“Grüner Deal” und “Vom Hof auf den Tisch”– was erwartet die Lebensmittelwirtschaft?
Als die EU-Kommission vor 20 Jahren – am 12. Januar 2000 – ihr “Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit” vorstellte, ging es vor dem Hintergrund von BSE und anderen “Lebensmittelskandalen” darum, Lebensmittelsicherheit neu zu denken und zu regeln und zwar “vom Erzeuger zum Verbraucher”. Das Weißbuch enthielt einen Aktionsplan mit 84 Maßnahmen, der dann Grundlage des europäischen Lebens- und Futtermittelrechts geworden ist, wie wir es heute kennen. Hintergrund war damals die Erkenntnis, dass Lebensmittelsicherheit nur über die Kette hinweg zu garantieren ist. Was heute selbstverständlich ist, wurde damals eingeführt, zunächst in der Basis-Verordnung zum Lebensmittelrecht (Verordnung (EG) Nr. 178/2002), die zwei Jahre nach Vorstellung des Weißbuchs verabschiedet wurde, und anschließend in allen weiteren Regelungen, die auf dieser Grundlage erlassen worden sind. Einige Stichworte: die Verankerung der Risikoanalyse als Grundlage des Lebensmittelrechts mit der Trennung von Risikomanagement und Risikobewertung, die Einrichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA zur Gewährleistung einer unabhängigen Risikobewertung, die Verpflichtung zur Gewährleistung von Rückverfolgbarkeit, das Vorsorgeprinzip, und vieles andere mehr – bis hin zu einer einheitlichen Definition des Lebensmittels, die es bis dahin nicht gab.
Der Gedanke “Vom Hof auf den Tisch”, wie “Vom Erzeuger zum Verbraucher” bei gleicher Vorgabe im Englischen (“from farm to fork”) nun heißt, ist also alles andere als neu, nur soll nicht mehr Lebensmittelsicherheit die zentrale Rolle spielen, sondern “Nachhaltigkeit” und damit das zentrale Anliegen des grünen Deals der neuen Kommission. Die Bedeutung der neuen “Vom Hof auf der Tisch”-Strategie in diesem Zusammenhang verdeutlichte die Europäische Kommission am 17. Februar 2020 bei der Veröffentlichung ihres “Fahrplans” wie folgt: “Eine nachhaltige Lebensmittelstrategie ist für die Verwirklichung der Ziele des europäischen Grünen Deals von entscheidender Bedeutung. Im Rahmen dieser Strategie werden die Regulierungs- und sonstigen Maßnahmen festgelegt, die erforderlich sind, um effizientere, klimaschonende Systeme zu schaffen, die gesunde Lebensmittel liefern und gleichzeitig den Landwirten und Fischern in der EU einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen.”
Was genau die Kommission in ihrer Mitteilung am 29. April 2020 vorschlagen wird, steht bei Fertigstellung dieses Beitrags noch nicht fest, die vier Ziele der neuen Strategie “Vom Hof auf den Tisch” sind aber bereits bekannt: Nachhaltigkeit in der Primärproduktion sicherstellen, Nachhaltigkeit in der Lebensmittelherstellung, im Handel, in der Gastronomie und allen weiteren Bereichen der Lebensmittelwirtschaft fördern, Nachhaltigkeit beim Lebensmittelkonsum und eine gesunde und nachhaltige Ernährung fördern, und die Reduzierung von Lebensmittelabfällen. Der
Davon hat einiges mehr und anderes weniger mit Nachhaltigkeit zu tun, allesamt sind es aber verbraucherpolitische Themen und Forderungen, die zum Teil schon seit mehr als einem Jahrzehnt diskutiert werden und nunmehr erneut zur Entscheidung anstehen. Das gilt etwa für die Frage, ob eine wie auch immer erweiterte Nährwertkennzeichnung auf der Schauseite der Produkte geeignet ist, die “gesunde Wahl zur leichten Wahl” zu machen, Nährwertprofile zur Vermeidung der Irreführung der Verbraucher im Zusammenhang mit nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben erforderlich sind und eine verpflichtende Herkunftskennzeichnung in Bezug auf Milch und Milch und Fleisch als Zutat den Verbrauchern so wichtig ist, dass sie die entstehenden Mehrkosten bereit sind zu tragen. Dass viele Mitgliedstaaten in der Zwischenzeit eigene Regelungen etwa zur erweiterten Nährwertkennzeichnung oder zur Herkunftskennzeichnung erlassen haben, ist für die Kommission an sich schon Grund und Verpflichtung zugleich, über eine Rechtsharmonisierung (erneut) nachzudenken. Und das wird sie nun auch auf der Grundlage der Fitnesschecks zur Claims-Verordnung (Botanicals und Nährwertprofile) oder zur erweiterten Nährwertkennzeichnung und vieler anderer Berichte mehr tun, die ebenfalls veröffentlicht werden sollen. Das BMEL hat im Übrigen bereits angekündigt, sich unter deutscher Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 ganz besonders für eine europäische Tierwohlkennzeichnung und eine einheitliche erweiterte Nährwertkennzeichnung einsetzen zu wollen.
Bislang keine oder keine herausragende Rolle bei der neuen Strategie “Vom Hof auf den Tisch” spielt das Thema Lebensmittelsicherheit, was auch deshalb verwundert, weil die in den letzten Jahren immer deutlicher werdenden großen Herausforderungen in allen “sicherheitsrelevanten” Bereichen auch für die kommenden Jahre und Jahrzehnte die zentrale Herausforderung für die Lebensmittelwirtschaft und den Regelungsgeber bleiben werden. Das muss der Kommission ggf. dann ebenso in Erinnerung gerufen werden, wie die Tatsache, dass die Nachhaltigkeitsstrategie nur dann erfolgreich sein wird, wenn sie einhergeht mit der Stärkung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelwirtschaft und ihrer Unternehmen.
Die neue “Vom Hof auf den Tisch”-Strategie wird die Lebensmittelwirtschaft über die gesamte Kette hinweg für die kommenden Jahre mit den unterschiedlichsten Themen und Anliegen unter der großen und wichtigen Überschrift “Nachhaltigkeit” beschäftigen. Was dann von den vielen Vorschlägen der Kommission wie beschlossen wird, ob als Regelung auf europäischer Ebene oder auf anderen auch nicht-regulatorischen Wegen, wird sich noch erweisen, wenn es um die Frage geht, zu welchen Themen es die erforderliche Verständigung und die erforderlichen Mehrheiten gibt. Bis dahin gibt es noch viel Arbeit für alle Beteiligten, denn Nachhaltigkeit spielt in der Lebensmittelwirtschaft zwar schon lange eine große Rolle und bestimmt das Handeln in vielen Bereichen, ob und wie der Regelungsgeber “Nachhaltigkeit” in allen relevanten und genannten Bereichen dann auch “verordnen” kann und soll, ist aber noch einmal eine ganz andere Frage; und das umso mehr, wenn sie europäisch beantwortet werden soll.
Rechtsanwalt Peter Loosen, Brüssel