BVerG: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen verfassungsgemäß
Die gesetzlich angeordnete Verzinsung von Kartellgeldbußen, die durch einen Bescheid der Kartellbehörde festgesetzt worden sind, ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat der Erste Senat des BVerfG mit Beschluss vom 19.12.2012 - 1 BvL 18/11 entschieden. Das OLG Düsseldorf hatte die entsprechende Regelung aus dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur verfassungsrechtlichen Prüfung vorgelegt. Diese verstößt weder gegen den Gleichheitssatz noch gegen die Garantie effektiven Rechtsschutzes.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:
1. Gemäß § 81 Abs. 6 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) sind seit 2005 Geldbußen wegen Kartellordnungswidrigkeiten in bestimmten Fällen zu verzinsen. Die Zinsverpflichtung betrifft nur Geldbußen, die gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen in einem Bußgeldbescheid der Kartellbehörde festgesetzt worden sind. Der jährliche Zinssatz beträgt - entsprechend der Regelung des BGB für Verzugszinsen - fünf Prozentpunkte über dem jeweils gültigen Basiszinssatz (derzeit: 4,87 % p. a.). Im Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde zur Begründung der Vorschrift unter anderem ausgeführt, Unternehmen erzielten in der Praxis allein dadurch einen erheblichen Zinsgewinn, dass sie gegen den Bußgeldbescheid Einspruch einlegten und diesen kurz vor der gerichtlichen Entscheidung wieder zurücknähmen.
2. Die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens betreibt ein Versicherungsunternehmen in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Gegen einen Bußgeldbescheid des Bundeskartellamts vom 17.3.2005 über insgesamt 6,4 Mio. Euro wegen vorsätzlicher Verstöße gegen das Kartellverbot (§ 1 GWB) legte sie Einspruch ein. Bezogen auf einen Bußgeldbetrag von 0,4 Mio. Euro wurde das Verfahren vor Gericht teilweise eingestellt. Im Übrigen nahm die Antragstellerin später ihren Einspruch am 15.7.2009 zurück und beglich die verbliebene Geldbuße in Höhe von 6 Mio. Euro. Im Jahr 2011 forderte das Bundeskartellamt die Antragstellerin auf, weitere rund 1,77 Mio. Euro als Zinsen auf die Geldbuße zu zahlen. Hiergegen wandte sich die Antragstellerin an das OLG Düsseldorf. Dieses hat das Verfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 81 Abs. 6 GWB zur Entscheidung vorgelegt.
3. Die zur Prüfung vorgelegte Vorschrift ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
a) Sie verstößt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG).
aa) Die Beschränkung auf Kartellgeldbußen gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen lässt sich auf einen hinreichenden Sachgrund stützen. Der Gesetzgeber hält die Gefahr, dass Einsprüche zur Erzielung finanzieller Vorteile durch Verfahrensverzögerung rechtsmissbräuchlich eingelegt werden, in dieser Fallgruppe für besonders groß und will ihr entgegenwirken. Diese Einschätzung ist nachvollziehbar und bewegt sich im Rahmen seines Prognosespielraums. Der Gesetzgeber ist nicht gezwungen, das optimale Abgrenzungskriterium für die Erreichung seiner Ziele zu wählen, sondern kann sich darauf beschränken, ein Kriterium zu wählen, das zwar die wesentlichen, nicht aber alle denkbaren Fälle erfasst.
Für natürliche Personen mit Unternehmenseigenschaft besteht keine Verzinsungspflicht. Eine beachtliche Gefahr rechtsmissbräuchlicher Einspruchserhebungen lässt sich bei dieser Personengruppe jedoch schon deshalb nicht feststellen, weil Kartellgeldbußen gegen sie in nur unerheblicher Zahl verhängt werden. Zudem bleibt deren Höhe typischerweise deutlich hinter den Beträgen zurück, die gegen juristische Personen verhängt werden. Dies vermindert den Anreiz, einen Einspruch zu erheben, allein um die Bestandskraft des Bußgeldbescheids zu verzögern.
Auch für natürliche Personen ohne Unternehmenseigenschaft, gegen die sich Kartellgeldbußen aufgrund der ordnungswidrigkeitenrechtlichen Organ- und Vertreterhaftung ebenfalls richten können, besteht keine Verzinsungspflicht. Die Zahl der Bußgeldbescheide gegen diese Personengruppe erreicht zwar eine Größenordnung, die der gegen juristische Personen nahekommt. Jedoch ist die Höhe der verhängten Geldbußen auch hier typischerweise geringer. Dies ist zum einen dadurch zu erklären, dass der erweiterte, über 1 Mio. Euro hinausreichende Bußgeldrahmen auf natürliche Personen ohne Unternehmenseigenschaft keine Anwendung findet. Zum anderen können Kartellgeldbußen ihrer Höhe nach auch dazu dienen, den wirtschaftlichen Vorteil abzuschöpfen, der sich aber regelmäßig nicht im Vermögen des handelnden Organs oder Vertreters niederschlägt sondern in dem des repräsentierten Unternehmens.
Es begegnet daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass der Gesetzgeber von einer Erstreckung der Verzinsungspflicht auf natürliche Personen mit bzw. ohne Unternehmenseigenschaft abgesehen hat.
bb) Auch aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber nur für Kartellgeldbußen - nicht aber in anderen Rechtsgebieten - eine Zinsverpflichtung geschaffen hat, folgt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Es fehlt insoweit bereits an vergleichbaren Sachverhalten, deren unterschiedliche Behandlung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG geprüft werden könnte, weil Ordnungswidrigkeiten dem jeweiligen Fachrecht zugeordnet sind.
cc) Die Vorschrift ist schließlich nicht deshalb mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar, weil sie die Verzinsung nicht auch auf solche Geldbußen erstreckt, die durch das Kartellgericht festgesetzt werden. Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist angesichts des Ziels, der rechtsmissbräuchlichen Einlegung von Einsprüchen zur Erlangung finanzieller Vorteile entgegenzuwirken, frei von Willkür, wenn nicht sogar naheliegend. Führt das betroffene Unternehmen eine gerichtliche Sachentscheidung herbei, so hat es Kartellbehörde und Kartellgericht nicht zweckwidrig nur zur Verfahrensverzögerung belastet, sondern die staatlichen Institutionen entsprechend ihrer Funktion tatsächlich in Anspruch genommen.
b) Die Pflicht zur Verzinsung von Kartellgeldbußen verstößt ferner nicht gegen die Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG).
aa) Mit der Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen verfolgt der Gesetzgeber zwar das Ziel, Unternehmen von Einsprüchen gegen Kartellbußgeldbescheide abzuhalten. Er zielt damit jedoch nur auf Einsprüche, die allein zur Erlangung finanzieller Vorteile eingelegt und noch vor einer gerichtlichen Entscheidung zurückgenommen werden sollen. Unternehmen, die auf diese Weise lediglich finanzielle Vorteile durch die verspätete Zahlung der gegen sie festgesetzten Geldbuße erzielen wollen, erstreben gerade keine gerichtliche Prüfung und Entscheidung über die ihnen zur Last gelegten Ordnungswidrigkeiten. Eine Inanspruchnahme der Gerichte zu diesem Zweck steht außerhalb des Schutzes von Art. 19 Abs. 4 GG.
bb) Die Garantie effektiven Rechtsschutzes wird jedoch insoweit berührt, als sich - bei zunächst ernsthaft mit dem Ziel einer gerichtlichen Sachentscheidung eingelegtem Einspruch - für das betroffene Unternehmen nachträglich ein berechtigtes Interesse an der Rücknahme ergeben kann.
Ein solches Interesse kann insbesondere dann bestehen, wenn sich im Lauf des gerichtlichen Verfahrens die Gefahr einer strengeren Ahndung der Ordnungswidrigkeit manifestiert. Der Einspruchsführer muss mit einer solchen Verböserung grundsätzlich rechnen, weil das Kartellgericht bei seiner Entscheidung nicht an den Bußgeldbescheid gebunden ist. Da der angefochtene Bußgeldbescheid mit der Einspruchsrücknahme bestandskräftig wird, ist die festgesetzte Geldbuße rückwirkend zu verzinsen. Die Überlegung, dass einer sich abzeichnenden Verböserung nur um den Preis einer Verzinsung der angegriffenen Geldbuße zu entgehen ist, könnte einzelnen Betroffenen die Inanspruchnahme von Rechtsschutz wirtschaftlich derart risikobehaftet erscheinen lassen, dass sie von der Einlegung des Einspruchs von Anfang an absehen.
Eine unzumutbare rechtsschutzhemmende Wirkung ist damit jedoch nicht verbunden. Die Betroffenen können die Größenordnung der möglicherweise anfallenden Zinsen hinreichend im Voraus überschauen. Die Zinsen erreichen im Regelfall auch keine Größenordnung, die bei vernünftiger Betrachtung den Rechtsweg für die betroffenen Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen verstellen oder auch nur spürbar erschweren könnte. Bereits der - am Marktzins orientierte - Zinssatz von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz steht der Annahme einer rechtsschutzhemmenden Wirkung entgegen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Betroffenen während der gesamten Dauer des gerichtlichen Verfahrens entweder Zinsen für Kredite sparen oder - durch einen Einsatz der Gelder im operativen oder investiven Geschäftsbereich - Einnahmen erzielen können.
(PM BVerfG vom 22.1.2013)