EuGH: Auslegung der Richtlinie über Einlagensicherungssysteme und Systeme für die Entschädigung der Anleger
EuGH, Urteil vom 25.6.2015 – C-671/13, Indėlių ir investicijų draudimas“ VĮ, Virgilijus Vidutis Nemaniūnas, ECLI:EU:C:2015:418
Volltext des Urteils://BB-ONLINE BBL2015-1666-1
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Tenor
1. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme in der durch die Richtlinie 2009/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009 geänderten Fassung und Anhang I Nr. 12 dieser Richtlinie sind dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten von einem Kreditinstitut ausgegebene Einlagenzertifikate von der nach dieser Richtlinie vorgesehenen Sicherung ausnehmen können, wenn es sich um übertragbare Urkunden handelt, was festzustellen Sache des vorlegenden Gerichts ist, ohne dass es sich dabei zu vergewissern braucht, dass diese Zertifikate alle Merkmale eines Finanzinstruments im Sinne der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates aufweisen.
2. Die Richtlinie 94/19 in der durch die Richtlinie 2009/14 geänderten Fassung und die Richtlinie 97/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. März 1997 über Systeme für die Entschädigung der Anleger sind dahin auszulegen, dass, wenn Forderungen gegenüber einem Kreditinstitut sowohl unter den Begriff „Einlage“ im Sinne der Richtlinie 94/19 als auch unter den Begriff „Instrument“ im Sinne der Richtlinie 97/9 fallen können, der nationale Gesetzgeber aber von der in Anhang I Nr. 12 der Richtlinie 94/19 eingeräumten Möglichkeit, diese Forderungen von dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Sicherungssystem auszunehmen, Gebrauch gemacht hat, ein solcher Ausschluss nicht dazu führen kann, dass die betreffenden Forderungen von dem in der Richtlinie 97/9 vorgesehenen Sicherungssystem ebenfalls ausgenommen sind, ohne dass die in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
3. Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 97/9 sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach eine Inanspruchnahme des in dieser Richtlinie vorgesehenen Entschädigungssystems nur dann möglich ist, wenn das betreffende Kreditinstitut die fraglichen Gelder oder Wertpapiere ohne Zustimmung des Anlegers übertragen oder verwendet hat.
4. Die Richtlinie 97/9 ist dahin auszulegen, dass das vorlegende Gericht, sofern es der Ansicht ist, dass diese Richtlinie in den Ausgangsverfahren gegenüber einer Einrichtung geltend gemacht wird, die die Voraussetzungen dafür, dass ihr die Bestimmungen der Richtlinie entgegenhalten werden, erfüllt, verpflichtet ist, eine nationale Bestimmung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende unangewendet zu lassen, nach der das in dieser Richtlinie vorgesehene Entschädigungssystem nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn das betreffende Kreditinstitut die fraglichen Gelder oder Wertpapiere ohne Zustimmung des Anlegers übertragen oder verwendet hat.
Aus den Gründen
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Nr. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme (ABl. L 135, S. 5) in der durch die Richtlinie 2009/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009 (ABl. L 68, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 94/19), von Anhang I Nr. 12 der Richtlinie 94/19 und von Art. 2 Abs. 2 und 3 sowie Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 97/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. März 1997 über Systeme für die Entschädigung der Anleger (ABl. L 84, S. 22).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von Verfahren, die von der „Indėlių ir investicijų draudimas“ VI (im Folgenden: IID) und Herrn Nemaniūnas betreffend die Gültigkeit eines Vertrags über den Erwerb eines Einlagenzertifikats und mehrerer Verträge über die Zeichnung von Schuldverschreibungen eingeleitet wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 20 („Passivposten 3 – Verbriefte Verbindlichkeiten“) Abs. 1 der Richtlinie 86/635/EWG des Rates vom 8. Dezember 1986 über den Jahresabschluss und den konsolidierten Abschluss von Banken und anderen Finanzinstituten (ABl. L 372, S. 1) bestimmt:
„Dieser Posten enthält sowohl Schuldverschreibungen als auch diejenigen Verbindlichkeiten, für die übertragbare Urkunden ausgestellt sind, insbesondere ‚certificates of deposit‘, ‚bons de caisse‘ und Verbindlichkeiten aus eigenen Akzepten und Solawechseln.“
4 In den Erwägungsgründen 16 und 18 der Richtlinie 94/19 heißt es:
„… das in dieser Richtlinie festzusetzende Mindestdeckungsniveau [sollte] so festgelegt werden, dass sowohl im Interesse des Verbraucherschutzes als auch der Stabilität des Finanzsystems möglichst viele Einlagen erfasst werden …
…
Ist ein Mitgliedstaat der Auffassung, dass bestimmte Gruppen von Einlagen oder Einlegern, die ausdrücklich genannt werden müssen, keines besonderen Schutzes bedürfen, so muss er die Möglichkeit haben, sie von der durch die Einlagensicherungssysteme gebotenen Sicherung auszunehmen.“
5 In Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bedeuten:
1. Einlage: ein Guthaben, das sich aus auf einem Konto verbliebenen Beträgen oder aus Zwischenpositionen im Rahmen von normalen Bankgeschäften ergibt und vom Kreditinstitut nach den geltenden gesetzlichen und vertraglichen Bedingungen zurückzuzahlen ist, sowie Forderungen, die das Kreditinstitut durch Ausstellung einer Urkunde verbrieft hat.
…“
6 Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Jeder Mitgliedstaat sorgt in seinem Hoheitsgebiet für die Errichtung und amtliche Anerkennung eines oder mehrerer Einlagensicherungssysteme. Außer in den im nachstehenden Unterabsatz sowie in Absatz 4 genannten Fällen darf ein in dem Mitgliedstaat nach Artikel 3 der Richtlinie 77/780/EWG zugelassenes Kreditinstitut Einlagen nur annehmen, wenn es einem dieser Systeme angeschlossen ist.
…“
7 Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 94/19 sieht vor:
„(1) Für den Fall, dass Einlagen nicht verfügbar sind, gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Deckungssumme für die Gesamtheit der Einlagen desselben Einlegers mindestens 50 000 Euro beträgt.
…
(2) Die Mitgliedstaaten können jedoch vorsehen, dass bestimmte Einleger oder bestimmte Einlagen von dieser Sicherung ausgenommen oder in geringerem Umfang gesichert werden. Die Liste dieser Ausnahmen ist in Anhang I beigefügt.“
8 Anhang I („Liste der Ausnahmen gemäß Artikel 7 Absatz 2“) Nr. 12 dieser Richtlinie lautet:
„Schuldverschreibungen des Kreditinstituts und Verbindlichkeiten aus eigenen Akzepten und Solawechseln“.
9 Im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 97/9 heißt es:
„Die Definition einer Wertpapierfirma schließt Kreditinstitute ein, denen die Erlaubnis zur Erbringung von Wertpapierdienstleistungen erteilt wurde. Diese Kreditinstitute sollten ebenfalls verpflichtet sein, sich für ihre Wertpapiergeschäfte einem Anlegerentschädigungssystem anzuschließen. Diese Kreditinstitute sollten jedoch nicht verpflichtet sein, zwei getrennten Systemen anzugehören, wenn ein einziges System sowohl den Anforderungen dieser Richtlinie als auch denen der Richtlinie 94/19/EG … entspricht. Bei Wertpapierfirmen, die Kreditinstitute sind, kann es in bestimmten Fällen schwierig sein, zwischen Einlagen zu unterscheiden, die unter die Richtlinie 94/19/EG fallen, und Geldern, die im Zusammenhang mit der Abwicklung von Wertpapiergeschäften gehalten werden. Den Mitgliedstaaten sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, selbst zu entscheiden, unter welche Richtlinie diese Forderungen fallen sollten.“
10 Gemäß ihrem Art. 1 Nr. 3 bezeichnet für die Zwecke der Richtlinie 97/9 der Ausdruck „Instrumente“ die in Abschnitt B des Anhangs der Richtlinie 93/22/EWG des Rates vom 10. Mai 1993 über Wertpapierdienstleistungen (ABl. L 141, S. 27) aufgeführten Instrumente.
11 In Art. 1 Nr. 4 der Richtlinie 97/9 ist ein Anleger definiert als „eine Person, die einer Wertpapierfirma im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften Gelder oder Instrumente anvertraut hat“.
12 Art. 2 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 97/9 bestimmt:
„(2) Das System gewährt Anlegern gemäß Artikel 4 Deckung, wenn
– die zuständigen Behörden festgestellt haben, dass ihrer Auffassung nach die Wertpapierfirma aus Gründen, die mit ihrer Finanzlage unmittelbar zusammenhängen, vorerst nicht in der Lage ist, ihren Verpflichtungen aus den Forderungen der Anleger nachzukommen und gegenwärtig keine Aussicht auf eine spätere Erfüllung dieser Verpflichtungen besteht, oder
–ein Gericht aus Gründen, die mit der Finanzlage der Wertpapierfirma unmittelbar zusammenhängen, eine Entscheidung getroffen hat, die ein Ruhen der Forderungen der Anleger gegen diese Firma bewirkt;
maßgebend ist dabei, welches dieser Ereignisse zuerst eingetreten ist.
Es muss eine Deckung für die Forderungen gewährt werden, die dadurch entstanden sind, dass eine Wertpapierfirma nicht in der Lage war, entsprechend den einschlägigen Rechtsvorschriften und Vertragsbedingungen
– Gelder zurückzuzahlen, die Anlegern geschuldet werden oder gehören und für deren Rechnung im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften gehalten werden, oder
–den Anlegern Instrumente zurückzugeben, die diesen gehören und für deren Rechnung im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften gehalten, verwahrt oder verwaltet werden.
(3) Forderungen gemäß Absatz 2 an ein Kreditinstitut, welche in einem Mitgliedstaat sowohl unter diese Richtlinie als auch die Richtlinie 94/19/EG fallen, werden nach dem Ermessen dieses Staates gemäß der einen oder der anderen Richtlinie einem System zugeordnet. Keine Forderung darf aufgrund der beiden Richtlinien doppelt entschädigt werden.“
13 Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 97/9 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass das System eine Deckung von mindestens 20 000 [Euro] je Anleger für die in Artikel 2 Absatz 2 bezeichneten Forderungen gewährt.
Bis zum 31. Dezember 1999 können die Mitgliedstaaten, in denen die Deckung zum Zeitpunkt der Annahme der Richtlinie weniger als 20 000 [Euro] beträgt, diese niedrigere Deckung beibehalten, die jedoch 15 000 [Euro] nicht unterschreiten darf. Diese Möglichkeit haben auch die Mitgliedstaaten, für die die Übergangsbestimmungen des Artikels 7 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie 94/19/EG gelten.
(2) Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass bestimmte Anleger von der Deckung durch das System ausgeschlossen sind oder dass ihnen eine weniger umfangreiche Deckung gewährt wird. Die ausgeschlossenen Anleger sind in Anhang I aufgeführt.“
14 In Anhang I Abschnitt C der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates (ABl. L 145, S. 1) sind die von dieser Richtlinie erfassten Finanzinstrumente aufgeführt. Anhang I Abschnitt C Nr. 2 subsumiert die Geldmarktinstrumente unter dem Begriff der Finanzinstrumente.
15 In Art. 4 Abs. 1 Nr. 19 der Richtlinie 2004/39 sind Geldmarktinstrumente wie folgt definiert:
„Geldmarktinstrumente: die üblicherweise auf dem Geldmarkt gehandelten Gattungen von Instrumenten, wie Schatzanweisungen, Einlagenzertifikate und Commercial Papers, mit Ausnahme von Zahlungsinstrumenten.“
Litauisches Recht
16 Art. 2 Abs. 3 des litauischen Gesetzes Nr. IX-975 vom 20. Juni 2002 über die Einlagenversicherung (Žin., 2002, Nr. 65-2635, im Folgenden: Gesetz über die Einlagenversicherung), das die Richtlinien 94/19 und 97/9 ins litauische Recht umsetzt, bestimmt:
„‚Einleger‘: eine natürliche oder juristische Person, die über eine Einlage bei einer Bank, einer Zweigstelle einer Bank oder einer Genossenschaftsbank verfügt, mit Ausnahme der Personen, deren Einlagen nach diesem Gesetz nicht Gegenstand der Versicherung sein können …“
17 Art. 3 Abs. 1, 2 und 4 des Gesetzes über die Einlagenversicherung lautet:
„(1) Gegenstand der Einlagenversicherung sind die Einlagen der Einleger in LTL und in Fremdwährungen: in Dollar der Vereinigten Staaten von Amerika, in Euro und in nationalen Währungen (im Folgenden: Fremdwährungen) der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums …
(2) Gegenstand der Versicherung der gegenüber den Anlegern bestehenden Verpflichtungen ist die Verpflichtung zur Einlösung der Wertpapiere (unabhängig von der Währung, in der sie ausgestellt worden sind) oder die Rückzahlung der Geldmittel in LTL oder einer Fremdwährung.
…
(4) Die vom Versicherungsnehmer selbst ausgegebenen Schuldverschreibungen (Einlagenzertifikate), Verbindlichkeiten, die sich aus vom Versicherungsgeber entgegengenommenen Geldscheinen und Solawechseln sowie aus Hypothekenanleihen ergeben, die gemäß dem litauischen Gesetz über Hypothekenanleihen und Hypothekendarlehen emittiert wurden, … können nicht Gegenstand der Sicherung sein.“
18 Art. 9 Abs. 1 des Gesetzes über die Einlagenversicherung lautet:
„Der Anspruch auf eine Entschädigung aus der Versicherung entsteht auf Seiten des Anlegers am Tag des Eintritts des Versicherungsfalls. Der Anspruch auf eine Entschädigung aus der Versicherung entsteht auf Seiten eines Anlegers am Tag des Eintritts des Versicherungsfalls nur dann, wenn der Versicherte die Wertpapiere und/oder Geldmittel des Anlegers ohne dessen Zustimmung übertragen oder verwendet hat. Bei der Berechnung der von der Versicherung den Anlegern geschuldeten Entschädigung sind nur die Wertpapiere und Geldmittel der Anleger zu berücksichtigen, die der Versicherungsnehmer dem jeweiligen Anleger nicht zurückgewähren kann.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
19 Am 17. Januar 2011 schloss Herr Guliavičius mit der Bankas „Snoras“ AB (im Folgenden: Snoras) einen Vertrag über den Erwerb eines inflationsindexierten Einlagenzertifikats.
20 Am 9. März, 14. Juli, 26. September und 6. Oktober 2011 schloss Herr Nemaniūnas mit Snoras Verträge über die Zeichnung von Schuldverschreibungen.
21 Mit Beschluss der litauischen Regierung vom 16. November 2011 wurde Snoras geschlossen. Am 24. November 2011 beantragte die Zentralbank Litauens die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen von Snoras.
22 Herr Guliavičius und Herr Nemaniūnas erhoben Klage auf Feststellung, dass die Verträge, die sie mit Snoras geschlossen hatten, nichtig sind, wobei sie sich im Wesentlichen darauf stützten, dass diese Bank ihnen irreführende und unvollständige Informationen über die Deckung der erworbenen Instrumente und über die finanzielle Lage von Snoras gegeben habe.
23 Mit Beschluss vom 6. Mai 2013 wies das Vilniaus apygardos teismas die Klage von Herrn Guliavičius ab. Auf dessen Berufung hob das Lietuvos apeliacinis teismas mit Beschluss vom 29. Juli 2013 den Beschluss des erstinstanzlichen Gerichts auf und erklärte den von Herrn Guliavičius über den Erwerb eines Einlagenzertifikats geschlossenen Vertrag für nichtig.
24 IID ist ein staatliches Unternehmen mit beschränkter Haftung, das die Sicherung der Einlagen und Investitionen von Anlegern im Fall einer Insolvenz von Finanzinstituten zur Aufgabe hat. IID beantragt in dem von Herrn Guliavičius eingeleiteten Verfahren mit ihrer beim vorlegenden Gericht eingelegten Kassationsbeschwerde die Aufhebung des Beschlusses des Lietuvos apeliacinis teismas vom 29. Juli 2013.
25 Mit Beschluss vom 7. Dezember 2012 wies das Vilniaus apygardos teismas die Klage von Herrn Nemaniūnas ab. Auf dessen Berufung bestätigte das Lietuvos apeliacinis teismas den Beschluss des erstinstanzlichen Gerichts. Mit seiner beim vorlegenden Gericht eingelegten Kassationsbeschwerde beantragt Herr Nemaniūnas die Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts.
26 Nach Ansicht des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas ist für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten die unionsrechtliche Regelung zum rechtlichen Schutz von Herrn Guliavičius und Herrn Nemaniūnas als Einleger und Anleger zu berücksichtigen.
27 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht erstens, welchen Schutz das von Herrn Guliavičius erworbene Einlagenzertifikat genießt. Zum einen nämlich habe sich die Republik Litauen mit Art. 3 Abs. 4 des Gesetzes über die Einlagenversicherung dafür entschieden, von der Ausnahmeregelung von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 94/19 und deren Anhang I Nr. 12 Gebrauch zu machen, indem sie Wertpapiere wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Einlagenzertifikat von der in der Richtlinie vorgesehenen Sicherung ausgenommen habe. Außerdem sei fraglich, ob ein solcher Ausschluss nur für von einem Kreditinstitut ausgegebene Schuldverschreibungen gelte, die genau die wesentlichen Merkmale eines Finanzinstruments im Sinne der Richtlinien 97/9 und 2004/39 aufwiesen.
28 Zweitens bezweifelt das Lietuvos Aukščiausiasis Teismas, dass diese Richtlinien ordnungsgemäß umgesetzt wurden. Es weist nämlich im Wesentlichen darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber durch den Verweis im neunten Erwägungsgrund und in Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 97/9 auf die Richtlinie 94/19 ein System geschaffen habe, bei dem die Inhaber von Instrumenten wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einlagenzertifikaten und Schuldverschreibungen zwangsläufig durch eine dieser beiden Richtlinien geschützt sein müssten. Das litauische Recht beschränke sich demgegenüber in Art. 3 Abs. 4 des Gesetzes über die Einlagenversicherung darauf, einen allgemeinen Ausschluss aller Schuldverschreibungen – infolgedessen auch der Einlagenzertifikate und Obligationen – vom Sicherungssystem anzuordnen, ohne alternative Schutzmaßnahmen vorzusehen. Bei einem solchen allgemeinen Ausschluss bestehe für Inhaber von Wertpapieren wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden kein Schutz.
29 Drittens hat das Lietuvos Aukščiausiasis Teismas Zweifel bezüglich der ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie 97/9, da Art. 9 Abs. 1 des Gesetzes über die Einlagenversicherung für die Inanspruchnahme der nach dieser Vorschrift vorgesehenen Sicherung gegenüber der Richtlinie 97/9 eine zusätzliche Bedingung vorsehe. Der Anleger habe nämlich nur dann Anspruch auf eine Entschädigung aus der Versicherung, wenn die Wertpapierfirma die Wertpapiere und/oder Gelder des Anlegers ohne dessen Zustimmung übertragen oder verwendet habe.
30 Unter diesen Umständen hat das Lietuvos Aukščiausis Teismas beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 7 Abs. 2 in Verbindung mit Anhang I Nr. 12 der Richtlinie 94/19 dahin zu verstehen und auszulegen, dass die für die Einleger eines Kreditinstituts, die von diesem ausgegebene Schuldverschreibungen (Einlagenzertifikate) besitzen, von einem Mitgliedstaat vorgesehene Ausnahme von der Inanspruchnahme der Sicherung nur dann angewandt werden kann, wenn diese Einlagenzertifikate alle Merkmale eines Finanzinstruments im Sinne der Richtlinie 2004/39 (unter Berücksichtigung auch anderer Unionsrechtsakte, beispielsweise der Verordnung Nr. 25/2009 der Europäischen Zentralbank) aufweisen (besitzen), zu denen die Handelbarkeit auf dem Sekundärmarkt gehört?
2. Wenn sich der betreffende Mitgliedstaat dafür entscheidet, die Richtlinien 94/19 und 97/9 in der Weise in nationales Recht umzusetzen, dass die Systeme zum Schutz der Einleger und der Anleger mit demselben Rechtsetzungsakt (demselben Gesetz) geschaffen werden, sind dann Art. 7 Abs. 2 in Verbindung mit Anhang I Nr. 12 der Richtlinie 94/19 und Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 97/9 in Anbetracht von Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 97/9 dahin zu verstehen und auszulegen, dass es nicht zulässig ist, dass die Inhaber von Einlagenzertifikaten und Obligationen von keinem der Schutzsysteme (Sicherungssysteme) im Sinne der genannten Richtlinien erfasst werden?
3. In Anbetracht dessen, dass nach der nationalen Regelung keines der in den Richtlinien 94/19 und 97/9 vorgesehenen möglichen Schutzsysteme auf die Inhaber der von einem Kreditinstitut ausgegebenen Einlagenzertifikate und Obligationen anwendbar ist:
a) Sind Art. 3 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 (in der durch die Richtlinie 2009/14 geänderten Fassung) und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 94/19 in Verbindung mit ihrem Art. 1 Abs. 1, der den Begriff der Einlage definiert, hinreichend klar, genau und unbedingt und schaffen subjektive Rechte, so dass sich Einzelpersonen vor dem nationalen Gericht zur Stützung ihrer Klagen auf Entschädigung gegen die von dem betreffenden Mitgliedstaat geschaffene Sicherungseinrichtung, die für diese Entschädigung aufkommen muss, auf sie berufen können?
b) Sind Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 97/9 hinreichend klar, genau und unbedingt und schaffen subjektive Rechte, so dass sich Einzelpersonen vor dem nationalen Gericht zur Stützung ihrer Klagen auf Entschädigung gegen die von dem betreffenden Mitgliedstaat geschaffene Sicherungseinrichtung, die für diese Entschädigung aufkommen muss, auf sie berufen können?
c) Falls die Fragen 3 a) und 3 b) bejaht werden, welches der beiden möglichen Schutzsysteme muss das nationale Gericht dann bei der Entscheidung des Rechtsstreits zwischen einem Einzelnen und einem Kreditinstitut heranziehen, an dem die vom Mitgliedstaat geschaffene Sicherungseinrichtung, die mit der Verwaltung der Einleger- und Anlegerschutzsysteme betraut ist, beteiligt ist?
4. Sind Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 97/9 (in Verbindung mit Anhang I dieser Richtlinie) dahin zu verstehen und auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der das System für die Entschädigung der Anleger nicht auf Anleger anwendbar ist, die von einem Kreditinstitut ausgegebene Schuldverschreibungen besitzen, und zwar wegen der Art der Finanzinstrumente (Schuldverschreibungen) und unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Versicherte (das Kreditinstitut) die Geldmittel oder Wertpapiere der Anleger nicht ohne deren Zustimmung übertragen oder verwendet hat? Ist der Umstand, dass das Kreditinstitut, das die Schuldverschreibungen ausgegeben hat – der Emittent – zugleich der Verwahrer dieser Finanzinstrumente (Vermittler) ist und dass die angelegten Mittel nicht von den anderen Mitteln unterschieden werden, über die das Kreditinstitut verfügt, für die Auslegung der genannten Bestimmungen der Richtlinie 97/9 in Bezug auf den Anlegerschutz erheblich?
31 Der Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen, ist durch den Beschluss Indėlių ir investicijų draudimas und Nemaniūnas (C‑671/13, EU:C:2014:225) des Präsidenten des Gerichtshofs zurückgewiesen worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
32 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 94/19 und deren Anhang I Nr. 12 dahin auszulegen sind, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie von einem Kreditinstitut ausgegebene Einlagenzertifikate von der nach dieser Richtlinie vorgesehenen Sicherung ausnehmen, diesen Ausschluss nur auf diejenigen Zertifikate beschränken können, die alle Merkmale eines Finanzinstruments im Sinne der Richtlinie 2004/39 aufweisen.
33 In diesem Zusammenhang ist vorab darauf hinzuweisen, dass weder Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 94/19 noch deren Anhang I Nr. 12 für den Ausschluss von der Einlagensicherung voraussetzen, dass die fraglichen Instrumente alle Merkmale eines Finanzinstruments im Sinne der Richtlinie 2004/39 aufweisen.
34 Im Hinblick auf die Erfordernisse der Richtlinie 94/19 kommt es allerdings darauf an, dass die von dem Ausschluss durch die Mitgliedstaaten erfassten Instrumente in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.
35 Nach Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 94/19 umfasst die Definition des Begriffs „Einlage“ im Sinne dieser Richtlinie sowohl jedes „Guthaben, das sich aus auf einem Konto verbliebenen Beträgen oder aus Zwischenpositionen im Rahmen von normalen Bankgeschäften ergibt“, als auch „Forderungen, die das Kreditinstitut durch Ausstellung einer Urkunde verbrieft hat“.
36 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Vorschrift, dass der Begriff „Einlage“ im Sinne der Richtlinie 94/19 nicht auf die Merkmale eines Finanzinstruments im Sinne der Richtlinie 2004/39 abstellt. Außerdem ergibt sich aus dieser Vorschrift, dass die zweite Art von Einlagen dadurch gekennzeichnet ist, dass es sich um übertragbare Wertpapiere handelt, so dass die darin verkörperte Forderung handelbar ist.
37 Für die letztgenannte Feststellung spricht der Vorschlag der Kommission für die Richtlinie 94/19 (KOM[92] 188 endg. vom 4. Juni 1992, ABl. C 163, S. 6). Art. 1 dieses Vorschlags erwähnte ausdrücklich „Forderungen, für die … übertragbare Urkunden“ ausgestellt wurden. Auch ist in diesem Zusammenhang auf Art. 20 der Richtlinie 86/635 hinzuweisen, auf den in dem Vorschlag für die Richtlinie 94/19 verwiesen wird, nach dem „sowohl Schuldverschreibungen als auch diejenigen Verbindlichkeiten, für die übertragbare Urkunden ausgestellt sind, insbesondere ‚certificates of deposit‘“, verbriefte Verbindlichkeiten sind.
38 Art. 7 Abs. 2 in Verbindung mit Anhang I Nr. 12 der Richtlinie 94/19 steht daher einer nationalen Vorschrift wie Art. 3 Abs. 4 des Gesetzes über die Einlagenversicherung, wonach „Schuldverschreibungen (Einlagenzertifikate), die vom Versicherten selbst ausgegeben werden“, von der Einlagensicherung ausgenommen sind, nicht entgegen, sofern es sich um übertragbare Urkunden handelt.
39 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall das Einlagenzertifikat von Herrn Guliavičius dieses Merkmal aufweist.
40 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 94/19 und deren Anhang I Nr. 12 dahin auszulegen sind, dass die Mitgliedstaaten von einem Kreditinstitut ausgegebene Einlagenzertifikate von der nach dieser Richtlinie vorgesehenen Sicherung ausnehmen können, wenn es sich um übertragbare Urkunden handelt, was festzustellen Sache des vorlegenden Gerichts ist, ohne dass es sich dabei zu vergewissern braucht, dass diese Zertifikate alle Merkmale eines Finanzinstruments im Sinne der Richtlinie 2004/39 aufweisen.
Zur zweiten Frage
41 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinien 94/19 und 97/9 dahin auszulegen sind, dass von einem Kreditinstitut ausgegebene Schuldverschreibungen, insbesondere Einlagenzertifikate und Obligationen, von keinem der in diesen Richtlinien vorgesehenen Sicherungssysteme erfasst sein können.
42 Diese zweite Frage geht davon aus, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einlagenzertifikate unter den vom litauischen Gesetzgeber auf der Grundlage von Anhang I Nr. 12 der Richtlinie 94/19 beschlossenen Ausschluss von dem Sicherungssystem dieser Richtlinie fallen. Für diesen Fall möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, dass nach nationalen Rechtsvorschriften wie den litauischen, mit denen die Richtlinien 94/19 und 97/9 gemeinsam umgesetzt wurden, derartige Zertifikate von dem einen wie dem anderen der in diesen beiden Richtlinien vorgesehenen Sicherungssysteme allgemein ausgeschlossen sind, so dass für ihre Inhaber nicht der geringste Schutz bleibt.
43 Insoweit ist zu bemerken, dass unter Berücksichtigung der in den Richtlinien 94/19 und 97/9 enthaltenen Definitionen der Begriffe „Einlage“ und „Instrument“ ein und dieselbe Schuldverschreibung nach dem Vorabentscheidungsersuchen gleichzeitig unter den einen und unter den anderen Begriff und damit in den Anwendungsbereich beider Richtlinien fallen kann.
44 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass für die in diesen beiden Richtlinien vorgesehenen Sicherungssysteme unterschiedliche Voraussetzungen gelten, insbesondere was einen Ausschluss anbelangt. Während nämlich Art. 7 Abs. 2 und Anhang I der Richtlinie 94/19 einen Ausschluss entweder aufgrund der Art der Einleger oder der Art der Einlagen vorsehen, sieht Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 97/9 einen Ausschluss nur nach der Art der Anleger vor.
45 Auch wenn das Unionsrecht es sicher nicht verbietet, dass sich ein Mitgliedstaat dafür entscheidet, die Richtlinien 94/19 und 97/9 durch ein und denselben Rechtsetzungsakt umzusetzen, ist es daher jedoch geboten, wie im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 97/9 hervorgehoben wird, dass die mit diesem Rechtsetzungsakt geschaffene Regelung den Anforderungen beider Richtlinien genügt.
46 Hat der nationale Gesetzgeber, wie in den Ausgangsverfahren, von der ihm in Anhang I Nr. 12 der Richtlinie 94/19 eingeräumten Möglichkeit, die in Rede stehende Forderungsart vom Anwendungsbereich des nach dieser Richtlinie vorgesehenen Sicherungssystems auszunehmen, Gebrauch gemacht, darf daher der Umstand, dass er diese Richtlinie und die Richtlinie 97/9 mit ein und demselben Rechtsetzungsakt umgesetzt hat, nicht zur Folge haben, dass diese Forderungsart auch von dem in der Richtlinie 97/9 vorgesehenen Sicherungssystem ausgenommen ist, ohne dass die in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
47 Infolgedessen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Richtlinien 94/19 und 97/9 dahin auszulegen sind, dass, wenn Forderungen gegenüber einem Kreditinstitut sowohl unter den Begriff „Einlage“ im Sinne der Richtlinie 94/19 als auch unter den Begriff „Instrument“ im Sinne der Richtlinie 97/9 fallen können, der nationale Gesetzgeber aber von der in Anhang I Nr. 12 der Richtlinie 94/19 eingeräumten Möglichkeit, diese Forderungen von dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Sicherungssystem auszunehmen, Gebrauch gemacht hat, ein solcher Ausschluss nicht dazu führen kann, dass die betreffenden Forderungen von dem in der Richtlinie 97/9 vorgesehenen Sicherungssystem ebenfalls ausgenommen sind, ohne dass die in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
Zur vierten Frage
48 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 97/9 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach eine Inanspruchnahme des in dieser Richtlinie vorgesehene Entschädigungssystem nur dann möglich ist, wenn das betreffende Kreditinstitut die fraglichen Gelder oder Wertpapiere ohne Zustimmung des Anlegers übertragen oder verwendet hat.
49 Hinsichtlich der in Art. 9 Abs. 1 des Gesetzes über die Einlagenversicherung enthaltenen Bedingung ergibt sich aus der Richtlinie 97/9, dass die in ihr vorgesehene Sicherung nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn die Forderungen der Anleger die in Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen erfüllen. Außerdem enthält Anhang I der Richtlinie 97/9 eine Liste der Anleger, die nach Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie von der Deckung durch das System ausgeschlossen werden können oder denen eine weniger umfangreiche Deckung gewährt werden kann.
50 Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass die Inhaber von Schuldverschreibungen, die von einem Kreditinstitut ausgegeben wurden, die in der Richtlinie 97/9 vorgesehene Deckung nur dann beanspruchen können, wenn die nach Art. 9 Abs. 1 des Gesetzes über die Einlagenversicherung vorgesehene Voraussetzung der fehlenden Zustimmung erfüllt ist.
51 Dazu ist festzustellen, dass in der Richtlinie 97/9 für die Inanspruchnahme des darin vorgesehenen Sicherungssystems durch die Anleger eine derartige Voraussetzung überhaupt nicht vorgesehen ist. Darüber hinaus sind Anleger, die wie Herr Nemaniūnas in einem der Ausgangsverfahren Inhaber solcher Instrumente sind, unter den Anlegern, die gemäß Anhang I der Richtlinie 97/9 von diesem System ausgeschlossen werden können, nicht genannt.
52 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 97/9 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach eine Inanspruchnahme des in dieser Richtlinie vorgesehenen Entschädigungssystems nur dann möglich ist, wenn das betreffende Kreditinstitut die fraglichen Gelder oder Wertpapiere ohne Zustimmung des Anlegers übertragen oder verwendet hat.
Zur dritten Frage
53 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinien 94/19 und 97/9 dahin auszulegen sind, dass es nationale Rechtsvorschriften nicht anwenden darf, die rechtswidrig einen Ausschluss von Inhabern bestimmter Schuldverschreibungen von den in diesen Richtlinien festgelegten Sicherungssystemen vorsehen, insbesondere soweit nach diesen Rechtsvorschriften das System zur Entschädigung der Anleger nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn das betreffende Kreditinstitut die fraglichen Gelder oder Wertpapiere ohne Zustimmung des Anlegers übertragen oder verwendet hat.
54 Da der vom litauischen Gesetzgeber vorgenommene Ausschluss der übertragbaren Einlagenzertifikate von der in der Richtlinie 94/19 vorgesehenen Sicherung, wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils festgestellt, rechtmäßig war, ist die dritte Frage so zu verstehen, dass sie sich lediglich auf die Richtlinie 97/9 bezieht.
55 Wie sich aus Rn. 52 des vorliegenden Urteils ergibt, sind nationale Rechtsvorschriften wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wonach das in der Richtlinie 97/9 vorgesehene Entschädigungssystem nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn das betreffende Kreditinstitut die fraglichen Gelder oder Wertpapiere ohne Zustimmung des Anlegers übertragen oder verwendet hat, unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 97/9.
56 Nach ständiger Rechtsprechung muss ein nationales Gericht, das das nationale Recht bei dessen Anwendung auszulegen hat, seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen (Urteil Marleasing, C‑106/89, EU:C:1990:395, Rn. 8).
57 Für den Fall, dass eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich sein sollte, ist darauf hinzuweisen, dass sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Mitgliedstaat auf diese Bestimmungen berufen kann, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (Urteil Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 33).
58 Im vorliegenden Fall ist die Richtlinie 97/9, wie der Generalanwalt in Nr. 86 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soweit sie sich auf die Bestimmung der Fälle, in denen Schutz besteht, bezieht, hinreichend klar, genau und unbedingt, so dass sich der Einzelne unmittelbar auf sie berufen kann.
59 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass eine Einrichtung, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über die für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften hinausgehen, zu den Rechtssubjekten gehört, denen die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können (Urteil Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 39). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob IID, die unstreitig zur Aufgabe hat, den Anlegern im Fall einer Insolvenz des Finanzinstituts Schutz der Einlagen und Anlagen zu gewähren, diese Voraussetzungen erfüllt.
60 Erfüllt IID die Voraussetzungen, müsste das nationale Gericht – da die Richtlinie 97/9 hinsichtlich der Bestimmung der Fälle, für die Schutz besteht, die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten – bei der Feststellung des Rahmens der Anlagen, die unter das in dieser Richtlinie vorgesehene Sicherungssystem fallen, jede entgegenstehende nationale Bestimmung unangewendet lassen und dürfte demzufolge die Voraussetzung, dass die Gelder ohne Zustimmung des Anlegers verwendet wurden, nicht anwenden.
61 Somit ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 97/9 dahin auszulegen ist, dass das vorlegende Gericht, sofern es der Ansicht ist, dass diese Richtlinie in den Ausgangsverfahren gegenüber einer Einrichtung geltend gemacht wird, die die Voraussetzungen dafür, dass ihr die Bestimmungen der Richtlinie entgegenhalten werden, erfüllt, verpflichtet ist, eine nationale Bestimmung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende unangewendet zu lassen, nach der das in dieser Richtlinie vorgesehene Entschädigungssystem nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn das betreffende Kreditinstitut die fraglichen Gelder oder Wertpapiere ohne Zustimmung des Anlegers übertragen oder verwendet hat.
Kosten
62 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.