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Wirtschaftsrecht
07.03.2014
Wirtschaftsrecht
EuGH: Anhängigkeit von Verfahren wegen desselben Anspruchs bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten

EuGH, Urteil vom 27.2.2014 - Rs. C‑1/13


Tenor


Art. 27 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass davon auszugehen ist, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts, wenn nicht eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach dieser Verordnung besteht, im Sinne dieser Vorschrift feststeht, wenn sich dieses Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt hat und keine der Parteien seine Zuständigkeit vor oder mit der Stellungnahme, die nach dem innerstaatlichen Prozessrecht als das erste Verteidigungsvorbringen zur Sache vor diesem Gericht anzusehen ist, gerügt hat.


Aus den Gründen


1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).



2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Cartier parfums - lunettes SAS (im Folgenden: Cartier) und der Axa Corporate Solutions assurances SA (im Folgenden: Axa assurances) einerseits und der Ziegler France SA (im Folgenden: Ziegler France), der Montgomery Transports SARL (im Folgenden: Montgomery Transports), der Inko Trade s.r.o. (im Folgenden: Inko Trade), Jaroslav Matěja und Groupama Transport andererseits über den Ersatz des Schadens, der Cartier und Axa assurances bei einem internationalen Straßengütertransport durch einen Diebstahl von Waren entstanden ist.



 Rechtlicher Rahmen



 Verordnung Nr. 44/2001



3 Im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es, dass „[d]ie Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen ... das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts [erschweren]. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen und die Formalitäten im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus den durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaaten zu vereinfachen".



4 Der 15. Erwägungsgrund dieser Verordnung lautet:



„Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen. Es sollte eine klare und wirksame Regelung zur Klärung von Fragen der Rechtshängigkeit und der im Zusammenhang stehenden Verfahren sowie zur Verhinderung von Problemen vorgesehen werden, die sich aus der einzelstaatlich unterschiedlichen Festlegung des Zeitpunkts ergeben, von dem an ein Verfahren als rechtshängig gilt. Für die Zwecke dieser Verordnung sollte dieser Zeitpunkt autonom festgelegt werden."



5 Art. 24 in Abschnitt 7 („Vereinbarung über die Zuständigkeit") des Kapitels II dieser Verordnung, das die Zuständigkeitsvorschriften betrifft, bestimmt:



„Sofern das Gericht eines Mitgliedstaats nicht bereits nach anderen Vorschriften dieser Verordnung zuständig ist, wird es zuständig, wenn sich der Beklagte vor ihm auf das Verfahren einlässt. Dies gilt nicht, wenn der Beklagte sich einlässt, um den Mangel der Zuständigkeit geltend zu machen oder wenn ein anderes Gericht aufgrund des Artikels 22 ausschließlich zuständig ist."



6 Art. 25 in Abschnitt 8 („Prüfung der Zuständigkeit und der Zulässigkeit des Verfahrens") des Kapitels II der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:



„Das Gericht eines Mitgliedstaats hat sich von Amts wegen für unzuständig zu erklären, wenn es wegen einer Streitigkeit angerufen wird, für die das Gericht eines anderen Mitgliedstaats aufgrund des Artikels 22 ausschließlich zuständig ist."



7 Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001, der zu Abschnitt 9 („Rechtshängigkeit und im Zusammenhang stehende Verfahren") des Kapitels II der Verordnung gehört, sieht vor:



„(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.



(2) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig."



 Brüsseler Übereinkommen



8 Die Verordnung Nr. 44/2001 ist in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten an die Stelle des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der aufeinanderfolgenden Übereinkommen über den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) getreten. Art. 18 in Abschnitt 6 („Vereinbarung über die Zuständigkeit") dieses Übereinkommens lautete:



„Sofern das Gericht eines Vertragsstaats nicht bereits nach anderen Vorschriften dieses Übereinkommens zuständig ist, wird es zuständig, wenn sich der Beklagte vor ihm auf das Verfahren einlässt. Dies gilt nicht, wenn der Beklagte sich nur einlässt, um den Mangel der Zuständigkeit geltend zu machen oder wenn ein anderes Gericht aufgrund des Artikels 16 ausschließlich zuständig ist."



9 Art. 21 in Abschnitt 8 („Rechtsanhängigkeit und im Zusammenhang stehende Verfahren") des Brüsseler Übereinkommens bestimmte in seiner ursprünglichen Fassung:



„Werden bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so hat sich das später angerufene Gericht von Amts wegen zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären.



Das Gericht, das sich für unzuständig zu erklären hätte, kann die Entscheidung aussetzen, wenn der Mangel der Zuständigkeit des anderen Gerichts geltend gemacht wird."



 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage



10 Cartier hatte Ziegler France mit dem Straßentransport von Kosmetikprodukten von Genas (Frankreich) nach Wickford (Vereinigtes Königreich) beauftragt. Ziegler France vergab den Transport dieser Waren als Unterauftrag an Montgomery Transports. Diese vergab die Dienstleistung ihrerseits weiter an Inko Trade, die wiederum Jaroslav Matěja als Unterauftragnehmer einsetzte.



11 Jaroslav Matěja übernahm die Waren im Lager der Gesellschaft Saflog in Genas am 25. September 2007. In der Nacht vom 26. auf den 27. September 2007 um 0.30 Uhr hielt der Fahrer gemäß den geltenden Vorschriften über die Lenkzeiten auf einem Parkplatz im Vereinigten Königreich, um sich auszuruhen. Am folgenden Morgen stellte er fest, dass ein Teil der Ware gestohlen worden war. Die Versicherungsgesellschaft von Cartier, Axa assurances, bezifferte den Schaden auf 145 176,08 Euro. Sie erstattete Cartier einen Betrag von 144 176,08 Euro.



12 Am 24. September 2008 erhoben Cartier und Axa assurances beim Tribunal de commerce de Roubaix-Tourcoing (Handelsgericht Roubaix-Tourcoing) (Frankreich) Klage gegen Ziegler France, Montgomery Transports, Inko Trade und Jaroslav Matěja als Gesamtschuldner auf Zahlung von 145 176,08 Euro.



13 Später machten die Transportunternehmen bei demselben Gericht eine Kette von Haftungsklagen anhängig, denen ihre jeweiligen Versicherer beitraten.



14 Das Tribunal de commerce de Roubaix-Tourcoing ordnete die Verbindung sämtlicher Verfahren an.



15 In der mündlichen Verhandlung vom 28. Oktober 2010 erhob Ziegler France eine Rechtshängigkeitseinrede auf der Grundlage von Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 mit der Begründung, sie habe zuvor mit Schriftsatz vom 16. September 2008 im Vereinigten Königreich den High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (London Mercantile Court), angerufen. Wie sich aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten ergibt, reichte Ziegler France bei dem Gericht im Vereinigten Königreich eine „claim form" ein, die gegen Cartier, die Gesellschaft Saflog und die Wright Kerr Tyson Ltd, Gesellschaft englischen Rechts, zur Prüfung der Haftung und zur Bezifferung des Cartier aus dem fraglichen Diebstahl gegebenenfalls entstandenen Schadens eingetragen wurde.



16 Cartier und Axa assurances machten geltend, diese Einrede sei unzulässig, da sie nicht in limine litis erhoben worden sei. Ziegler France habe nämlich vor der mündlichen Verhandlung vor dem Tribunal de commerce de Roubaix-Tourcoing schriftliche Anträge zur Sache eingereicht, während nach Art. 74 des französischen Code de procédure civile (Zivilprozessgesetzbuch) Verfahrenseinreden nur zulässig seien, wenn sie vor jeglicher Einlassung zur Sache erhoben würden.



17 Ferner machten Cartier und Axa assurances geltend, dass die Einrede der Rechtshängigkeit nicht bloß unzulässig, sondern auch unbegründet sei, da die Zuständigkeit des zuerst angerufenen High Court of Justice nicht im Sinne des Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 feststehe, und dass die beiden Verfahren weder wegen desselben Anspruchs noch zwischen denselben Parteien anhängig seien.



18 Mit Urteil vom 6. Januar 2011 gab das Tribunal de commerce de Roubaix-Tourcoing der von Ziegler France erhobenen Rechtshängigkeitseinrede statt und führte zur Begründung u. a. aus, dass Art. 871 des Code de procédure civile es erlaube, Verfahrenseinreden mündlich zu erheben.



19 Hierzu stellte das Tribunal de commerce fest, dass der High Court of Justice zuerst angerufen worden sei und dass dessen Zuständigkeit nicht gerügt worden sei. Daher erklärte es sich in Bezug auf den Rechtsstreit zwischen Cartier und Axa assurances einerseits und Ziegler France andererseits gemäß Art. 27 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 zugunsten des Gerichts im Vereinigten Königreich für unzuständig. Hinsichtlich der anderen Parteien setzte es das Verfahren bis zur Entscheidung des High Court of Justice aus.



20 Die Cour d'appel de Douai (Berufungsgericht Douai) (Frankreich) bestätigte in ihrem Urteil vom 14. April 2011 das Urteil des Tribunal de commerce de Roubaix-Tourcoing. Zur Begründung führte es aus, dass in dem Rechtsstreit zwischen Cartier und Axa assurances einerseits und Ziegler France andererseits die Voraussetzungen der Rechtshängigkeit erfüllt seien und dass sich das Tribunal de commerce zu Recht zugunsten des High Court of Justice für unzuständig erklärt habe. Aus dem verfahrenseinleitenden Schriftsatz an das Gericht des Vereinigten Königreichs, der vor der Klageerhebung in Frankreich eingereicht worden sei, ergebe sich nämlich ohne Zweifel, dass es sich um denselben, vom Lager der Gesellschaft Saflog aus für Rechnung von Cartier durchgeführten Transport handele und dass, selbst wenn die Parteien der beiden anhängigen Verfahren nur teilweise übereinstimmten, außer Frage stehe, dass die vor dem High Court of Justice verhandelte Frage der Haftung von Ziegler France Auswirkungen auf Montgomery Transports, Inko Trade, Jaroslav Matěja und Groupama Transport habe.



21 Cartier und Axa assurances legten gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein. Sie machten u. a. geltend, dass das Berufungsgericht den Inhalt und die Tragweite von Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 verkannt habe, als es entschieden habe, dass die Zuständigkeit des High Court of Justice gemäß dieser Vorschrift „feststehe", weil diese Zuständigkeit nicht gerügt worden sei. Die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts könne nämlich nur durch eine Entscheidung dieses Gerichts festgestellt werden, mit der seine Unzuständigkeit ausdrücklich verneint werde, oder durch die Erschöpfung der Rechtsbehelfe, die gegen seine Entscheidung über die Zuständigkeit eingelegt werden könnten.



22 Wie sich aus den nationalen Verfahrensakten ergibt, hält es das vorlegende Gericht für unstreitig, dass das Gericht im Vereinigten Königreich zuerst angerufen worden sei und dass die Voraussetzungen in Bezug auf die Identität der Parteien und des Gegenstands der Verfahren im vorliegenden Fall erfüllt seien. Angesichts der unterschiedlichen Auffassungen, die in der Rechtslehre in Frankreich vertreten würden, hat es jedoch Zweifel bezüglich der Tragweite der Wendung „die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht" im Sinne von Art. 27 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001.



23 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:



Ist Art. 27 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, wenn entweder keine Partei seine Unzuständigkeit geltend gemacht hat oder dieses Gericht seine Zuständigkeit in einer Entscheidung festgestellt hat, die, aus welchen Gründen auch immer, unumstößlich ist, insbesondere aufgrund der Erschöpfung des Rechtswegs?



 Zur Vorlagefrage



24 Zunächst ist klarzustellen, dass, obwohl die Frage, ob ein Fall der Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 vorliegt, im Ausgangsverfahren vor dem erstinstanzlichen und vor dem Berufungsgericht streitig war, das vorlegende Gericht den Gerichtshof nur zur Tragweite von Art. 27 Abs. 2 dieser Verordnung befragt hat.



25 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung ausschließlich Sache des mit dem Ausgangsrechtsstreit befassten nationalen Gerichts, das die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung zu übernehmen hat, ist, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls sowohl zu beurteilen, ob eine Vorabentscheidung erforderlich ist, damit es sein Urteil erlassen kann, als auch, ob die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen erheblich sind (Urteil vom 17. Oktober 2013, Unamar, C‑184/12, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).



26 Im Übrigen lassen die beim Gerichtshof eingereichten Akten nicht erkennen, dass für das Ausgangsverfahren eine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 der Verordnung Nr. 44/2001 bestand. Der Gerichtshof hat sich daher nicht zu der Fallgestaltung zu äußern, bei der dem später angerufenen Gericht eine solche Zuständigkeit zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 1991, Overseas Union Insurance u. a., C‑351/89, Slg. 1991, I‑3317, Rn. 20).



27 Somit ist die Frage des vorlegenden Gerichts dahin aufzufassen, dass es wissen möchte, ob Art. 27 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts bereits dann feststeht, wenn keine Partei sich auf seine Unzuständigkeit berufen hat, oder ob es notwendig ist, dass dieses Gericht seine Zuständigkeit durch eine rechtskräftige Entscheidung stillschweigend oder ausdrücklich festgestellt hat.



28 Hierzu ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Informationen, dass sich das zuerst angerufene Gericht im Ausgangsverfahren nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt hat und dass sich Cartier vor ihm auf das Verfahren eingelassen hat und die Ansprüche von Ziegler France in der Sache bestritten hat, ohne sich auf die Unzuständigkeit dieses Gerichts zu berufen.



29 Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 bei Anhängigkeit einer Rechtssache bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten das später angerufene Gericht das Verfahren aussetzt, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.



30 Außerdem sieht Abs. 2 dieser Vorschrift vor, dass sich das später angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig erklärt, sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.



31 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass in der Verordnung Nr. 44/2001, wie die französische Regierung und die Europäische Kommission zu Recht ausgeführt haben, nicht klargestellt wird, unter welchen Umständen davon auszugehen ist, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts im Sinne des Art. 27 dieser Verordnung „feststeht".



32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Vorschriften der genannten Verordnung autonom unter Berücksichtigung ihrer Systematik und ihrer Zielsetzungen auszulegen (vgl. Urteil vom 15. November 2012, Gothaer Allgemeine Versicherung u. a., C‑456/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).



33 Für die Beantwortung der vorgelegten Frage sind daher die allgemeine Systematik und der Zweck der Verordnung Nr. 44/2001 zu berücksichtigen.



34 Was erstens die allgemeine Systematik der Verordnung Nr. 44/2001 betrifft, sieht deren Art. 24 Satz 1 für alle Streitigkeiten, bei denen sich die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nicht aus anderen Vorschriften dieser Verordnung ergibt, eine auf der Einlassung des Beklagten beruhende Zuständigkeitsregel vor. Diese Bestimmung findet auch in Fällen Anwendung, in denen das Gericht unter Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Verordnung angerufen worden ist, und beinhaltet, dass die Einlassung des Beklagten als stillschweigende Anerkennung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und somit als Vereinbarung der Zuständigkeit dieses Gerichts betrachtet werden kann (Urteil vom 20. Mai 2010, ČPP Vienna Insurance Group, C‑111/09, Slg. 2010, I‑4545, Rn. 21).



35 Art. 24 Satz 2 der Verordnung Nr. 44/2001 regelt Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel. Danach liegt keine stillschweigende Vereinbarung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts vor, wenn der Beklagte eine Einrede der Unzuständigkeit erhebt und auf diese Weise seinen Willen zum Ausdruck bringt, die Zuständigkeit dieses Gerichts nicht anzuerkennen, oder wenn es sich um Rechtsstreitigkeiten handelt, für die nach Art. 22 der Verordnung eine ausschließliche Zuständigkeit besteht (Urteil ČPP Vienna Insurance Group, Rn. 22).



36 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass sich aus dem Zweck des Art. 18 des Brüsseler Übereinkommens - der im Wesentlichen Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 entspricht - ergibt, dass die Rüge der fehlenden Zuständigkeit, soweit sie nicht vor jeglicher Einlassung zur Sache erhoben wird, keinesfalls mehr nach Abgabe derjenigen Stellungnahme erhoben werden kann, die nach dem innerstaatlichen Prozessrecht als das erste Verteidigungsvorbringen vor dem angerufenen Gericht anzusehen ist (Urteile vom 24. Juni 1981, Elefanten Schuh, 150/80, Slg. 1981, 1671, Rn. 16, und vom 13. Juni 2013, Goldbet Sportwetten, C‑144/12, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 37).



37 Außerdem ist entschieden worden, dass Art. 18 des Brüsseler Übereinkommens auch dann Anwendung findet, wenn sich der Beklagte sowohl zur Zuständigkeit des angerufenen Gerichts als auch in der Sache äußert. Die Rüge der fehlenden Zuständigkeit kann jedoch nur dann die in Art. 18 vorgesehene Folge haben, wenn der Kläger und das angerufene Gericht schon bei der ersten Einlassung des Beklagten erkennen können, dass diese sich gegen die Zuständigkeit des Gerichts richtet (vgl. in diesem Sinne Urteil Elefanten Schuh, Rn. 14 und 15).



38 Daraus ergibt sich, dass mit dem durch die Verordnung Nr. 44/2001 eingeführten System, wie es sich aus deren Art. 24 und 27 ergibt, vermieden werden soll, dass sich die Dauer der Verfahrensaussetzung beim später angerufenen Gericht verlängert, obwohl die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts, wie in Rn. 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt, tatsächlich nicht mehr gerügt werden kann.



39 Diese Gefahr besteht jedoch nicht, wenn sich, wie im Ausgangsverfahren, das zuerst angerufene Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt hat und keine der Parteien seine Zuständigkeit vor oder mit der Stellungnahme, die nach dem innerstaatlichen Prozessrecht als das erste Verteidigungsvorbringen anzusehen ist, gerügt hat.



40 Was zweitens den Zweck der Verordnung Nr. 44/2001 betrifft, besteht eines der Ziele dieser Verordnung, wie sich aus ihrem 15. Erwägungsgrund ergibt, darin, Parallelverfahren so weit wie möglich zu vermeiden, damit nicht miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen, wenn mehrere Gerichte für die Entscheidung desselben Rechtsstreits zuständig sind. Zu diesem Zweck beabsichtigte der Unionsgesetzgeber, einen klaren und wirksamen Mechanismus einzuführen, um die Fälle der Rechtshängigkeit zu lösen. Daraus ergibt sich, dass Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 zum Zwecke der Erreichung dieser Ziele weit auszulegen ist (Urteil Overseas Union Insurance u. a., Rn. 16).



41 Es ist festzustellen, dass eine Auslegung von Art. 27 Abs. 2 dieser Verordnung in der Weise, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts nur dann im Sinne dieser Vorschrift feststeht, wenn dieses Gericht seine Zuständigkeit stillschweigend oder ausdrücklich durch rechtskräftige Entscheidung anerkannt hat, den mit dieser Verordnung aufgestellten Regeln im Hinblick auf die Lösung von Fällen der Rechtshängigkeit jede Wirksamkeit nähme, da sie die Gefahr von Parallelverfahren erhöhte.



42 Im Übrigen ergibt sich aus dem Bericht von Herrn Jenard zum Brüsseler Übereinkommen (ABl. 1979, C 59, S. 1) und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 21 dieses Übereinkommens, der Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 entspricht, dass mit der Rechtshängigkeitsregelung auch bezweckt wird, negative Zuständigkeitskonflikte zu vermeiden. Diese Regelung ist nämlich eingeführt worden, damit die Parteien nicht gezwungen sind, einen neuen Prozess zu führen, wenn sich z. B. das zuerst angerufene Gericht später für unzuständig erklären sollte (vgl. Urteil Overseas Union Insurance u. a., Rn. 22).



43 Hat sich das zuerst angerufene Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt und ist vor ihm keine Unzuständigkeitseinrede erhoben worden, kann aber eine Erklärung, mit der sich das später angerufene Gericht für unzuständig erklärt, nicht zu einem negativen Zuständigkeitskonflikt führen, da die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts nicht mehr in Frage gestellt werden kann.



44 Folglich ergibt sich sowohl aus der allgemeinen Systematik als auch aus dem Zweck der Verordnung Nr. 44/2001, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts, sofern nicht eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach dieser Verordnung besteht, bereits dann im Sinne von Art. 27 Abs. 2 dieser Verordnung feststeht, wenn sich das zuerst angerufene Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt hat und keine der Parteien seine Zuständigkeit vor oder mit der Stellungnahme, die nach dem innerstaatlichen Prozessrecht als das erste Verteidigungsvorbringen anzusehen ist, gerügt hat.



45 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 27 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass davon auszugehen ist, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts, wenn nicht eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nach dieser Verordnung besteht, im Sinne dieser Vorschrift feststeht, wenn sich dieses Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt hat und keine der Parteien seine Zuständigkeit vor oder mit der Stellungnahme, die nach dem innerstaatlichen Prozessrecht als das erste Verteidigungsvorbringen zur Sache vor diesem Gericht anzusehen ist, gerügt hat.



 Kosten



46 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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