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Wirtschaftsrecht
29.03.2012
Wirtschaftsrecht
BGH: § 148 ZPO enthält keine Ermächtigung zur Verfahrensaussetzung zwecks Abwendung einer Mehrbelastung des Gerichts

BGH, Beschluss vom 28.2.2012 - VIII ZB 54/11


leisätze


a) Der Umstand, dass beim Bundesgerichtshof ein Revisionsverfahren anhän-gig ist, in dem über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beant-wortung auch die Entscheidung eines zweiten Rechtsstreits ganz oder teil-weise abhängt, rechtfertigt die Aussetzung der Verhandlung des zweiten Rechtsstreits grundsätzlich auch dann nicht, wenn bei dem zur Entscheidung berufenen Gericht eine Vielzahl von gleich gelagerten Fällen anhängig ist.


b) Es bleibt offen, ob eine Aussetzung ausnahmsweise dann erfolgen darf, wenn die Zahl der bei dem Gericht anhängigen Verfahren die Grenze erreicht, bei der eine angemessene Bewältigung schlechthin nicht mehr mög-lich ist (Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 377 und X ZB 20/04, juris Rn. 13, 15).


ZPO § 148


sachverhalt


I. Die Klägerin begehrt von dem beklagten Sonderkunden die Zahlung rest-lichen Entgelts für Gaslieferungen; insoweit streiten die Parteien über die Be-rechtigung von Gaspreiserhöhungen. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landgericht (Zivilkammer 4) hat das Berufungsverfahren analog § 148 ZPO bis zur Entscheidung der beim Senat anhängigen Revisionsverfah-ren VIII ZR 93/11 und VIII ZR 94/11, die Parallelverfahren der Klägerin gegen andere Kunden betreffen, ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die vom Landge-richt zugelassene Rechtsbeschwerde des Beklagten.


aus den gründen


3          II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.


4          1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesent-lichen ausgeführt:


Zwar sei eine Vorgreiflichkeit im Sinne des § 148 ZPO nicht gegeben. Das vorliegende Verfahren könne aber analog § 148 ZPO ausgesetzt werden, da es sich hierbei um einen Teil eines "Massenverfahrens" handele und die Unmöglichkeit einer angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so erhöhe, dass hierdurch ein qualitativ anderer Wertungsgesichtspunkt als die "normale" Prozessökono-mie begründet werde. Bei dem Landgericht Hamburg seien mehrere Hundert gleichgelagerte Berufungen anhängig. Nach Abschluss der beim Bundesge-richtshof anhängigen Revisionsverfahren sei zu erwarten, dass entweder die Klägerin ihre Berufung zurücknehme oder die Beklagtenseite den Klagean-spruch anerkenne. Eine streitige Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde daher zu einer erheblichen Mehrbelastung des Gerichts führen. Sie wäre insbesondere auch für die betroffenen Parteien in einem Maße unwirtschaftlich, dass es gerechtfertigt erscheine, dem Wertungs-gesichtspunkt der Prozessökonomie das erforderliche Gewicht beizumessen.


5          2. Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.


6          a) Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechts-streits auszusetzen ist. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit die Vor-greiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus, also dass die Entscheidung in dem einen Rechtsstreit die Entscheidung des anderen rechtlich beeinflussen kann (BGH, Beschluss vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 375). Diese Voraussetzung ist - wie das Landgericht auch er-kannt hat - vorliegend nicht erfüllt, da die beim Senat anhängigen Revisionsver-fahren VIII ZR 93/11 und VIII ZR 94/11 im Hinblick auf das der Rechtsbe-schwerde zu Grunde liegende Verfahren weder materielle Rechtskraft entfalten noch Gestaltungs- oder Interventionswirkung haben (vgl. Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl., § 148 Rn. 23 ff.). Es genügt nicht, dass die in den genannten Revisionsverfahren zu erwartenden Entscheidungen (lediglich) geeignet sind, einen rein tatsächlichen Einfluss auf die zu treffende Entscheidung zu haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO; vom 25. Januar 2006 - IV ZB 36/03, juris Rn. 2; BAG, NJOZ 2005, 2318, 2324).


7          b) Allein die Tatsache, dass in einem anderen Verfahren über einen gleich oder ähnlich gelagerten Fall nach Art eines Musterprozesses entschie-den werden soll, rechtfertigt für sich genommen ebenfalls noch keine Ausset-zung analog § 148 ZPO (BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO S. 376, und X ZB 20/04, juris Rn. 11; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. Januar 2006 - IV ZB 36/03, aaO; Senatsurteil vom 21. Februar 1983 - VIII ZR 4/82, NJW 1983, 2496 unter II 2 a; OLG Stuttgart, OLGR 1999, 134 f.).


Insbesondere enthält § 148 ZPO keine allgemeine Ermächtigung, die Verhand-lung eines Rechtsstreits zur Abwendung einer vermeidbaren Mehrbelastung des Gerichts auszusetzen (BGH, Beschluss vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO). Denn die Vorschrift stellt nicht auf sachliche oder tatsächliche Zusam-menhänge zwischen verschiedenen Verfahren, sondern auf die Abhängigkeit vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab. Allein die tat-sächliche Möglichkeit eines Einflusses genügt dieser gesetzlichen Vorausset-zung nicht, so dass die bloße Übereinstimmung in einer entscheidungserhebli-chen Rechtsfrage die Aussetzung noch nicht erlaubt (BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO S. 377, und X ZB 20/04, juris Rn. 15; BFH, BFH/NV 2010, 1847). Dem entsprechend hat auch der Gesetzgeber mit § 7 KapMuG und § 93a VwGO eigens spezialgesetzliche Grundlagen für eine von § 148 ZPO beziehungsweise der parallelen Vorschrift des § 94 VwGO an sich nicht mehr gedeckte Aussetzung von Musterverfahren geschaffen (vgl. BT-Drucks. 11/7030 S. 28; 15/5091 S. 14).


8          c) Die vom Bundesgerichtshof in diesem Zusammenhang bislang aus-drücklich offen gelassene Frage, ob bei "Massenverfahren" die Unmöglichkeit der angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so zu erhöhen vermag, dass hierin ein nicht nur quantitativ, sondern qualitativ anderer Wertungsgesichtspunkt als die "normale" Prozessökonomie hervortritt (BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO S. 377, und X ZB 20/04, aaO Rn. 13; vgl. auch Stürner, JZ 1978, 499), bedarf auch vorliegend keiner Entscheidung. Voraussetzung für die Annahme eines derartigen "Massenverfahrens" wäre jedenfalls, dass das Ge-richt mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren befasst ist (BGH, Beschluss vom 30. März 2005 - X ZB 20/04, aaO Rn. 15). Dazu hat das Landgericht bislang keine zureichenden Feststellungen getroffen.


9         


Der Beschluss lässt bereits nicht erkennen, wie viele der bei dem Land-gericht Hamburg anhängigen gleichgelagerten Berufungsverfahren, deren Zahl mit mehreren Hundert angegeben ist, gerade bei der Zivilkammer 4 anhängig sind. Diese Angabe ist jedoch erforderlich, um beurteilen zu können, ob das Gericht mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleichgelager-ten Verfahren befasst ist, die es gegebenenfalls rechtfertigen könnte, aus be-sonderen verfahrenswirtschaftlichen Erwägungen eine Aussetzung jedenfalls eines Teils der anhängigen Verfahren in Betracht zu ziehen. Allein der Um-stand, dass auch bei anderen Spruchkörpern desselben Gerichts weitere gleichgelagerte Verfahren anhängig sind, lässt eine solche Aussetzung in ent-sprechender Anwendung des § 148 ZPO nicht zu, da dies für die Belastung des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers und dessen Fähigkeit zur ange-messenen Bewältigung der bei ihm anhängigen Verfahren ohne Aussagekraft ist.


10        Ebenso wenig wird eine solche Aussetzung durch die Überlegung des Berufungsgerichts gerechtfertigt, dass eine streitige Fortsetzung des vorliegen-den Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einer erheblichen Mehrbelas-tung des Gerichts führen würde und auch für die betroffenen Parteien in beson-derer Weise unwirtschaftlich wäre. Zu einer solchen erheblichen Mehrbelastung der Zivilkammer 4 ist - wie ausgeführt - nichts Näheres festgestellt, so dass sich auch schon deshalb der Hinweis auf die Unwirtschaftlichkeit einer Verfahrens-fortsetzung noch im Bereich "normaler" Prozessökonomie bewegt, die die vorgenommene Verfahrensaussetzung nicht trägt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, und X ZB 20/04; jeweils aaO).

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