EuGH : Verlegung des satzungsmäßigen Gesellschaftssitzes in anderen Mitgliedstaat verpflichtet nicht zur Liqidation
Die Mitgliedstaaten können Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen wollen, nicht zur Liquidation verpflichten. Die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes einer solchen Gesellschaft ohne Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes fällt unter die durch das Unionsrecht geschützte Niederlassungsfreiheit.
Polbud ist eine Gesellschaft mit Sitz in Polen. Mit einem Beschluss von 2011 entschied ihre außerordentliche Hauptversammlung, den Gesellschaftssitz nach Luxemburg zu verlegen. Dieser Beschluss enthält keinen Hinweis darauf, dass der Verwaltungssitz von Polbud oder der Ort der tatsächlichen Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ebenfalls nach Luxemburg verlegt worden wäre.
Auf der Grundlage dieses Beschlusses wurde die Eröffnung des Liquidationsverfahrens ins polnische Handelsregister eingetragen und der Liquidator wurde bestellt.
Im Jahr 2013 wurde der satzungsmäßige Sitz von Polbud nach Luxemburg verlegt. Polbud wurde zu „Consoil Geotechnik Sàrl“, einer Gesellschaft luxemburgischen Rechts. Außerdem beantragte Polbud beim polnischen Registergericht die Löschung im polnischen Handelsregister. Dieser Löschungsantrag wurde vom Registergericht abgelehnt.
Gegen diesen Beschluss erhob Polbud Klage. Der im Rechtsmittelverfahren mit der Sache befasste Sąd Najwyższy (Oberster Gerichtshof, Polen) möchte vom Gerichtshof zunächst wissen, ob die Niederlassungsfreiheit für die Verlegung lediglich des satzungsmäßigen Sitzes einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat gilt, wenn die Gesellschaft ohne Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes in eine dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft umgewandelt wird. Weiter fragt der Sąd Najwyższy, ob die polnische Regelung, die die Löschung im Handelsregister davon abhängig macht, dass die Gesellschaft am Ende eines Liquidationsverfahrens aufgelöst wird, mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar ist.
In seinem Urteil vom 25.10.2017 – C-106/16 – erinnert der Gerichtshof erstens daran, dass nach dem Unionsrecht diejenigen Gesellschaften Niederlassungsfreiheit genießen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Europäischen Union haben. Diese Grundfreiheit umfasst u. a. den Anspruch einer solchen Gesellschaft auf Umwandlung in eine dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft.
Für den vorliegenden Fall gilt demnach, dass Polbud durch die Niederlassungsfreiheit den Anspruch auf Umwandlung in eine Gesellschaft luxemburgischen Rechts erhält, soweit sie die nach luxemburgischem Recht für die Gründung einer Gesellschaft geltenden Voraussetzungen und insbesondere das Kriterium erfüllt, das in Luxemburg für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit seiner nationalen Rechtsordnung erforderlich ist.
Außerdem fällt nach Auffassung des Gerichtshofs ein Sachverhalt, bei dem eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft eine Umwandlung in eine dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft unter Beachtung des Kriteriums vornehmen will, das in diesem anderen Mitgliedstaat für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit seiner nationalen Rechtsordnung erfüllt werden muss, unter die Niederlassungsfreiheit, selbst wenn diese Gesellschaft ihre Geschäftstätigkeit im Wesentlichen oder ausschließlich im ersten Mitgliedstaat ausüben soll. Dass eine Gesellschaft ihren – satzungsmäßigen oder tatsächlichen – Sitz nach dem Recht eines Mitgliedstaats begründet, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen, stellt für sich allein keinen Missbrauch dar. Folglich kann der Beschluss von Polbud, ohne Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes nur ihren satzungsmäßigen Sitz nach Luxemburg zu verlegen, als solcher nicht dazu führen, dass diese Verlegung nicht in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit fällt.
Zweitens bemerkt der Gerichtshof, dass eine polnische Gesellschaft wie Polbud zwar grundsätzlich befugt ist, ihren satzungsmäßigen Sitz ohne Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit von Polen in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, dass sie aber nach polnischem Recht nur dann im polnischen Handelsregister gelöscht werden kann, wenn zuvor ein Liquidationsverfahren durchgeführt wurde. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach polnischem Recht von der Liquidation die Beendigung der laufenden Geschäfte und die Beitreibung der Forderungen der Gesellschaft, die Erfüllung der Verbindlichkeiten und die Verflüssigung des Gesellschaftsvermögens, die Befriedigung oder Absicherung der Gläubiger, die Erstellung eines Finanzberichts über die Vornahme dieser Handlungen und die Benennung des Verwahrers der Bücher und Unterlagen der Gesellschaft, die abgewickelt wird, umfasst sind. Die polnische Regelung ist, da sie die Liquidation der Gesellschaft verlangt, geeignet, die grenzüberschreitende Umwandlung einer Gesellschaft zu erschweren oder gar zu verhindern. Folglich stellt diese Regelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar.
Eine solche Beschränkung kann grundsätzlich durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, etwa den Schutz der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter und der Arbeitnehmer gerechtfertigt sein. Die polnische Regelung sieht jedoch eine allgemeine Verpflichtung zur Liquidation vor, ohne dabei zu berücksichtigen, ob tatsächlich eine Gefahr für diese Interessen besteht, und ohne eine Möglichkeit vorzusehen, weniger einschneidende Maßnahmen zu wählen, durch die diese Interessen ebenso geschützt werden können. Folglich geht eine solche Verpflichtung über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die genannten Interessen zu schützen, erforderlich ist.
Zum Vorbringen der polnischen Regierung, dass diese Regelung durch das Ziel, missbräuchliche Verhaltensweisen zu bekämpfen, gerechtfertigt sei, stellt der Gerichtshof schließlich fest, dass eine solche Regelung unverhältnismäßig ist, da die allgemeine Pflicht zur Durchführung eines Liquidationsverfahrens einer allgemeinen Missbrauchsvermutung gleichkommt.
(PM EuGH vom 25.10.2017)