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Wirtschaftsrecht
21.06.2016
Wirtschaftsrecht
BVerfG: OMT-Programm der Europäischen Zentralbank –Verfassungsbeschwerden und Organstreitverfahren erfolglos

Das Unterlassen von Bundesregierung und Bundestag in Ansehung des Grundsatzbeschlusses der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über das OMT-Programm geeignete Maßnahmen zu dessen Aufhebung oder Begrenzung zu ergreifen, verletzt die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG, wenn die vom Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 16. Juni 2015 (C-62/14) formulierten, die Reichweite des OMT-Programms begrenzenden Maß-gaben eingehalten werden. Unter diesen Voraussetzungen beeinträchtigt das OMT-Programm gegenwärtig auch nicht die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem am 21.6.2016 verkündeten Urteil entschieden. Der Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm bewegt sich in der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung nicht „offensichtlich“ außerhalb der der Europäischen Zentralbank zugewiesenen Kompetenzen. Zudem birgt das OMT-Programm in der durch den Gerichtshof vorgenommenen Auslegung kein verfassungsrechtlich relevantes Risiko für das Budgetrecht des Deutschen Bundestages. 

Sachverhalt:
Die Verfassungsbeschwerden und das Organstreitverfahren richten sich gegen zwei Programme zum Ankauf von börsengängigen Schuldtiteln durch das Europäische System der Zentralbanken („ESZB“), insbesondere Staatsanleihen von Mitgliedstaaten der Eurozone.

Auf die Pressemitteilungen Nr. 29/2013 vom 19. April 2013, Nr. 9/2014 vom 7. Februar 2014 und Nr. 3/2016 vom 15. Januar 2016 wird ergänzend verwiesen. 

Wesentliche Erwägungen des Senats:
1. Die Verfassungsbeschwerden und das Organstreitverfahren sind teilweise unzulässig. Insbesondere sind die Verfassungsbeschwerden unzulässig, soweit sie sich unmittelbar gegen Maß-nahmen der Europäischen Zentralbank richten. Insoweit liegen ihnen keine tauglichen Beschwerdegegenstände zugrunde.

2. Soweit die Verfassungsbeschwerden und das Organstreitverfahren zulässig sind, sind sie unbegründet.

a) Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz auch die Einräumung eines Anwendungsvor-rangs zugunsten des Unionsrechts. Der Integrationsgesetzgeber kann nicht nur Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Recht der Europäischen Union durchführen.

Der Anwendungsvorrang reicht jedoch nur so weit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungs-gesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen. Grenzen für die Öffnung deutscher Staatlichkeit ergeben sich daher aus der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität des Grundgesetzes und dem im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramm, das dem Unionsrecht für Deutschland erst die notwendige demokratische Legitimation verleiht.

b) Das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) gehört in seinen Grundsätzen zu der für änderungsfest (Art. 79 Abs. 3 GG) wie auch integrationsfest (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG) erklärten Verfassungsidentität des Grundgesetzes. Die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt darf deshalb durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen auf die europäische Ebene nicht entleert werden. Eine Ausübung öffentlicher Gewalt durch Organe, Stellen und sonstige Einrichtungen der Europäischen Union, die nicht über eine hinreichende demokratische Legitimation durch das im Zustimmungsgesetz niedergelegte Integrationsprogramm verfügt, verletzt daher den Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG).

c) Im Rahmen der Identitätskontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze bei der Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber oder durch eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union berührt werden. Das betrifft die Wahrung des Menschenwürdekerns der Grundrechte (Art. 1 GG) ebenso wie die Grundsätze, die das Demokratie-, Rechts-, Sozial- und Bundesstaatsprinzip im Sinne von Art. 20 GG prägen.

Im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle überprüft das Bundesverfassungsgericht Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union (nur) daraufhin, ob sie vom Integrationsprogramm (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG) gedeckt sind und insoweit am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teilhaben. Die Annahme eines Ultra-vires-Aktes setzt - ohne Rücksicht auf den betroffenen Sachbereich - voraus, dass eine solche Maßnahme offensichtlich außerhalb der der Europäischen Union übertragenen Kompetenzen liegt.

d) Die Integrationsverantwortung verpflichtet die Verfassungsorgane - den grundrechtlichen Schutzpflichten nicht unähnlich -, sich dort schützend und fördernd vor die durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Rechtspositionen des Einzelnen zu stellen, wo dieser nicht selbst für ihre Integrität sorgen kann. Der Verpflichtung der Verfassungsorgane zur Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung entspricht daher ein in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verankertes Recht des wahlberechtigten Bürgers, dass die Verfassungsorgane dafür sorgen, dass die mit dem Vollzug des Integrationsprogramms ohnehin schon verbundenen Einflussknicks und Einschränkungen seines „Anspruchs auf Demokratie“ nicht weitergehen, als sie durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union gerechtfertigt sind.

Eine Verletzung von Schutzpflichten liegt grundsätzlich erst dann vor, wenn überhaupt keine Schutzvorkehrungen getroffen werden, die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zu-rückbleiben. Für die Integrationsverantwortung bedeutet dies, dass die Verfassungsorgane im Falle offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüberschreitungen und sonstiger Verletzungen der Verfassungsidentität durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms hinzuwirken haben. Sie sind gegebenenfalls verpflichtet, im Rahmen ihrer Kompetenzen mit rechtlichen oder politischen Mitteln auf die Aufhebung der vom Integrationsprogramm nicht gedeckten Maßnahmen hinzu-wirken sowie - solange die Maßnahmen fortwirken - geeignete Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt bleiben. Wie die grundrechtlichen Schutzpflichten so kann sich allerdings auch die Integrationsverantwortung unter bestimmten rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten.

3. Nach diesen Maßstäben und unter Beachtung der nachfolgend bezeichneten Maßgaben verletzt die Untätigkeit von Bundesregierung und Bundestag in Ansehung des Grundsatzbeschlusses der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG. Auch werden die im Rahmen der europäischen Integration bestehenden Rechte und Pflichten des Deutschen Bundestages einschließlich seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung nicht beeinträchtigt.

a) Das Bundesverfassungsgericht legt seiner Prüfung die Auslegung des OMT-Beschlusses zu-grunde, die der Gerichtshof in seinem Urteil vom 16. Juni 2015 vorgenommen hat. Die Auffassung des Gerichtshofs, der Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm sei kompetenzgemäß und verstoße nicht gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, bewegt sich noch inner-halb des dem Gerichtshof erteilten Mandates (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV).

Der Gerichtshof stützt seine Auffassung maßgeblich auf die von der Europäischen Zentralbank angegebene Zielsetzung des OMT-Programms, auf die dazu eingesetzten Mittel und die aus seiner Sicht lediglich mittelbaren Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik. Er legt seiner Prüfung nicht nur den Grundsatzbeschluss über die technischen Merkmale vom 6. September 2012 zugrunde, sondern leitet insbesondere aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit weitere Rahmenbedingungen ab, die einer etwaigen Durchführung des OMT-Programms verbindliche Grenzen setzen. Darüber hinaus bekräftigt der Gerichtshof, dass auch das Handeln der Europäischen Zentralbank der gerichtlichen Kontrolle unterliegt, insbesondere mit Blick auf die Einhaltung der Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung und der Verhältnismäßigkeit.

b) Die dem Urteil vom 16. Juni 2015 zugrunde liegende Art und Weise richterlicher Rechtskonkretisierung begegnet aus Sicht des Senats gleichwohl gewichtigen Einwänden mit Blick auf die Erhebung des Sachverhalts, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die gerichtliche Kontrolle der Europäischen Zentralbank bei der Bestimmung ihres Mandates.

Das gilt zunächst für den Umstand, dass der Gerichtshof die Behauptung einer geldpolitischen Zielsetzung des OMT-Programms hinnimmt, ohne die zugrundeliegenden tatsächlichen Annahmen zu hinterfragen oder zumindest im Einzelnen nachzuvollziehen und ohne diese Annahmen mit den Indizien in Beziehung zu setzen, die offensichtlich gegen einen geldpolitischen Charakter sprechen.

Es gilt ferner für den Umstand, dass der Gerichtshof für die kompetenzmäßige Zuordnung des OMT-Programms zur Währungspolitik trotz der von ihm selbst angenommenen Überschneidungen von Wirtschafts- und Währungspolitik im Wesentlichen auf die von dem zu kontrollierenden Organ angegebene Zielsetzung der Maßnahme und den Rückgriff auf das in Art. 18 ESZB-Satzung vorgesehene Instrument des Ankaufs von Staatsanleihen abstellt.

Ohne Antwort bleibt schließlich das dem Gerichtshof vom Senat unterbreitete Problem, dass die der Europäischen Zentralbank eingeräumte Unabhängigkeit zu einer spürbaren Senkung des demokratischen Legitimationsniveaus ihres Handelns führt und daher Anlass für eine restriktive Auslegung und besonders strikte gerichtliche Kontrolle ihres Mandates sein müsste. Dies gilt umso mehr, wenn mit dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Volkssouveränität die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats betroffen ist, zu deren Achtung die Europäische Union verpflichtet ist.

c) Trotz dieser Bedenken bewegt sich der Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm in der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung jedoch nicht „offensichtlich“ außerhalb der der Europäischen Zentralbank zugewiesenen Kompetenzen im Sinne des Ultra-vires-Kontrollvorbehalts. Anders als der Senat hinterfragt der Gerichtshof die angegebenen Ziele zwar nicht und beurteilt die Indizien, die aus Sicht des Senats gegen die behauptete Zielsetzung sprechen, jeweils isoliert, anstatt sie auch in ihrer Gesamtheit zu bewerten. Dies kann jedoch noch hingenommen werden, weil der Gerichtshof die vom Senat in seinem Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014 für möglich gehaltene einschränkende Auslegung des Grundsatzbeschlusses der Sache nach auf Ebene der Kompetenzausübung vorgenommen hat.

Der Gerichtshof unterscheidet zwischen dem Grundsatzbeschluss vom 6. September 2012 und der Durchführung des Programms. Mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit des OMT-Programms und die Erfüllung der Begründungspflichten benennt er über die im Grundsatzbeschluss angekündigten Rahmenbedingungen hinaus weitere Einschränkungen, denen eine Durchführung des OMT-Programms zwingend unterliegt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof die von ihm herausgestellten Konditionen als rechtsverbindliche Kriterien ansieht. Mit der verfahrensrechtlichen Einhegung durch die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes greift der Gerichtshof das Problem des nahezu unbegrenzten Potentials des Beschlusses vom 6. September 2012 auf. Zwar beseitigen die vom Gerichtshof insoweit entwickelten beschränkenden Parameter den in die Wirtschaftspolitik übergreifenden Charakter des OMT-Programms nicht vollständig. Zusammen mit den im Beschluss vom 6. September 2012 festgelegten Konditionen - insbesondere die Teilnahme der Mitgliedstaaten an Anpassungsprogrammen, deren Zugang zum Anleihemarkt und die Fokussierung auf Anleihen mit geringer (Rest-) Laufzeit - lassen sie die Annahme eines jedenfalls im Schwerpunkt geldpolitischen Charakters des OMT-Programms aber als vertretbar erscheinen.

d) In der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung verstoßen der Grundsatzbeschluss über die technischen Rahmenbedingungen des OMT-Programms und dessen mögliche Durchführung auch nicht offensichtlich gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung. Während der Gerichtshof den Grundsatzbeschluss selbst ohne weitere Konkretisierung für zulässig erachtet, muss dessen Durchführung näheren Bedingungen genügen, wenn nicht das Ankaufprogramm gegen das Unionsrecht verstoßen soll. In dieser Auslegung entspricht das OMT-Programm bei werten-der Gesamtbetrachtung den Anforderungen, die der Senat im Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014 formuliert hat.

e) Da sich das OMT-Programm vor diesem Hintergrund nur dann nicht als Ultra-vires-Akt darstellt, wenn der vom Gerichtshof bestimmte Rahmen beachtet wird, darf sich die Deutsche Bundesbank an der Durchführung des Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom Gerichtshof aufgestellten Maßgaben erfüllt sind, das heißt wenn

- Ankäufe nicht angekündigt werden,

- das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist,

- zwischen der Emission eines Schuldtitels und seinem Ankauf durch das ESZB eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liegt, die verhindert, dass die Emissionsbedingungen verfälscht werden,

- nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden, die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben,

- die erworbenen Schuldtitel nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden und

- die Ankäufe begrenzt oder eingestellt werden und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden, wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich ist.

 

f) Ihre Integrationsverantwortung verpflichtet Bundesregierung und Bundestag nicht, mit Blick auf die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages gegen das OMT-Programm vorzugehen. In der durch den Gerichtshof vorgenommenen Auslegung birgt das OMT-Programm kein verfassungsrechtlich relevantes Risiko für das Budgetrecht des Bundestages. Insofern ist auch eine Gefährdung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung durch eine etwaige Durchführung des OMT-Programms gegenwärtig nicht festzustellen.

g) Bundesregierung und Bundestag sind aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung allerdings verpflichtet, eine etwaige Durchführung des OMT-Programms dauerhaft zu beobachten. Diese Beobachtungspflicht ist nicht nur darauf gerichtet, ob die oben formulierten Maßgaben eingehalten werden, sondern auch darauf, ob insbesondere aus dem Volumen und der Risikostruktur der erworbenen Anleihen, die sich auch nach ihrem Erwerb ändern kann, ein konkretes Risiko für den Bundeshaushalt erwächst.

(PM BVerfG vom 21.6.2016)

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