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ZHR 170 (2006), 365-372
Müller-Graff 

Übernahmeabwehr als Staatsaufgabe im Binnenmarktrecht?

I. Internationale Unternehmensübernahmen sind zunehmend ein weltweites Phänomen. Innerhalb des europäischen Binnenmarktes setzen nicht wenige Unternehmen nach erfolgreicher Konsolidierung nunmehr auf Expansion durch externes Wachstum, wiewohl längerfristig stabile Marktpositionen von internem Innovationswachstum abhängig sind. Begünstigt wird die Übernahmehausse namentlich durch die Trias von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit (Artt. 43, 56 EGV), Kapitalverfügbarkeit (Eigenmittel, Fremdkapitalaufnahme und eigene Aktien als Akquisitionswährung) und (oft schwer verifizierbarer1) Rendite- und Synergiehoffnung. Im Binnenmarkt werden grenzüberschreitende Übernahmen neuerdings zusätzlich rechtlich erleichtert durch den judikativen Ausbau der transnationalen Niederlassungsfreiheit (jüngst EuGH-Urteil „Sevic“2), die legislative Ermöglichung grenzüberschreitender Verschmelzung (jüngst Verschmelzungsrichtlinie3) sowie das Potential der S.E.4.

Zu dieser Entwicklung korrespondiert diejenige der Übernahmeabwehr.

Längst ist der Widerstand des Leitungsorgans der Zielgesellschaften gegen Übernahmen eine vertraute Erscheinung5. Neuerdings häufen sich bei grenzüberschreitenden Übernahmen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft aber zusätzlich gezielte einzelstaatliche Abwehrstrategien gegen den Erwerb von inländisch ansässigen Unternehmen durch ein Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat. Dies geschieht oft unter Hinweis auf nationale „strategische“ Interessen und vereinzelt sogar trotz gleichzeitigen grenzüberschreitenden Ausgreifens von branchenangehörigen inlandsansässigen Unternehmen. In jüngster Zeit wurde mit jeweils unterschiedlichen Mitteln bei¬ZHR 170 (2006) S. 365 (366)spielsweise das in Frankreich ansässige Energieunternehmen Suez dem Zugriff des italienischen Energieherstellers ENEL mittels einer politisch betriebenen Fusion von Suez mit der Gaz de France entzogen6, die Übernahme der polnischen BPH-Bank durch die italienische Unicredit im Zuge der Fusion mit der Hypo-Vereinsbank seitens der polnischen Regierung blockiert7, das Bemühen von Eon um den Kontrollerwerb an dem in Spanien beheimateten Energieunternehmen Endesa mit Widerstand seitens der spanischen Regierung beantwortet8, die Übernahme des Stahlherstellers Arcelor mit Sitz in Luxemburg durch den in den Niederlanden ansässigen Mittal-Konzern von luxemburgischer und französischer Regierung zu verhindern versucht9, dem Interesse des spanischen Baukonzerns Ferrovial am Kauf des britischen Flughafenbetreibers BAA zeitweise politischer Widerstand in Britannien entgegengesetzt10 und das Interesse der Deutschen Börse an Euronext in Paris mit der Gefahr der Stärke Frankfurts kommentiert11, europapolitisch erstaunlich aber die mit der NYSE verbundene Dominanz des New Yorker Börsenplatzes zunächst nicht gleichermaßen thematisiert.

Die Europäische Kommission versucht derzeit, diesem von ihr als binnenmarktwidrig, weil als national protektiv eingestuften Abwehrphänomen gegenzusteuern12. Ökonomische Stellungnahmen verteufeln es regelmäßig, sind allerdings manchmal konzeptionell schlicht auf Modelle teils unklarer gesamtwirtschaftlicher (globaler?) Effizienz fixiert. Das Gesamtgefüge des EG-Vertrages ist demgegenüber aus gutem Grund komplexer13 als das Prinzip des komparativen Kostenvorteils, das der Binnenmarktdefinition des Art. 14 EGV als Ausgangspunkt zugrunde liegt14 und das naturgemäß regionalpoli¬ZHR 170 (2006) S. 365 (367)tisch blind für seine konkreten Auswirkungen auf die Lokation von Industriebesatz, Arbeitsplätzen, Verwaltungssitzen und Steuerquellen ist. So ging die in der französischen Referendumsdiskussion im Jahre 2005 zu hörende These vom „ultraliberalen“ Verfassungsvertrag gänzlich an den zahlreichen einhegenden Vorkehrungen zugunsten nicht-wirtschaftlicher Interessen im projektierten und gegenwärtigen Binnenmarktrecht vorbei. Wenn auch alles Wirtschaften eine gewinn- und kostenorientierte globale Dimension haben mag, so hat doch alle Politik einen lokalen Bezug15. Die Frage hat daher an Aktualität gewonnen, inwieweit das primäre Binnenmarktrecht, insbesondere das Recht der Niederlassungs- und/oder Kapitalverkehrsfreiheit es explizit oder implizit zulässt, dass ein Mitgliedstaat Übernahmebehinderungen auf ein von ihm als strategisch bezeichnetes nationales Interesse stützt.

II. Zweifelsohne ist der Schutz von Wirtschaftssektoren und Unternehmen von strategischer nationaler Bedeutung kein im Dritten Teil des EGV („Politiken der Gemeinschaft“) textlich ausdrücklich anerkannter Rechtfertigungsgrund für Behinderungen des binnenmarktlichen Freiverkehrs von Produktionsfaktoren (Personen, Kapital) oder Produkten (Waren, Dienstleistungen). Im Gegenteil lässt sich aus der allgemeinen Einschränkungsklausel der Vertragsvorschriften gegenüber Maßnahmen zur Wahrung der wesentlichen nationalen Sicherheitsinteressen (Art. 296 EGV) grundsätzlich schließen, dass eine Ausnahme unter dem Aspekt strategischer Interessen nur im Hinblick auf die in der Vorschrift genannte Dimension (Erzeugung und Handel mit militärischem Gerät) greifen kann, wobei überdies die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der nicht eigens für militärische Zwecke bestimmten Waren im Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigt werden dürfen. Und Art. 297 EGV betrifft im Kern krisenreagible ad-hoc-Maßnahmen.

Gleichwohl plädierte GA Colomer in zwei Schlussanträgen zu Sachverhalten goldener Aktien der nationalen öffentlichen Hand für eine Begrenzung des Anwendungsbereichs der Marktgrundfreiheiten, indem er die Unberührtheitsklausel der Eigentumsordnung (Neutralitätsgrundsatz des Art. 295 EGV) u.a. mit einem Erst-Recht-Schluss aktivierte16. Wenn es dem Staat gemeinschaftsrechtlich unbenommen sei, Unternehmen in öffentlicher Trägerschaft zu führen, seien ihm (wenigstens im Falle der Privatisierung „strategisch wichtiger Unternehmen“17) erst recht Sonderrechte zuzugestehen, da ZHR 170 (2006) S. 365 (368)diese weniger als die öffentliche Unternehmensträgerschaft vom marktwirtschaftlichen Modell des Art. 4 Abs. 1 EGVabwichen.

Der EuGH ist dieser Überlegung in ihrer Allgemeinheit im Ergebnis zwar zu Recht nicht gefolgt, freilich mit einer unzureichenden Floskel ohne weitere Begründung18, die der Existenz des Art. 295 EGV nicht gerecht wird, und überdies mit dem Hinweis auf die mögliche Rechtfertigbarkeit der Beibehaltung eines „gewissen“ Einflusses auf Unternehmen, die „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse oder von strategischer Bedeutung“ erbringen19. In der Argumentation Colomers ist die Grenzziehung zu jedweder behindernden Maßnahme des binnenmarktlichen Freiverkehrs durch wirtschaftspolitische Lenkungseingriffe nicht klar20, die These der höheren Marktkonformität von Privatunternehmen unter der Kuratel staatlicher Sonderrechte im Vergleich zur klaren öffentlichen Trägerschaft und öffentlichen Konzernierung zweifelhaft und die Kompatibilität zur ständigen Rechtsprechung des EuGH, die generell nur den Schutz sog. nicht-wirtschaftlicher zwingender Interessen als rechtfertigenden Einschränkungsgrund der Marktgrundfreiheiten anerkennen will21, undeutlich. Hinzukommt, dass die Verhinderung „ausländischer“ Kontrolle im Sinne des Einflusses von Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat oder von Unionsbürgern mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates innerhalb des Binnenmarktes eklatant in Widerspruch zur Grundidee des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV) tritt. Andererseits hat die Rechtsprechung des EuGH zu beachten, dass sie nicht privatisierungsfeindlich wirkt.

Festzuhalten ist aber, dass der Schutz von Wirtschaftssektoren oder Unternehmen von „strategischer“ Bedeutung in ihrer undefinierten Allgemeinheit kein valider Rechtfertigungsgrund für Behinderungen der binnenmarktlichen Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit sein kann. Insbesondere ist daher das Ziel der Schaffung eines sog. nationalen Champions22 kein gemeinschaftsrechtlich legitimes Interesse, das die Behinderung des Erwerbs durch ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen oder durch Unionsbürger ausländischer Staatsangehörigkeit rechtfertigen könnte. Doch erledigt dies noch nicht die Frage, ob sich in der Formel der „strategischen“ Bedeutung nicht doch zwingende Interessen verbergen können, die unter bestimmten Voraussetzungen ein Übernahmehindernis rechtfertigen.

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III. In der pauschalen Geltendmachung der strategischen Bedeutung kann im Einzelfall ein gemeinschaftsrechtlich legitimer Kern enthalten sein, der möglicherweise sogar Abwehrmaßnahmen nach Artt. 46, 58 EGV rechtfertigt, wobei Art. 46 EGV nicht mit Art. 56 EGV überspielt werden kann (Art. 58 Abs. 2 EGV). Denn es lässt sich keineswegs rundweg ausschließen, dass die rendite-, prestige- oder einflußgetriebene Übernahme Schutzbedürfnisse der Bevölkerung, insbesondere in einem kleinen Mitgliedstaat, berühren kann: beispielsweise wenn zu besorgen ist, dass aus Rentabilitätsüberlegungen ein ausreichendes Angebot an flächendeckenden Verkehrsdienstleistungen oder Energielieferungen im Land des übernommenen Unternehmens unsicher ist, oder wenn zu befürchten ist, dass so genannte „Performance“-Strategien des Übernehmers die ausreichende Kreditversorgung zu vernünftigen Bedingungen im Land des übernommenen wichtigsten Kreditinstituts gefährden. Lassen sich derartige Besorgnisse substantiieren, sind die Möglichkeiten gemeinschaftsrechtskonformer Abhilfemaßnahmen auszuloten. Hierbei sind drei Eckpunkte zu beachten.

1. Wegen Art. 295 EGV ist es nationalen öffentlichen Händen unbenommen, in einer Übernahmeschlacht selbst als Übernehmer aufzutreten. Allerdings gelten für sie hierbei gemeinschaftsrechtlich grundsätzlich dieselben Wettbewerbsregeln wie für private Bieter, insbesondere auch das Recht der Fusionskontrolle. Zusätzlich einschlägig sind aber auch die speziellen Wettbewerbsregeln für die öffentliche Hand, also namentlich das Verbot wettbewerbsverfälschender Beihilfen des Art. 87 EGV, das im Fall einer Sanierungsübernahme verletzt werden kann23.

2. Steht die Option des unternehmerischen Eigenengagements der öffentlichen Hand nicht zur Verfügung (meist schon mangels Finanzierungsmöglichkeit), gibt das Gemeinschaftsrecht keine Handhabe, den Erwerb der Inhaberschaft oder der Kontrolle eines Unternehmens durch die aus Artt. 43, 56 EGV berechtigten Marktakteure aus anderen Mitgliedstaaten mit anderen als binnenmarktrechtskonformen Mitteln abzuwehren. Im Hinblick auf öffentliche oder privilegierte Unternehmen im Sinne des Art. 86 Abs. 1 EGV ergibt sich dies, vorbehaltlich von Art. 86 Abs. 2 EGV, schon aus dieser Norm.

a. Als binnenmarktrechtskonform kann noch das politische Bemühen um eine „nationale Übernahmelösung“ angesehen werden, wenn diese letztlich von den Unternehmen selbst entschieden, im Gang der Übernahme die Grenze zur staatlichen Zurechenbarkeit von Maßnahmen im Sinne des „Kauft Irisch“-Urteils des EuGH24 nicht überschritten und das Verbot wettbewerbsverfälschender staatlicher Beihilfen nicht verletzt wird. Im Fall Suez kam die Europäische Kommission zu dem Ergebnis, dass das Engagement der französischen Regierung gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden sei.

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b. Binnenmarktrechtskonform kann insbesondere die Setzung von Rahmendaten und (objektiver und klarer) Genehmigungserfordernisse bis hin zur Schaffung von Sonderrechten bei unternehmerischen Maßnahmen (z.B. Widerspruchs-, Entsende- und Aufhebungsrechte) sein, sofern diese entweder keine Beschränkung der Grundfreiheiten darstellen oder zur Verwirklichung gemeinschaftsrechtlich anerkennenswerter zwingender einzelstaatlicher Interessen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind. Zweifelhaft ist die ausgedehnte judikative Bejahung einer tatbestandlichen Beschränkung im Falle staatlicher Sonderrechte im unternehmensinternen Entscheidungsverfahren25. Jedenfalls sind aber Beschränkungen infolge unterschiedslos anwendbarer Regelungen in allen Grundfreiheiten bei Erfüllung der allgemeinen Voraussetzungen rechtfertigbar (Gebhard-Formel26), so die vom EuGH als kapitalverkehrsrelevant angesehene belgische Regelung zur Sicherstellung einer Mindestversorgung mit Energie27. Im Rahmen der Artt. 30, 39 Abs. 3, 46 Abs. 1, 55 und 58 Abs. 1 EGV sind aber auch Schutzmaßnahmen anzuerkennen, die sich aus Gründen der nationalen öffentlichen Ordnung und Sicherheit ergeben. So wurde die einfuhrbehindernde (teilweise) Bedarfsdeckungspflicht von Erdölerzeugnissen bei einer im irischen Hoheitsgebiet gelegenen Raffinerie vom EuGH durchaus überzeugend aus dem Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit, die durch Unterbrechung der Versorgung mit überlebensnotwendigen Gütern gefährdet werden könne, als gerechtfertigte Vorsorge für die inländische Raffineriekapazität im Krisenfall beurteilt28.

c. Einzelstaatliche Rahmendaten in Gestalt von Auflagen für bestimmte Wirtschaftstätigkeiten wird man daher (im Falle fehlender gemeinschaftsrechtlicher Vorkehrungen) bei Konflikten mit Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln insbesondere im Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne der Art. 16, 86 Abs. 2 EGV für gerechtfertigt zu halten haben, sofern die Voraussetzungen der Verhinderung der Aufgabenerfüllung sowie der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit erweislich sind. Soweit die Voraussetzung der Betrauung mit einer derartigen ZHR 170 (2006) S. 365 (371)Dienstleistung im Sinne des Art. 86 Abs. 2 EGV erfüllt ist, öffnet ohnehin diese Norm den Weg in die weitere Prüfung29.

Nichts spricht indes dagegen, auch außerhalb einer derartigen Betrauung den Kreis der von der Rechtsprechung des EuGH anerkannten Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse als Indiz für das Vorliegen eines ausdrücklichen Schutzgutes (öffentliche Sicherheit, öffentliche Ordnung) zu werten oder im Falle unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen im Bereich der Grundfreiheiten als Indiz für ein zwingendes Allgemeininteresse anzusehen30. Im Licht der plausiblen Rechtsprechung des EuGH zum Fächer der von Art. 86 Abs. 2 EGV erfassten Dienstleistungen kann es sich dabei insbesondere um Universaldienste wie Postbeförderung31, Telekommunikation32 und Energieversorgung33 handeln, aber auch um Abfallentsorgung34 und Rundfunk35, nach dem Schrifttum auch um die Kreditversorgung durch öffentlich-rechtliche Banken36 (wobei diese Eingrenzung auf den öffentlich-rechtlichen Sektor im Blick auf Mitgliedstaaten ohne einen solchen fraglich sein könnte). Hinzuzufügen sind auch die Wasserwirtschaft und die im Rahmen der Kompensationsrechtsprechung zu Art. 87 Abs. 1 EGV erfassten Dienstleistungen, z.B. im Verkehr37.

3. Allerdings ist unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit bzw. Funktionsfähigkeit ein Caveat gegenüber allzu rascher Rechtfertigung von Freiverkehrsbeschränkungen auszusprechen. Das wirtschaftsordnungsrechtliche Leitbild des Gemeinschaftsrechts ist die wettbewerbsverfasste Marktwirtschaft (Art. 4 Abs. 1 EGV). Mithin sind freiverkehrbehindernde staatliche Regulativa zur Sicherung gegen unerwünschte Auswirkungen von Übernahmen auf zwingende Allgemeininteressen gerade auch daraufhin zu prüfen, ob sie ZHR 170 (2006) S. 365 (372)dem jeweiligen Schutzgut besser dienen (Gemeinschaftswohlgewinn38) als der freie binnenmarktliche Wettbewerb und die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln. Solange Übernahmen nicht zu einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs im Sinne von Art. 2 Abs. 3 der FKVO 139/2004, insbesondere durch die Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung, führen, wird man grundsätzlich die dem Wettbewerb zugeschriebenen allgemeinen positiven Effizienz- und Legitimationsfunktionen39, insbesondere also die nachfragegerechte Leistungserbringung, auch zugunsten der von der Übernahme betroffenen Marktgegenseite erwarten dürfen. Dies setzt allerdings voraus, dass sich in der Frage der in Art. 2 Abs. 2 FKVO noch hinnehmbaren Wettbewerbsschwächung durch eine Übernahme die Handhabung der europäischen Fusionskontrolle als verlässlich, berechenbar und überzeugend erweist, will sie der Beurteilung der Erforderlichkeit staatlicher Regulativa zur Funktionssicherung eine Grundorientierung geben. Die zielführende Erfüllung dieser Aufgabe ist indes in jüngerer Zeit mit der starken Betonung des sog. ökonomischen Ansatzes durch die zuständige Generaldirektion der EG-Kommission ins Gerede gekommen40. Gewiss erfordern die wettbewerblichen Auswirkungen jeweils eine sorgfältige ökonomische Analyse. Sie indes gegen die sog. formale Regelanwendung in Stellung zu bringen, wie es derzeit für manche Beobachter den Anschein hat41, wäre zweifelhaft und kontraproduktiv. Denn auch die Anwendung der Fusionskontrollregeln bedarf der verlässlichen Regelbildung, um nicht diskretionärer politischer Beliebigkeit zu Lasten der Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit und Freiheitssicherung der Marktteilnehmer zu verfallen. Darüber aber wacht notfalls die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit. Daher bleiben das konstruktive Zusammenwirken von Ökonomen und Juristen, die Regelbildung im Dienste der Freiheits- und Effizienzfunktion der wettbewerbsverfassten Marktwirtschaft und der Primat des Rechts für die Frage der fusionskontrollrechtlichen Zulässigkeit auch bei grenzüberschreitenden Übernahmen und deren regulativen Begleitfragen im europäischen Binnenmarkt unerlässlich.

Peter-Christian Müller-Graff

1

Vgl. z.B. Tatò, Übernahmen in der Energiebranche bringen kaum Synergieeffekte, F.A.Z. v. 21. 3. 2006, S. 13.

2

EuGH vom 12. 12. 2005, Rs. C-411/03, ZIP 2005, 2311; dazu Teichmann, ZIP 2006, 355ff.

3

Richtlinie 2005/56/EG v. 26. 10. 2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. 2006 L 310/1; zur Umsetzung im deutschen Recht: Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes v. 13. 2. 2006.

4

VO (EG) 2157/2001, ABl. L 294/1 v. 10. 11. 2001.

5

Vgl. dazu umfänglich Kainer, Unternehmensübernahmen im Binnenmarktrecht, 2003, S. 305ff.

6

Vgl. Steltzner, Albtraum Festung Europa, F.A.Z. v. 13. 3. 2006, S. 11 mit Hinweis auf eine politische Liste französischer Unternehmen, die vor Übernahmen zu schützen seien (darunter Danone und Carrefour), und auf eine gespaltene Haltung, dass nationale Großkonzerne gut für Europa seien, europäische Großkonzerne aber schlecht für die Nation.

7

Vgl. Steltzner (Fn. 6), S. 11; F.A.Z. v. 9. 3. 2006, S. 9 („Taten statt Worte“) und F.A.Z. v. 27. 3. 2006, S. 13 („Politische Willkür“).

8

Vgl. Steltzner (Fn. 6), S. 11; Vgl. auch F.A.Z. v. 21. 3. 2006, S. 11 („EU geht gegen Spanien vor“).

9

Vgl. F.A.Z. vom 20. 5. 2006, S. 11 („Mittal stockt das Arcelor-Angebot kräftig auf“).

10

Vgl. F.A.Z. vom 20. 3. 2006, S. 11 („Offene Insel“).

11

Kritisch hierzu Möschel, Europas Börsen in Bewegung, in: F.A.Z. v. 1. 4. 2006, S. 13.

12

Vgl. Europäische Kommission ID/06/436 v. 4. 4. 2006; s. auch F.A.Z. v. 9. 3. 2006, S. 9 im Hinblick auf den Widerstand der polnischen Regierung gegen die Bankenfusion von Unicredit und Hypo-Vereinsbank („Taten statt Worte“); F.A.Z. v. 21. 3. 2006, S. 11 im Hinblick auf die Maßnahmen der spanischen Regierung zur Verhinderung des Kaufs von Endesa durch Eon („EU geht gegen Spanien vor“).

13

Vgl. Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), EU-Wirtschaftsrecht, A I.

14

Molle, The Economics of European Integration, 1991, S. 9.

15

Zu Letzterem vgl. O’Neill, All politics is local, 1994.

16

Vgl. Schlussanträge v. 3. 7. 2001 in den Rechtssachen C-367/98, C-483/99 und C- 503/99, Slg. 2002, I-4731 Rdn. 39ff., 66ff. sowie die Argumentation zu Art. 295 EGV unter Kritik an den Urteilen des EuGH v. 4. 6. 2002 erneut aufnehmend und schärfend in den Schlussanträgen vom 6. 2. 2003 in den Rechtssachen C-463/00 und C-98/01, Slg. 2003, I-4583 Rdn. 54ff.; a.A. hingegen GA Maduro, Schlussanträge v. 6. 4. 2006 in den verb.Rs. C-282/04 und C-283/04 Rdn. 27 ff.

17

Schlussanträge (Fn. 16), Rdn. 59; „Dienstleistungen von strategischer Bedeutung“ neben „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ als möglichen Rechtfertigungsgrund nennend EuGH, Rs. C-503/99, Slg. 2002, I-4809 Rdn. 43.

18

Vgl. in den Urteilen v. 4. 6. 2001 in den Rs. C-367/98 (Kommission/Portugal), Slg. 2002, I-4731 Rdn. 48; C-483/99 (Kommission/Frankreich), Slg. 2002, I-4781 Rdn. 44 und C-503/99 (Kommission/Belgien), Slg. 2002, I-4809 Rdn. 44 sowie im Urteil v. 13. 5. 2003 in der Rs. C-463/00 (Kommission/Spanien), Slg. 2003, I-4581.

19

EuGH, Rs. C-503/99 (Kommission/Belgien), Slg. 2002, I-4809 Rdn. 43.

20

Vgl. schon Müller-Graff, FS Ulmer, 2003, S. 929, 942ff.

21

Vgl. z. B. EuGH, Rs. 7/61 (Kommission/Italien), Slg. 1961, 695, 698; EuGH, Rs. C- 120/95 (Decker), Slg. 1998, I-1831, 1844 Rdn. 39

22

Vgl. dazu Steltzner (Fn. 6), S. 11.

23

Vgl. Müller-Graff, ZHR 152 (1988), 403, , 422.

24

EuGH vom 24. 11. 1982, Rs. 249/81 (Kommission/Irland), Slg. 1982, 4005.

25

Vgl. Lübke, Der grenzüberschreitende Anteilserwerb im Binnenmarkt, 2006, § 11 B II 3.

26

EuGH vom 30. 11. 1995, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165 Rdn. 37; speziell zur Kapitalverkehrsfreiheit EuGH vom 4. 6. 2002, Rs. C-503/99 (Kommission/Belgien), Slg. 2002, I-4809 Rdn. 45.

27

EuGH vom 4. 6. 2002 (Fn. 26), Rdn. 48ff., 57, zur Niederlassungsfreiheit Rdn. 58ff.; abgelehnt hingegen für das französische Genehmigungsverfahren (mangels objektiver und klarer Kriterien) EuGH vom 4. 6. 2002, Rs. C-483/99 (Kommission/Frankreich), Slg. 2002, I-4781, Rdn. 47, 53.

28

EuGH, Rs. 72/83 (Campus Oil), Slg. 1984, 2727, 2751; Versorgung mit Erdölprodukten im Krisenfall als zwingender Grund bestätigt durch die EuGH-Urteile in den Rs. C-483/99 und C- 503/99 (Fn. 27).

29

Vgl. Lübke (Fn. 25), § 6 D II 2.

30

In der Sache wohl ähnlich die neue Formel des EuGH von der Erbringung von „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse oder von strategischer Bedeutung“ (Fn. 19).

31

EuGH vom 19. 5. 1993, Rs. C-320/91 (Corbeau), Slg. 1993, I-2533 Rdn. 14.

32

EuGH vom 13. 12. 1991, Rs. C-18/88 (GB-Inno-BM), Slg. 1991, I-5941 Rdn. 16. Die Sicherung der Versorgung mit Telekommunikationsdienstleistungen im Krisenfall ist zu Recht anerkannt als zwingendes Erfordernis im Rahmen von Art. 56 EGV durch EuGH vom 13. 5. 2003, Rs. C-463/00, Slg. 2003, I-4581 Rdn. 71.

33

EuGH vom 23. 10. 1997, Rs. C-159/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, I-5815 Rdn. 59 (daher zutreffende Anerkennung der Sicherstellung der Versorgung mit Erdöl und Elektrizität als zwingendes Erfordernis im Rahmen von Art. 56 EGV durch EuGH vom 13. 5. 2003 (Fn. 32) Rdn. 71); a.A. zu Art. 86 Abs. 2 EGV z. B. Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Europäisches Wettbewerbsrecht, Art. 37, 90, D. Rdn. 34f.

34

EuGH vom 23. 5. 2000, Rs. C-209/98 (Sydhavens), Slg. 2000, I-3743 Rdn. 75f.

35

EuGH vom 16. 12. 1975, Rs. 155/73 (Sacchi), Slg. 1974, 409 Rdn. 15.

36

Z. B. Koenig/Kühling, in: Streinz(Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 86 Rdn. 49.

37

Vgl. EuGH NJW 2003, 2515–AltmarkTrans.

38

Müller-Graff, Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht, 1984, S. 355 ff.

39

Vgl. z.B. Möschel, Das Wirtschaftsrecht der Banken, 1972, S. 364ff., 367ff.

40

Vgl. Mühlberger, Capital Nr. 10/2006, S. 22ff.

41

Mühlberger (Fn. 40), S. 24f.

 
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