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ZVglRWiss 103 (2004), 127-130
Sonnenberger 

Bicentenaire du Code Civil: Ein modernes Gesetzbuch, eine französische Kulturleistung

Von Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Jürgen Sonnenberger, München

Die französischen Nachbarn feiern den Bicentenaire du Code Civil. Am 30 ventôse an XII (21. 3. 1804) trat das Gesetzbuch als Code Civil des Français in Kraft. 1807 und 1852 erhielt es jeweils vorübergehend für einige Jahre den Titel Code Napoléon. Der Code Civil war der Höhepunkt der großen Rechtsreformen Napoléons. Zu ihm kamen weiter die Handels-, Straf-, Zivilverfahrens- und Strafverfahrensgesetzbücher hinzu. Nach der Reform des Code de Commerce im Jahre 2000 ist der Code Civil das einzige Gesetzbuch Napoléons, das bis heute überlebt hat.

Der Code Civil war nicht nur ein französisches Ereignis. In vielen Staaten, vor allen West- und Südeuropas, wurde er rezipiert, andere lehnten sich eng an ihn an, in wieder anderen wurde er nach der Erlangung der Selbständigkeit nach dem Ende des Empire beibehalten. Die Ausstrahlungen reichten nach Lateinamerika und sogar in den anglo-amerikanischen Raum (Louisiana, Quebec). In Deutschland blieb er in den 1801 französisch gewordenen linksrheinischen Gebieten auch nach der Rückgliederung als deutsches Partikularrecht bis 1900 in Kraft. Das zum Rheinbund gehörende Großherzogtum Baden hat ihn seinem Landrecht zugrundegelegt. Fortschrittlich gesonnenen Kreisen galt der Code Civil als Vorbild einer rechtlichen Einigung der Deutschen und der Modernisierung der Gesellschaft. Erfolg war dem nicht beschieden. Nach dem Ende der Herrschaft Napoléons wurde der Code Civil rechtsrheinisch eher als Recht des besiegten Okkupanten betrachtet. Die Restauration tat politisch ein Übriges, ein deutsches Zivilgesetzbuch auszuschließen und der bekannte Ausgang des wissenschaftlichen Streits zwischen Savigny und Thibaut sowie die Hinwendung der tonangebenden Dogmatik zur Historischen Rechtsschule und zur Pandektistik hatten für Jahrzehnte zur Folge, dass eine deutsche Kodifikation des Zivilrechts chancenlos blieb.

In Frankreich beendete die umfassende Rechtsreform Napoléons die revolutionäre Umbruchszeit und trug zur Konsolidierung von Staat und Gesellschaft bei.Gleichzeitig wurde der Code Civil zum Träger der Herstellung der nationalen Einheit der Zivilgesellschaft. Ein Gesetzbuch der Revolution war er nicht. Es finden sich in ihm wesentliche Teile des vorrevolutionären Rechts wieder, etwa dercoutume von Paris, der Loix civiles von Domat, des Obligationenrechts von Pothier usw. Aber er verankerte zugleich in der Staats- und Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs wesentliche Errungenschaftender Revolution.

ZVglRWiss 103 (2004) S. 127 (128)

Zuvorderst die bürgerliche Gleichheit. Die rechtlichen Standesunterschiede des ancien régime sind endgültig Geschichte, was erhebliche Auswirkungen hat: Aus der Eigentumsordnung sind die lehensrechtlichen Strukturen verschwunden und das betrifft auch das Erbrecht; das Familienrecht ist der Kirche und ihrer Jurisdiktion entzogen, das neue säkularisierte Recht ist für alle Bürger gleich.

Auf der Grundlage der Gleichheit die bürgerliche Freiheit. Alle Arten der Mediatisierung des Menschen sind beseitigt. Keine neuen Verbände traten an die Stelle der aufgelösten Zünfte und Kooperationen. Vertragsfreiheit und der freie Wille des Individuums sind Fundament und Triebfeder des privaten Wirtschaftsverkehrs, nur der Staat kann im öffentlichen Interesse Einschränkungen verfügen. Selbstentmündigung des Menschen durch Verträge ist verboten, Kartellbildung ausgeschlossen. Die individuelle Freiheit wird durch das Eigentum als Individualrecht des Bürgers verstärkt, was besonders für das Grundeigentum gilt. Auch hier darf der Staat nur im öffentlichen Interesse und gegen Entschädigung eingreifen. Das individualrechtliche Verständnis des Eigentums bringt das Realteilungsprinzip des Erbrechts ergänzend zum Ausdruck. Der Achtung des freien Willens steht gegenüber, dass jeder für sein pflichtwidriges Verhalten einstehen muss, wenn daraus anderen Menschen ein Schaden entsteht. Art. 544, 1134 Abs. 1 und 1382 Code Civil, drei Axialnormen klingen noch heute im Pathos von Wortmonumenten rechtlicher Anerkennung der Selbstverwirklichung des Individuums.

Man darf das alles allerdings nicht im Licht des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung des Industriegesellschaft sich ausbreitenden Wirtschaftsliberalismus sehen. Der Code Civil ist ein Kind seiner Zeit. Die Gesellschaft ist nicht geprägt von großen Industriekomplexen, Landflucht und einer verarmten Arbeitermasse. Es ist eine vorindustriell-agrarische Gesellschaft, in der sich zugleich eine tonangebende, städtische bürgerliche Schicht entwickelt hat. Juristische Personen gibt es im Code Civil nicht, die einzige Gesellschaftsform, die société civile, ist ein bloßer schuldrechtlicher Vertrag, aus dem jeder Gesellschafter wieder aussteigen kann; für Domestiken, Hofgesinde und Handwerksgesellen gibt es statt des Arbeitsvertrags die Dienstmiete; die verschiedenen Arten der Landpacht geben beredt Kunde, dass das wohlhabende in den Städten lebende Bürgertum seine in der Revolution erworbenen Landgüter keineswegs selbst bewirtschaftet.

Kind seiner Zeit ist der Code Civil auch dort, wo er die Gleichheit des Individuums vergisst: Die Familie ist streng hierarchisch geordnet, der Ehemann und Vater ist unangefochtener chef de famille, alle schulden ihm Gehorsam. Und es ist die legitime Familie, deren Interessen nicht nur das Familien-, sondern auch das Erbrecht wahrt. Die natürlichen Kinder sind benachteiligt, Ehebruchskinder genießen keinen Schutz und auch der Ehepartner spielt im Erbrecht eine zweitrangige Rolle. Man sagt, dass Napoléon selbst auf das Familienrecht Einfluss genommen habe und korsisches Verständnis durchdringe.

ZVglRWiss 103 (2004) S. 127 (129)

Es ist der Rechtsprechung und dem Reformgesetzgeber zu verdanken, dass der Code Civil bis heute seine Rolle zu spielen vermag. Seit dem späten 19. Jahrhundert und dann in großen Schritten vor allen in der V. Republik nach 1988 folgten die Reformen der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Teilweise geschah das durch Novellierungen des Code selber, teilweise durch zusätzliche Gesetze. Zwar wird an den Grundsäulen nicht gerüttelt. Ihr individualistisches Verständnis wird aber durch eine Dimension der Sozialpflichtigkeit, die Einbindung des Einzelnen in gesellschaftliche Kollektive und die Anerkennung schutzwürdiger Kollektivinteressen ergänzt. Die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts schnell zunehmende Zulassung privater Verbandspersonen und die Entwicklung gewerblicher Immaterialgüterrechte ist Ausdruck der voranschreitenden Industrialisierung. Im Vertragsrecht wird die private Gestaltungsfreiheit teilweise drastisch eingeschränkt, was sich vor allem in Sondergesetzen niederschlägt: Code du travail, Code rural, Code de la Consommation sind nur einige Stichwörter. Das Eigentum an Immobilien wird immer stärker durch Gemeininteressen überlagert und eingeschränkt. Im Erbrecht kann man die Abschaffung des Realteilungsprinzips dazu rechnen, wobei es wesentlich um die Erhaltung lebensfähiger Wirtschaftsbetriebe z.B. in der Landwirtschaft geht. Die Gerichte entdecken, dass jedem Recht eine Schranke immanent ist. Das Verbot des abus de droit wird zu einem wichtigen Korrekturinstrument der Rechtsausübung. Das Rechtsscheinsprinzip wird ein weiteres wichtiges Korrekturinstrument. Vor allem entwickeln die Gerichte neben der Haftung für Schädigung anderer durch pflichtwidriges Verhalten als zweite Generalklausel eine Risikohaftung für Schädigungen durch Sachen, die bis heute Richterrecht geblieben ist und vom Gesetzgeber in Teilbereichen – etwa der Kfz-Haftung – noch verschärft wurde. Zu den bedeutendsten Reformen, die nach zaghaften Ansätzen nach 1918 vor allem in der V. Republik erfolgten, gehört sicher das Familienrecht. Der französische Gesetzgeber hat lange gezögert, die Gleichstellung der Ehepartner zu verwirklichen. Sukzessive verliert der Mann seine Stellung als chef de famille und erfolgt die Gleichstellung der Kinder, wenn man auch nicht so weit gegangen ist, die Unterscheidung der enfants légitimes et narturels aufzugeben.

Der Code Civil hat in den 200 Jahren seiner Existenz einen Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft begleitet, der es fast als ein Wunder erscheinen lässt, dass er auch heute als la constitution la plus authentique du pays gekennzeichnet wird (Carbonnier). Nicht nur das. Es ist durch das Wirken des Gesetzgebers und der Gerichte im Kern gelungen, einen grundsätzlichen rechtsphilosophischen Wandel zu vollziehen: Von einem Verständnis des Menschen und Bürgers als eines autonomen, sich selbst nach eigenem Willen verwirklichenden und verantwortenden Individuums zu einer in gesellschaftlicher Bindung und Verantwortung stehenden Person als Mitglied einer Sozialgemeinschaft, die ihr bisweilen allerdings die Eigenverantwortung in einem nur schwer zu verstehenden Maße abnimmt. Insgesamt ist der Code Civil nach 200 Jahren ständigen Wandels ein modernes Gesetzbuch und Ausdruck einer französi¬ZVglRWiss 103 (2004) S. 127 (130)schen Kulturleistung, die Teil der Entwicklung der französischen Gesellschaft selbst ist. Man darf deshalb nicht überrascht sein, wenn den Versuchen, den Code Civil oder wesentliche Teile davon durch europäisches Einheitsrecht zu ersetzen, aus Frankreich entgegenhallt: Der 200. Jahrestag ist sicher nicht der Augenblick, ein Requiem für den Code Civil anzustimmen.

 
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