen „Verkauf von Waren“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie darstelle.
20 Mit Urteil vom 1. Juli 2016 gab der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench) der Klage von The Software Incubator statt und sprach dem Unternehmen 475 000 Pfund Sterling (GBP) (ungefähr 531 000 Euro) als Schadensersatz zu. Das Gericht war der Auffassung, dass der „Verkauf von Waren“ im Sinne der Rechtsverordnungen 1993/3053 autonom zu definieren sei und die Lieferung eines Programms einschließen müsse.
21 Computer Associates legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Rechtsmittelgericht [England und Wales] [Abteilung für Zivilsachen], Vereinigtes Königreich) ein. Mit Urteil vom 19. März 2018 entschied dieses Gericht, dass ein elektronisch an einen Kunden geliefertes Programm keine „Ware“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof darstelle. Es kam zu dem Ergebnis, dass The Software Incubator kein „Handelsvertreter“ im Sinne dieser Bestimmung sei und wies die Schadensersatzklage ab.
22 The Software Incubator focht dieses Urteil beim Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) an.
23 Dieses Gericht ersucht den Gerichtshof um eine Auslegung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653, die es für die Feststellung benötige, ob der Begriff des mit dem „Verkauf von Waren“ betrauten „Handelsvertreters“ auf den Fall eines elektronisch an den Kunden gelieferten Programms Anwendung findet, dessen Nutzung von einer unbefristeten Lizenz geregelt wird.
24 Unter diesen Umständen hat der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stellt eine Kopie einer Computersoftware, die Kunden eines Unternehmers elektronisch und nicht auf einem körperlichen Datenträger geliefert wird, „Waren“ in dem Sinne dar, in dem dieser Begriff in der Begriffsbestimmung eines Handelsvertreters in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 verwendet wird?
2. Stellt es einen „Verkauf von Waren“ in dem Sinne dar, in dem dieser Begriff in der Begriffsbestimmung eines Handelsvertreters in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 verwendet wird, wenn Computersoftware Kunden eines Unternehmers geliefert wird, indem dem Kunden eine unbefristete Lizenz zur Nutzung einer Kopie der Computersoftware erteilt wird?
Zu den Vorlagefragen
25 Zunächst ist festzustellen, dass der Gerichtshof nach Art. 86 Abs. 2 des Austrittsabkommens, das am 1. Februar 2020 in Kraft getreten ist, für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs, die – wie hier – vor Ende des Übergangszeitraums (31. Dezember 2020), vorgelegt werden, weiterhin zuständig ist.
26 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „Verkauf von Waren“ in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass er die elektronische Lieferung eines Computerprogramms an einen Kunden gegen Bezahlung einschließen kann, wenn diese Lieferung durch die Erteilung einer unbefristeten Lizenz zur Nutzung des Programms ergänzt wird.
27 Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 bestimmt, dass Handelsvertreter im Sinne dieser Richtlinie ist, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für eine andere, „Unternehmer“ genannte Person den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen.
28 Diese Bestimmung stellt drei notwendige und hinreichende Voraussetzungen dafür auf, dass eine Person als „Handelsvertreter“ eingestuft werden kann. Erstens muss diese Person die Eigenschaft des selbständigen Gewerbetreibenden haben. Zweitens muss sie vertraglich dauerhaft an den Unternehmer gebunden sein. Drittens muss sie eine Tätigkeit ausüben, die darin besteht, den Verkauf oder den Ankauf von Waren für den Unternehmer zu vermitteln oder diese Geschäfte in dessen Namen und für dessen Rechnung abzuschließen (Urteil vom 21. November 2018, Zako, C‑452/17, EU:C:2018:935, Rn. 23).
29 Im vorliegenden Fall steht ausschließlich die dritte dieser Voraussetzungen in Frage, soweit sie den „Verkauf von Waren“ für den Unternehmer betrifft. Hierzu ist festzustellen, dass die Richtlinie 86/653 den Begriff „Verkauf von Waren“ nicht definiert und zur Bedeutung dieses Begriffs nicht auf das nationale Recht verweist.
30 Unter diesen Umständen muss der Begriff „Verkauf von Waren“ in Anbetracht der Anforderungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten. Er stellt somit einen autonomen Begriff des Unionsrechts dar, dessen Bedeutung nicht anhand von im Recht der Mitgliedstaaten bekannten Begriffen oder auf nationaler Ebene vorgenommenen Einstufungen ermittelt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Juli 2020, RL [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑199/19, EU:C:2020:548, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Hierzu ist die Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die vom Unionsrecht nicht definiert werden, entsprechend ihrem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Zusammenhang sie verwendet werden und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehören (Urteil vom 4. Juni 2020, Trendsetteuse, C‑828/18, EU:C:2020:438, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Anhand dieser Gesichtspunkte ist festzustellen, ob der Begriff „Verkauf von Waren“ in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 die elektronische Lieferung eines Computerprogramms an einen Kunden gegen Bezahlung einschließen kann, wenn diese Lieferung durch die Erteilung einer unbefristeten Lizenz zur Nutzung des Programms ergänzt wird.
33 Zum Wortlaut der Bestimmung ist darauf hinzuweisen, dass sie allgemein den Begriff „Verkauf von Waren“ verwendet, ohne die Wörter „Verkauf“ oder „Waren“ zu definieren, wobei diese im Übrigen auch in keiner anderen Bestimmung der Richtlinie definiert werden.
34 Erstens sind unter dem Begriff „Waren“ nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Erzeugnisse zu verstehen, die einen Geldwert haben und deshalb Gegenstand von Handelsgeschäften sein können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2006, Kommission/Griechenland, C‑65/05, EU:C:2006:673, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Daraus ergibt sich, dass dieser Begriff aufgrund seiner allgemeinen Definition ein Computerprogramm wie das in Rede stehende Programm einschließen kann, da es einen Geldwert hat und Gegenstand von Handelsgeschäften sein kann.
36 Darüber hinaus ist klarzustellen, dass ein Programm unabhängig von dem Umstand, ob es auf einem physischen Datenträger oder – wie im vorliegenden Fall – elektronisch per Download geliefert wird, als „Ware“ eingestuft werden kann.
37 Zum einen lässt die Verwendung des Begriffs „Waren“ in den verschiedenen Sprachfassungen der Richtlinie, wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, keine Unterscheidung danach erkennen, ob der betreffende Gegenstand körperlicher oder nicht körperlicher Natur ist.
38 Zum anderen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Veräußerung eines Computerprogramms auf CD-ROM oder DVD und die Veräußerung eines solchen Programms durch Herunterladen aus dem Internet wirtschaftlich gesehen vergleichbar sind, da die Online-Übertragung funktionell der Aushändigung eines materiellen Datenträgers entspricht (Urteil vom 3. Juli 2012, UsedSoft, C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 61).
39 Daher kann der Begriff „Waren“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 ein Computerprogramm einschließen, unabhängig von dem Datenträger, auf dem es geliefert wird.
40 Zweitens ist „Verkauf“ nach einer allgemein anerkannten Definition eine Vereinbarung, nach der eine Person ihre Eigentumsrechte an einem ihr gehörenden körperlichen oder nicht körperlichen Gegenstand gegen Zahlung eines Entgelts an eine andere Person abtritt (Urteil vom 3. Juli 2012, UsedSoft, C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 42).
41 Im besonderen Fall des Verkaufs einer Kopie eines Computerprogramms hat der Gerichtshof entschieden, dass das Herunterladen einer Kopie eines Computerprogramms und der Abschluss eines Lizenzvertrags über die Nutzung dieser Kopie ein unteilbares Ganzes bilden. Das Herunterladen einer Kopie eines solchen Programms wäre nämlich sinnlos, wenn diese Kopie von ihrem Besitzer nicht genutzt werden dürfte. Diese beiden Vorgänge sind also im Hinblick auf ihre rechtliche Einordnung in ihrer Gesamtheit zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 2012, UsedSoft, C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 44).
42 So ist der Gerichtshof davon ausgegangen, dass mit der Zugänglichmachung einer Kopie eines Computerprogramms und dem Abschluss eines entsprechenden Lizenzvertrags – wodurch diese Kopie für die Kunden gegen Zahlung eines Entgelts, das es dem Urheberrechtsinhaber ermöglichen soll, eine dem wirtschaftlichen Wert der Kopie des ihm gehörenden Werkes entsprechende Vergütung zu erzielen, dauerhaft nutzbar gemacht werden soll – das Eigentum an dieser Kopie übertragen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 2012, UsedSoft, C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 45 und 46).
43 In Anbetracht des Wortlauts von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 ist folglich davon auszugehen, dass die elektronische Lieferung eines Computerprogramms an einen Kunden gegen Bezahlung unter den Begriff „Verkauf von Waren“ fallen kann, wenn diese Lieferung durch die Erteilung einer unbefristeten Lizenz zur Nutzung des Programms ergänzt wird.
44 Diese Auslegung wird durch den Zusammenhang bestätigt, in den sich dieser Artikel einfügt.
45 Art. 1 Abs. 3 und Art. 2 der Richtlinie 86/653 sehen nämlich bestimmte klar umgrenzte Ausnahmetatbestände vom Begriff „Handelsvertreter“ bzw. vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie vor (Urteil vom 21. November 2018, Zako, C‑452/17, EU:C:2018:935, Rn. 40).
46 Von diesen Ausnahmetatbeständen bezieht sich jedoch keiner auf die Art des „Verkaufs von Waren“, die der Gegenstand der Tätigkeit des in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie genannten Handelsvertreters ist.
47 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 und 67 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt ein „Verkauf von Waren“ der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art zudem weder ein Hindernis dafür dar, dass die dem Handelsvertreter bzw. dem Unternehmer zustehenden Rechte und die ihnen obliegenden Verpflichtungen nach den Art. 3 bis 5 der Richtlinie 86/653 erfüllt werden, noch dafür, dass der Handelsvertreter eine Art. 6 der Richtlinie entsprechende Vergütung erhält.
48 Diese Auslegung wird schließlich durch die Ziele der Richtlinie 86/653 bestätigt, die gemäß ihren Erwägungsgründen 2 und 3 die Interessen der Handelsvertreter gegenüber den Unternehmern schützen, die Sicherheit des Handelsverkehrs fördern und den Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern soll, indem die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Handelsvertretungen angeglichen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2018, Zako, C‑452/17, EU:C:2018:935, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Insoweit würden die praktische Wirksamkeit und der durch die Richtlinie 86/653 gewährte Schutz beeinträchtigt, wenn die Lieferung eines Programms unter den in Rn. 43 des vorliegenden Urteils genannten Umständen von dem Begriff „Verkauf von Waren“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie ausgenommen würde.
50 Eine solche Auslegung dieser Bestimmung würde nämlich Personen von diesem Schutz ausnehmen, die mit Hilfe moderner Technologien vergleichbare Tätigkeiten wie Handelsvertreter erbringen, deren Tätigkeit im Verkauf körperlicher Waren, u. a. durch Kundenwerbung und ‑akquise besteht.
51 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass der Begriff „Verkauf von Waren“ in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass er die elektronische Lieferung eines Computerprogramms an einen Kunden gegen Bezahlung einschließen kann, wenn diese Lieferung durch die Erteilung einer unbefristeten Lizenz zur Nutzung des Programms ergänzt wird.