R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Wirtschaftsrecht
22.06.2017
Wirtschaftsrecht
OLG Karlsruhe: Anwaltliche Pflicht zur Gegenkontrolle von Fristen

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24.4.2017 – 12 U 45/17

Volltext: BB-ONLINE BBL2017-1474-5

unter www.betriebs-berater.de

Amtlicher Leitsatz

Zwar darf ein Rechtsanwalt die Be-rechnung und Notierung von Routinefristen einer gut ausge-bildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft überlassen. In diesem Fall ist jedoch eine anwaltliche Pflicht zur Gegen-kontrolle der Fristen nicht nur anzunehmen bei Vorlage der Handakte zur Fertigung eines fristgebundenen Schriftsatzes, sondern gerade auch dann, wenn der Rechtsanwalt erkennen muss, dass ihm die Handakte zur Fertigung eines fristgebundenen Schriftsatzes vorliegen müsste, aber tatsächlich nicht vorgelegt wurden.

Sachverhalt

I.

Die Parteien sind Nachbarn und streiten um die Erstattung von Kosten für die Instandsetzung einer verstopften Regenwasserleitung.

Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 25.10.2016, den Klägern zugestellt am 09.11.2016, teilweise abgewiesen.

Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer am 09.12.2016 eingegangenen Berufung. Diese haben sie mit Schriftsatz vom 10.01.2017, eingegangen am selben Tage, begründet und zugleich Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist beantragt.

Zur Fristversäumung haben sie - unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Fachangestellten Ma. - vorgetragen, der sachbearbeitende Rechtsanwalt Dr. M. habe am 09.11.2016 das Anlegen einer Berufungsakte, die Eintragung der Fristen im Kalender und die sofortige Wiedervorlage der Handakte nebst Ausführungsvermerk verfügt. Die bislang stets zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte Ma., der er dies aufgetragen habe, habe diese Anweisungen in seiner Gegenwart notiert und die Akte angelegt, die Eintragung der Fristen aber - obwohl sie bisher stets zuverlässig gearbeitet habe - vergessen und die Akte erst am 10.01.2017 wieder bemerkt.

Der Senat hat mit Hinweis vom 13.03.2016 darauf hingewiesen, dass die Fristen nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt notiert worden seien, dass aus dem Vorbringen der Kläger nicht hervorgehe, weshalb der Vorgang Rechtsanwalt Dr. M. am Tag der Unterzeichnung der Berufungsbegründung - 08.12.2016 - vorgelegen habe, dass die anwaltliche Sorgfaltspflicht es gebiete, sich zumindest anhand eines Erledigungsvermerks in der Handakte von der Notierung der Fristen zu überzeugen, und dass die Anweisung des Rechtsanwalts Dr. M., die Fristen nicht sofort, sondern erst nach Anlegung der Berufungsakte zu notieren, fehlerträchtig gewesen sei und ihn deshalb nicht von der Pflicht zur Gegenkontrolle entbunden habe, ferner dass ihm jedenfalls hätte auffallen müssen, dass ihm die Akte entgegen seiner Weisung nicht „sofort“ wieder vorgelegt wurde.

Die Kläger haben hierauf mit Schriftsatz vom 18.04.2017 klargestellt, dass die Weisung, eine Akte anzulegen und die Fristen zu notieren, bereits am 09.11.2016 erteilt worden sei. Ferner haben sie ausgeführt, Rechtsanwalt Dr. M. habe bereits am 09.11.2016 die Berufungsschrift unterzeichnet und in die Postmappe gelegt, um sie im Mandatierungsfalle abzusenden, den Klägern aber möglichst lange Bedenkzeit zu lassen. Am 08.12.2016 habe er sie selbst abgesandt, ohne die Handakte beizuziehen. Ferner wurde weiter zur Kanzleiorganisation vorgetragen, und es wurden eine weitere eidesstattliche Versicherung der Fachangestellten Ma. sowie eine solche des Rechtsanwalts Dr. M. vorgelegt.

In rechtlicher Hinsicht machen die Kläger geltend, es liege kein Anwaltsverschulden vor. Der Rechtsanwalt sei, wenn er die Fristennotierung zulässig an geeignetes Personal delegiert habe, nur dann verpflichtet, sich durch Prüfung eines vom Personal in der Handakte anzubringenden Erledigungsvermerkes von der Notierung der Frist zu überzeugen, wenn ihm die Handakte zur Fertigung eines fristengebundenen Schriftsatzes vorgelegt werde, was hier nicht geschehen sei. Zu einer Gegenkontrolle sei Rechtsanwalt Dr. M. nicht verpflichtet gewesen, da er auf die Ausführung seiner zur sofortigen Erledigung erteilten Einzelanweisung vom 09.11.2016 habe vertrauen dürfen. Die von ihm erteilte Weisung sei nicht in besonderem Maße fehlerträchtig gewesen. Die vom Senat mit Hinweis vom 16.03.2017 zitierte Entscheidung BGH NJOZ 2016, 265 habe eine von den allgemeinen Organisationsstrukturen der dort betroffenen Kanzlei nicht gedeckte Anweisung des Rechtsanwaltes bei einem bereits unmittelbar vorangegangenen Fehler bei der Fristbearbeitung betroffen, wohingegen im vorliegenden Fall das von Rechtsanwalt Dr. M. verfügte Vorgehen ohnehin der einschlägigen allgemeinen und unmissverständlichen Kanzleianweisung entsprochen habe.

Die Kläger beantragen,

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand,

sodann

unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Mannheim vom 25.10.2016 - 1 O 157/13 - festzustellen, dass der Beklagte wegen des Hinüberwachsens seiner Trauerweide in die Regenleitung der Kläger die Erstattung weitergehender Aufwendungen dem Grunde nach schuldet.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung und den Wiedereinsetzungsantrag zurückzuweisen.

Er macht geltend, Rechtsanwalt Dr. M. habe bemerken müssen, dass ihm die Handakte entgegen seiner Weisung nicht „sofort“ vorgelegt wurde und er keine „sofortige“ Ausführungsbestätigung erhielt.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen verwiesen.

Aus den Gründen

II.

Der Wiedereinsetzungsantrag der Kläger ist zulässig, aber unbegründet. Die Berufung war damit wegen Verfristung als unzulässig zu verwerfen.

1.

Die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist durch die Kläger war nicht frei von zurechenbarem Anwaltsverschulden (§§ 233, 85 Abs. 2 ZPO). Rechtsanwalt Dr. M. hat die äußerst strengen Sorgfaltspflichten, denen ein Rechtsanwalt im Zusammenhang mit prozessualen Fristen unterliegt, verletzt, indem er keine Gegenprüfung vornahm bezüglich der vom ihm am 9.11.2016 verfügten Eintragung der Berufungsbegründungsfrist.

a) Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt die eigenständige Überprüfung, ob die Rechtsmittel(begründungs)fristen zutreffend berechnet und eingetragen sind. Er hat alles ihm Zumutbare zu tun, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Überlässt er die Berechnung und Notierung von Routinefristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft, hat er durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind (BGH, Beschluss vom 12. November 2013 - II ZB 17/12 -, Rn. 15, juris). Die Überprüfungspflicht erstreckt sich auch darauf, ob das (zutreffend errechnete) Fristende im Fristenkalender notiert worden ist (BGH a.a.O. Rn. 17, juris). Dabei kann sich der Rechtsanwalt grundsätzlich auf die Prüfung des Erledigungsvermerks in der Handakte beschränken (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2008 - VI ZB 46/07 -, Rn. 6, juris), wobei ihn diese Pflicht zur Überprüfung der Handakte nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht schlechthin, aber jedenfalls immer dann trifft, wenn ihm die Handakte zur Fertigung eines fristgebundenen Schriftsatzes vorgelegt wird (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2008 - VI ZB 46/07 -, Rn. 6, juris BGH, Beschluss vom 02. November 2011 - XII ZB 317/11 -, Rn. 11, juris BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - XII ZB 250/11 -, Rn. 9, juris).

b) Der Fall, dass die Handakte dem Rechtsanwalt weder bei Unterzeichnung noch bei Absendung der Berufungsschrift, sondern - bis zur Versäumung der Berufungsbegründungsfrist - überhaupt nicht vorgelegt wird, ist höchstrichterlich bislang nicht entschieden und - soweit ersichtlich - bislang nirgends explizit erörtert worden. Den Klägern ist zuzugeben, dass der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung formuliert, der Rechtsanwalt müsse sich eines Erledigungsvermerks in der Handakte vergewissern, „wenn“ ihm die Handakte im Zusammenhang mit einem fristgebundenen Schriftsatz vorgelegt werde. Daraus kann aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass eine anwaltliche Pflicht zur Gegenkontrolle stets nur in einer solchen Situation denkbar sei oder gar die anwaltliche Sorgfaltspflicht, wenn dem Rechtsanwalt die Handakte überhaupt nicht vorgelegt wird, bereits deshalb gewahrt sei. Vielmehr ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs selbstverständlich, dass eine Pflicht zur anwaltlichen Gegenkontrolle nicht nur bei Vorlage der Handakte zwecks Fertigung eines fristgebundenen Schriftsatzes besteht, sondern dass - je nach Fallgestaltung - auch „sonst ausnahmsweise Anlass zur konkreten Kontrolle besteht“ (BGH, Beschluss vom 05. Februar 2003 - VIII ZB 115/02 -, Rn. 13, juris).

c) Ein solcher Anlass bestand hier:

aa) Bescheinigt der Rechtsanwalt - wie hier am 09.11.2016 geschehen - den Empfang eines ohne Handakten vorgelegten Urteils, so steigert dies die Gefahr, dass die Fristnotierung unterbleibt, und damit die Sorgfaltspflicht des Anwalts, dies zu vermeiden. Er muss, falls er sich die mit dem entsprechenden Vermerk versehene Handakte nicht sogleich nachreichen lässt oder er nicht selbst unverzüglich die notwendigen Eintragungen in der Handakte und im Fristenkalender vornimmt, durch eine besondere Einzelanweisung die erforderlichen Notierungen veranlassen (BGH, Beschluss vom 19. September 2013 - III ZR 202/13 -, Rn. 4, juris).

bb) Ob eine solche, den Anwalt von einer Gegenkontrollpflicht befreiende „besondere Einzelanweisung“ hier vorliegt, ist zumindest fraglich. Denn sie muss nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich die Aufforderung an das Büropersonal enthalten, die fristeinhaltungssichernde Maßnahme sofort auszuführen und jeder anderen Tätigkeit vorzuziehen. Bereits die Einzelanweisung, einen Schriftsatz zum Postausgang zu geben, ist zu unsicher, wenn der Schriftsatz zuvor per Telefax versandt werden soll (BGH, Beschluss vom 10. Februar 2016 - VII ZB 36/15 -, Rn. 12, juris: keine Wiedereinsetzung, wenn die Absendung per Post vergessen wird). Erst recht ist demzufolge eine Weisung zu riskant, wonach die Hilfskraft vor der fristwahrenden Maßnahme noch eine Akte anlegen soll, zumal nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sämtliche Arbeitsabläufe so gestaltet werden müssen, dass auch bei unerwarteten Störungen des Geschäftsablaufs bei Anlegung eines „äußersten Sorgfaltsmaßstabes“ die Einhaltung von Fristen gewährleistet ist (BGH, Beschluss vom 05. Februar 2003 - VIII ZB 115/02 -, Rn. 9, juris). Dass eine allgemeine Büroanweisung bestanden habe, einen Auftrag zur Fristeneintragung stets allen anderen Tätigkeiten vorzuziehen (ggfs. wäre es entbehrlich, das Vorziehen der Fristeintragung im Einzelfall anzuordnen, BGH, Beschluss vom 05. Juni 2013 - XII ZB 47/10 -, Rn. 12, juris), machen die Kläger nicht geltend. Vielmehr machen sie auf den Hinweis des Senates vom 13.03.2017, wonach die Anweisung, vor der Fristeintragung eine Berufungsakte anzulegen, risikoträchtig sei, lediglich geltend, diese Vorgehensweise entspreche einer allgemeinen Kanzleianordnung.

cc) Ob ein großzügigerer Maßstab gilt, wenn die Einzelanweisung nicht bloß mündlich erteilt, sondern von der Gehilfin in Anwesenheit des Rechtsanwalts notiert wird (auf die bloße Mündlichkeit abstellend BGH, Beschluss vom 10. Februar 2016 - VII ZB 36/15 -, Rn. 12, juris), ist fraglich, kann jedoch offen bleiben. Denn auch wenn der Rechtsanwalt eine ausreichende Einzelanweisung erteilt hat, heißt dies nicht, dass eine anwaltliche Gegenkontrolle anschließend unter keinen Umständen erforderlich ist und sogar dann unterbleiben darf, wenn sich im unmittelbaren Anschluss - und später nochmals - konkrete Anhaltspunkte dafür einstellen, dass die Fristen weisungswidrig nicht notiert wurden. So war es hier aber:

(1) Zweifel an der Erfassung der Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender mussten sich Rechtsanwalt Dr. M. bereits am 9.11.2016 aufdrängen, als weisungswidrig die „sofortige“ Wiedervorlage unterblieb und damit Anhaltspunkte dafür zutage traten, dass auch die zugleich verfügte Eintragung der Fristen vergessen worden war. Diese Anhaltspunkte traten auch innerhalb einer Zeitspanne auf, binnen derer von Rechtsanwalt Dr. M. - der „sofortige“ Wiedervorlage verfügt hatte - erwartet werden konnte, seine Aufmerksamkeit dieser Angelegenheit zuzuwenden. Dies gilt umso mehr, als Rechtsanwalt Dr. M. die sofortige Vorlage eines Ausführungsvermerks verfügt hatte, dies also eigens prüfen wollte und auf die Ausführung seiner Weisung somit gerade nicht vertraute.

(2) Ein weiteres Mal musste Rechtsanwalt Dr. M. am 08.12.2016 an der Fristerfassung zweifeln. Er hatte nach seinen Angaben die Berufungsschrift schon am Tag der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils - dem 09.11.2016 - noch vor Anlage der Handakten gefertigt, sie sodann jedoch längere Zeit in einer Postausgangsmappe aufbewahrt, um den Klägern Bedenkzeit hinsichtlich der Berufungseinlegung zu geben, und erst am 08.12.2016, dem vorletzten Tag der Berufungsfrist versandt, ohne dass ihm die Handakten anlässlich des bevorstehenden Ablaufs der Berufungsfrist vorlagen. Dies gab für ihn dringenden Anlass, die Handakte aufzusuchen und dort die ordnungsgemäße Eintragung der Fristen zu überprüfen. Denn bei Eintragung und Beachtung der Berufungsfrist (09.12.2016) nebst Vorfrist von einer Woche, wie von ihm angewiesen, hätte ihm die Handakte jetzt vorliegen müssen. Eine anwaltliche Pflicht zur Gegenkontrolle der Fristen anhand der Handakte ist nicht nur anzunehmen, wenn die Handakte zur Fertigung eines fristgebundenen Schriftsatzes vorgelegt wird, sondern umso mehr dann, wenn der Rechtsanwalt erkennen muss, dass ihm die Handakte zur Fertigung eines fristgebundenen Schriftsatzes vorliegen müsste, sie aber tatsächlich nicht vorgelegt wurde.

Eine solche Gegenkontrolle anlässlich der Absendung der Berufungsschrift am 08.12.2016 hätte die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist verhindert, denn hierbei hätte Rechtsanwalt Dr. M. feststellen können, dass weder die Berufungs- noch die Berufungsbegründungsfrist eingetragen wurde, und für die rechtzeitige Behebung dieses Mangels sorgen können.

d) War somit schon auf Basis der klägerseits geltend gemachten Umstände keine Wiedereinsetzung zu gewähren, so kann auch dahin stehen, ob diese Umstände - insbesondere was den ungewöhnlichen Ablauf bei Erstellung und Absendung der Berufungsschrift angeht - glaubhaft gemacht sind.

2.

Bezüglich der Berufung bleibt es dabei, dass diese wegen Versäumung der am 09.01.2017 abgelaufenen Berufungsbegründungsfrist zu verwerfen war.

III.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 3 ZPO.

stats