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ZLR 2024, 143
Unland/Grube 

“Flüssig bricht kein Fasten” und andere Themen – ein Rückblick

Mit dem Editorial in Heft 01/2024 wurde anlässlich des 50-jährigen Erscheinens der ZLR ein Rückblick auf die weltpolitischen und lebensmittelrechtlichen Ereignisse des Jahres 1974 geworfen. Auch wir nehmen dieses Jubiläum zum Anlass, auf der Grundlage von Zufallsstichproben einen Rückblick auf die lebensmittelrechtlichen Themen der Jahre 1984, 1994 und 2004 zu werfen. Die Entscheidungen dieser Jahre mögen heute teilweise kurios anmuten, werfen aber immer auch ein Licht auf lebensmittelrechtliche Dauerbrenner. Teilweise flackert in ihnen sogar prophetisches Potenzial auf.

In der Entscheidung des Amtsgerichtes Bad Iburg vom 3. Mai 19821, veröffentlicht in ZLR 01/1984, geht es um die Deklaration von Zutaten auf der Verpackung – ein lebensmittelrechtliches Standardthema. Der amtliche Entscheidungstenor lautet:

“Eine Täuschung des Kunden durch Anbringung des Konservierungsstoffhinweises auf der sog. Rückseite einer Packung unter Wiederholung der Produktbezeichnung liegt nicht vor, wenn sich aus der sogenannten “Schauseite” der Packung so wenig Information ergibt, dass der Kunde die genaue Beschreibung unter Zusammensetzung des Lebensmittels auf der entgegengesetzten Seite vermuten muss und sie dort auch finden wird.”

Streitgegenständlich waren verschiedene Sorten Ketchup in rundum farbig bedruckten Plastikflaschen, wobei auf einer Seite der Flasche in der Mitte eine Tomate, ein Tomatenviertel sowie Petersilie auf farbigem Untergrund abgebildet waren. Oberhalb des Bildes befand sich auf rotem Untergrund der Schriftzug des Vermarkters und darunter in großen Buchstaben “TOMATENKETCHUP”. Auf der entgegengesetzten Seite des Behältnisses befand sich neben der Sortenangabe noch ein längerer Verwendungsvorschlag und darunter die Angabe “Tomatenketchup mit Konservierungsstoffen Sorbin- und Benzoesäure”. Zu beurteilen war der Fall auf der Grundlage der deutschen Zusatzstoff-Zulassungsverordnung in der Fassung vom 20.12.1977 sowie § 2 der deutschen Lebensmittelkennzeichnungsverordnung in der Fassung vom 25.1.1972. Aus diesen Normen ergibt sich, dass die Kenntlichmachung von Zusatzstoffen auf der Packung in Verbindung mit der Art des Inhaltes deutlich sichtbar und in leicht lesbarer Schrift vorzunehmen ist. Die Feststellung, dass die gerichtlicherseits zu überprüfende Produktaufmachung rechtskonform war, wird mit dem auf den ersten Blick kuriosen Argument des Amtsgerichtes begründet, dass sich aus der “Schauseite” des Behältnisses ohnehin so gut wie keine Informationen ergaben, sodass der Kunde die genaue Beschreibung der Zusammensetzung des Ketchups auf der entgegengesetzten Seite vermuten musste. In diesem Fall aus den frühen 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ging das Amtsgericht also von einem informa-ZLR 2024 S. 143 (144)tionssuchenden, ja informationsbegierigen Verbraucher aus, der enttäuscht ist, wenn der Lesestoff auf einer Verpackung limitiert ist – aus heutiger Sicht ein eher fossilisiertes Verbraucherleitbild. Wurden in der wiedergegebenen Entscheidung die Begriffe “Schauseite” und “Rückseite” rechtlich unter dem Vorzeichen der “deutlichen Sichtbarkeit” diskutiert, haben zuletzt mit der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 (LMIV) die Begriffe “Sichtfeld” und “Hauptsichtfeld” Einzug in den Kanon der Begriffsbestimmungen gehalten, letztgenannter “als das Sichtfeld einer Verpackung, das vom Verbraucher beim Kauf höchstwahrscheinlich auf den ersten Blick wahrgenommen wird und ihm ermöglicht, die Beschaffenheit oder die Art und gegebenenfalls die Handelsmarke eines Produkts sofort zu erkennen”, wobei “das vom Lebensmittelunternehmen ausgewählte Sichtfeld als Hauptsichtfeld” gilt, wenn “eine Verpackung mehrere identische Hauptsichtfelder” hat. Manchmal ist weniger mehr und die Definitionsansätze der Europäischen Union machen häufig nachdenklich. Prophetische Vibes liegen in der Entscheidung des Amtsgerichts Iburg aus dem Jahr 1982 insoweit, als heute die Diskussion um den Stellenwert einer Schauseite intensiver denn je geführt wird, z. B. im Zusammenhang mit wiederholenden Nährwertangaben (“Front of Package”). Auch hat der Bundesgerichtshof letztlich die Sichtweise des Amtsgerichts Iburg mit seinem Urteil vom 2. Dezember 20152 in Sachen “Himbeer-Vanille-Abenteuer” bestätigt, wenn er zur Beurteilung des Irreführungspotentials einer Verpackung deren Gesamteindruck zugrunde legt.3

Mit Beschluss vom 26. November 19924, veröffentlicht in ZLR 03/1994, hat sich das Bayerische Oberste Landesgericht zu Fragen der Deklaration von Bier geäußert und u. a. tenoriert:

“Die Verbrauchererwartung bei Bier, das auf dem Etikett als ‘Fastenbier’ mit dem zusätzlichen Hinweis ‘Flüssiges bricht Fasten nicht’ angeboten wird, handele es sich um Starkbier, kann der Tatrichter, der selbst zum Verbraucherkreis gehört, grundsätzlich selbst feststellen, ohne einen Sachverständigen zuziehen zu müssen.

Wird ein bezeichnetes Bier, das nach der Verbrauchererwartung Starkbier ist, mit einem Stammwürzegehalt von nur 13,3 % angeboten, liegt eine irreführende Kennzeichnung vor.”

Im Mittelpunkt des Rechtsstreits stand die Frage, wieviel Prozent Stammwürze ein in Bayern in Verkehr gebrachtes Bier aufweisen muss, wenn es auf dem Etikett alsZLR 2024 S. 143 (145) “Fastenbier” ausgelobt wird sowie mit dem zusätzlichen Hinweis “Flüssiges bricht Fasten nicht” gekennzeichnet ist. In der Bierverordnung sind die Typen “Bier mit niedrigem Stammwürzegehalt” (weniger als 7 % Stammwürzegehalt), “Schankbier” (von oder mehr als 7 % und weniger als 11 % Stammwürzegehalt) sowie “Starkbier” bzw. “Bockbier” (Stammwürzegehalt von 16 % oder mehr) geregelt – ein Typus “Fastenbier” findet sich in der Verordnung nicht. Die Auslobung als “Fastenbier” könnte heute unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, dass in dem Begriff eine zulassungspflichtige nährwertbezogene Angabe im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 zu sehen sein kann. Wie immer instruktiv ist die Anmerkung des Kollegen Thomas Mettke zu der Entscheidung.

Erst Mettke vollendet, was Aufgabe des Bayerischen Obersten Landesgerichtes gewesen wäre, indem er uns mit seiner Entscheidungsanmerkung in die historischen Hintergründe zur bayerischen Starkbiertradition einführt und uns direkt in die Anfänge des 17. Jahrhunderts katapultiert. Die strengen Ordensregelungen – so Mettke – schrieben vor, dass während der Fastenzeit kein Fleisch, keine Butter und keine Eier verzehrt werden durften. Dies führte dazu, dass den Mönchen vom Orden des Heiligen Franz von Paula in München gestattet wurde, zum Eigenbedarf ein besonders starkes Bier als “Fastenbrot” zu brauen. Dies verschaffte diesem Bier in Bayern schnell den Ruf als “flüssiges Brot”. Ein Edikt aus dem Jahre 1751 erlaubte schließlich den öffentlichen Ausschank dieses, nach dem Ordensgründer benannten “Heilig-Vater-Bieres”, das später den Namen “Salvator” erhielt. Der Slogan “Flüssig bricht kein Fasten” wurde zur Klosterregel, wofür sich im Volksmund die Bezeichnung “Frühjahrskur” eingebürgert haben soll. Höhepunkt, so der Kollege Mettke, der jährlichen Starkbiersaison bzw. der sog. “5. Jahreszeit in Bayern”5 ist der über die Grenzen bei uns hinaus bekannte traditionelle Starkbieranstich auf dem Münchner Nockherberg. Nicht konfrontiert sahen sich die Mönche – jedenfalls soweit bekannt – mit einer Regulierung von Nutrition Claims und dieses Thema soll an dieser Stelle auch nicht vertieft werden.

Ein aus heutiger Sicht kurioses Urteil hat der Europäische Gerichtshof am 13. März 2003 in der Rechtssache C-229/01 getroffen (veröffentlicht in ZLR 06/2004). Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes lautet:

“Die Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, wonach es deutlich und allgemein verständlich durch eine besondere Angabe kenntlich zu machen ist, wenn die Mindesthaltbarkeitsfrist für ein Lebensmittel abgelaufen ist. Eine dahingehende Vorschrift stellt eine nicht harmonisierte nationale Bestimmung dar, die zum Schutz vor Täuschung im Sinne von Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2000/13 gerechtfertigt ist.”

ZLR 2024 S. 143 (146)

Anlass zum Vorabentscheidungsverfahren gab die Regelung des § 10 Abs. 2 der österreichischen Lebensmittelkennzeichnungsverordnung 1993, wonach bei verpackten Lebensmitteln gilt: “Ist die Mindesthaltbarkeitsfrist bereits abgelaufen, ist dieser Umstand deutlich und allgemein verständlich kenntlich zu machen.” Die Entscheidung ist vor dem Hintergrund der heutigen Diskussionen zum Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) interessant. Gerade im Zuge der Umverteilung von Lebensmitteln, z. B. an bzw. über die Tafeln, stellt sich aktuell die Frage, wie mit Lebensmitteln, deren MHD abgelaufen ist, rechtlich umzugehen ist. Die Europäische Kommission hat zur Vereinfachung der Abgabe von Lebensmitteln nach Ablauf des MHD jüngst das europäische Hygienerecht mit Anhang II Kap. Va der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 angepasst, allerdings vergessen zu regeln, ob und gegebenenfalls welche kennzeichnungsrechtlichen Folgen dies nach sich zieht. Die Forderung nach Art. 6, Art. 12 Abs. 2 i.V. m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. f) LMIV, bei vorverpackten Lebensmitteln eine Haltbarkeitsangabe bereitzustellen, könnte nämlich bedeuten, dass auch bei der Umverteilung von Lebensmitteln stets noch eine Haltbarkeit ausgewiesen werden muss, und zwar eine in der Zukunft liegende Haltbarkeit und keine abgelaufene. Da der Verordnungsgeber ausdrücklich zulässt, dass Lebensmittel mit einem Mindesthaltbarkeitsdatum nach Ablauf des MHD unter bestimmten Voraussetzungen abgegeben werden dürfen, wäre es widersprüchlich, für diese Lebensmittel die Festlegung eines neuen Mindesthaltbarkeitsdatums zu verlangen. Insofern ist die Belassung des abgelaufenen MHD in der vorhandenen Etikettierung bei der Umverteilung von Lebensmitteln eine wichtige Orientierungshilfe zum Umgang mit dem noch verzehrgeeigneten Produkt, welches allerdings nicht mehr über eine definierte neue Mindesthaltbarkeit verfügt.

Selten hat die Vorbereitung eines Editorials den Verfasser/innen so viel Unterhaltung bereitet, da die älteren Jahrgänge der ZLR gut gereift sind und man sich schnell festschmökert. Wir wünschen der ZLR weiter viel Erfolg und freuen uns schon auf das Hundertjährige!

Abbildung 1

Dr. Petra Alina Unland, Bielefeld, Rechtsanwalt Prof. Dr. Markus Grube, Gummersbach

1

Az.: 3 Cs 10 Js 645/80.

2

BGH, Urteil vom 2.12.2015, I ZR 45/13, ZLR 2016, 520 – “Himbeer-Vanille-Abenteuer II”.

3

Freilich hatte der BGH über eine andersartige Konstellation zu entscheiden, wenn er in seinem Urteil zu dem Ergebnis kommt, dass eine Etikettierung geeignet sein kann, den Käufer über die Eigenschaften des Lebensmittels irrezuführen, wenn die Etikettierung eines Lebensmittels und die Art und Weise, in der sie erfolgt, insgesamt den Eindruck entstehen lassen, dass das Lebensmittel eine Zutat enthält, die tatsächlich nicht vorhanden ist. Danach waren die verschiedenen Bestandteile der Etikettierung des in Rede stehenden Früchtetees insgesamt darauf zu überprüfen, ob ein normal informierter und vernünftig aufmerksamer und kritischer Verbraucher über das Vorhandensein von Zutaten oder Aromen irregeführt werden kann. Dies war in dem zu entscheidenden Verfahren aufgrund der in den Vordergrund gestellten Angaben auf der Verpackung, die auf das Vorhandensein von Vanille- und Himbeerbestandteilen im Tee hinwiesen, der Fall.

4

Az.: 3 Ob OWi 101/92.

5

“5. Jahreszeiten” gibt es natürlich verschiedene, s. z. B. den Karneval. Eine nähere Betrachtung der “5. Jahreszeiten” erfolgt möglicherweise in einem späteren Editorial.

 
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