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ZHR 184 (2020), 549-561
Krause 

Zur Angemessenheit der Angemessenheit im Deutschen Corporate Governance Kodex

I. Die aktuelle, vom 16. 12. 2019 datierende Fassung des Deutschen Corporate Governance Kodex, die am 20. 3. 2020 im Bundesanzeiger veröffentlicht wurde (im Folgenden “Kodex 2019/2020”), verwendet den Maßstab der “Angemessenheit” an zehn Stellen, vier Mal davon in den Grundsätzen. Beispiele, auf die noch zurückzukommen sein wird, sind:

  • Empfehlung C.6: “Dem Aufsichtsrat soll auf Anteilseignerseite eine nach deren Einschätzung angemessene Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören; dabei soll die Eigentümerstruktur berücksichtigt werden.”

  • Empfehlung G.2: “Auf Basis des Vergütungssystems soll der Aufsichtsrat für jedes Vorstandsmitglied zunächst dessen konkrete Ziel-Gesamtvergütung festlegen, die in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage des Unternehmens stehen [. . .]”.

  • Grundsatz 15 Satz 2: “Der Aufsichtsrat hat jedoch seinerseits sicherzustellen, dass er angemessen informiert wird.”

  • Empfehlung G.11: “Der Aufsichtsrat soll die Möglichkeit haben, außergewöhnlichen Entwicklungen in angemessenem Rahmen Rechnung zu tragen.”

Da der Kodex dem Ziel dient, “das deutsche Corporate Governance System transparent und nachvollziehbar zu machen”1, darf man annehmen, dass gute Corporate Governance sehr viel mit Angemessenheit zu tun hat.

Mit seiner Betonung der Angemessenheit überholt der Kodex sogar das alte Aktiengesetz. Im AktG taucht der Begriff zwar insgesamt 59 Mal auf. Aber sieben Mal davon geht es schlicht um den Ersatz “angemessener Auslagen” und 18 Mal um die Angemessenheit einer Abfindung, also die Frage des “richtigen” Wertes eines Unternehmensanteils, so wie man den Begriff der “angemessenen Barabfindung” auch aus § 29 und § 34 UmwG kennt. Lässt man diese Beispiele außen vor, ist jedenfalls die “Angemessenheitsdichte” des Kodex unübertroffen. Das GmbHG wartet nur einmal mit dem Maßstab der Angemessenheit auf, und zwar im Zusammenhang mit der Bewertung von Leistungen im Rahmen der Sachgründung (§ 5 Abs. 4 S. 2 GmbH).

Was ist angemessen? Man könnte auch fragen: Was ist gerecht? Um eine Antwort auf diese vielschichtige Frage soll es hier nicht gehen. Vielmehr gehtZHR 184 (2020) S. 549 (550) es darum zu erkunden, warum der Kodex so auffällig oft auf den Maßstab der Angemessenheit zurückgreift.

II. Das Kriterium der Angemessenheit verfügt über einen weit verzweigten Stammbaum. Ein herausragender Vertreter des Stammes ist die Angemessenheit in der verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung zur Verhältnismäßigkeit. Handels- und Wirtschaftsrechtlern – also den Lesern der ZHR – geläufig ist auch die Angemessenheit als Kriterium für die Höhe der Abfindung von Minderheitsaktionären bei Strukturmaßnahmen oder für den Ausgabebetrag gemäß § 255 Abs. 2 S. 1 AktG.

1. Zunächst zur hohen Warte des Verfassungsrechts und damit zur Angemessenheit als Schlussakkord bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit, die zu Recht als “das wichtigste Element der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung”2 bezeichnet worden ist. Der “Grundsatz der Verhältnismäßigkeit” – erstmals 1954 in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gleichsam aus dem Nichts als immer schon dagewesenes Prinzip benannt,3 als eine unserer Rechtsordnung eigene Methode beschrieben4 und nach Vorarbeiten des EuGH in Anlehnung an die Methodik des deutschen Rechts5 mit Art. 5 EUV als kompetenzielle Schutzvorschrift zugunsten der Mitgliedstaaten inzwischen auch im europäischen Primärrecht kodifiziert – verlangt, dass ein Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) ist.6 Dem Gebot der Angemessenheit wiederum ist Rechnung getragen, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht.7 Anders ausgedrückt: “Das Maß der den Einzelnen treffenden Belastung muss noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen”8 oder negativ formuliert: “Die Schwere des Eingriffs darf bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen.”9 Das führt zu einer Prüfungsfolge, in der zunächst die gegenüberstehenden Positionen identifiziert und dann gegeneinander abgewogen werden, wobei in der Gewichtung der Positionen nach Rang/Bedeutung einerseits und Intensität der Betroffenheit andererseits die eigentlichen (manchmal auch unausge-ZHR 184 (2020) S. 549 (551)sprochenen) Wertentscheidungen liegen. Angemessenheit bedeutet in diesem Kontext also Grenzziehung durch Abwägung.

2. Ganz anders verhält es sich mit der Angemessenheit einer Abfindung für Minderheitsaktionäre bei einem Squeeze-out, einem Beherrschungsvertrag oder vergleichbaren Strukturmaßnahmen. Hier geht es schlicht um die monetäre Bewertung eines Gutes, für das nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel gezahlt werden soll. Die z.B. in § 305 Abs. 1 AktG vorgesehene Abfindung ist angemessen, wenn sie in finanzieller Hinsicht die Nachteile derjenigen Aktionäre ausgleicht, die aus der Gesellschaft ausscheiden; ihnen ist der “volle, wirkliche” Wert ihrer Beteiligung zu ersetzen.10 Diesen Obersatz und seine Konturierung haben Juristen formuliert.11 Zur weiteren Bearbeitung verweisen sie jedoch an Experten, insbesondere Experten der Ertragswertmethode. Angemessenheit ist hier (auch) ein Fenster zur Einbindung von externem, außerrechtlichem Sachverstand. “Die Frage der geeigneten Bewertungsmethode ist keine Rechtsfrage, sondern Teil der Tatsachenfeststellung und beurteilt sich nach der wirtschaftswissenschaftlichen oder betriebswissenschaftlichen Bewertungstheorie und -praxis.”12 Diese Bewertungsarbeiten liegen jenseits des normativ exakt Vorgeprägten. So kommt es zu der vom BGH und vom BVerfG ausgesprochenen Feststellung, dass es nicht möglich sei, einen exakten, einzig richtigen Wert eines Unternehmens zu bestimmen.13 Hierin liegt eine revisionsrechtlich verständliche Markierung, die allerdings manchem Tatrichter, dem die exakte Festlegung des im konkreten Fall streitentscheidenden Wertes abverlangt wird, aufstoßen wird.

3. Wiederum weitgehend den Juristen überantwortet und teleologisch differenzierter ausgeformt ist die Prüfung der Angemessenheit i.S.v. § 255 Abs. 2 AktG. Diese Vorschrift will die Bestandsaktionäre vor einer Verwässerung ihrer Beteiligung durch Ausgabe neuer Aktien schützen, auf die sie kein Bezugsrecht haben. Daher darf der Ausgabebetrag der neuen Aktien nicht “unangemessen niedrig” sein. Um diese Grenze zu ermitteln, wird in einem ersten Schritt der “volle, wirkliche” Wert der Beteiligung festgestellt. Wenn die neuen Aktionäre diesen Wert einlegen, ist eine Verwässerung des “vollen, wirklichen” Werts der Beteiligung der Bestandsaktionäre mathematisch ausgeschlossen. Die rechtliche Würdigung eines Sachverhalts setzt sich jedoch über diese Mathematik hinweg. Wäre wirklich allein der “volle, wirkliche Wert” maßgeblich, würde sich kein Zeichner für eine Barkapitalerhöhung finden, wenn dieser Wert – wie nicht selten in der Praxis – über dem aktuellen Börsenkurs liegt. Der Maßstab der Angemessenheit sorgt hier für eine Korrektur, wenngleich die Wege der Begründung etwas verschlungen sind. So wird argu-ZHR 184 (2020) S. 549 (552)mentiert, dass in diesen Fällen doch eher der Börsenkurs als Bemessungsgrundlage heranzuziehen sei (der wiederum in gewissen – “angemessenen”14 – Grenzen unterschritten werden dürfe), weil dieser bei einer (Bar-) Kapitalerhöhung der treffendere Maßstab sei15 oder jedenfalls als widerlegbare Vermutung tauge.16 Die Angemessenheit impliziert also keinen festen Bewertungsmaßstab, sondern eröffnet eine Abwägung. Die Interessen der Gesellschaft, der Bestandsaktionäre und der neuen Aktionäre müssen zum Ausgleich gebracht werden;17 angemessen ist dann der Wert, der im Schnittpunkt dieser Interessen liegt. Dieser ist bei Barkapitalerhöhungen einer börsennotierten Gesellschaft in der Regel der aktuelle, ggf. geglättete Börsenkurs. Bei Sachkapitalerhöhungen erfolgt ebenfalls eine umfangreiche, strukturierte Interessenabwägung, bei der die Wertrelation, die Verhandlungssituation und subjektive Erwerbsinteressen wie künftige Synergieeffekte oder strategische Interessen der erwerbenden Gesellschaft (etwa ein sog. Scarcity-Value der Sacheinlage) berücksichtigt werden können.18 Dies ist ein rechtliches Abwägungsprogramm mit nur kleinen Fenstern zur wirtschaftswissenschaftlichen oder betriebswissenschaftlichen Bewertungstheorie.

III. Zurück zum Kodex: Auch der Kodex verwendet den Begriff der Angemessenheit, wenn im Wege einer Interessenabwägung die richtige Quantität – nicht zu viel, nicht wenig – ermittelt werden soll.

1. Bei der vom Kodex seit 201219 verlangten angemessenen Anzahl unabhängiger Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat (Empfehlung C.6) geht es allerdings ausschließlich um ein “nicht zu wenig”, wie die bis 2012 verwendete Formulierung “ausreichende Anzahl” deutlicher gemacht hatte. Kremer mutmaßt, die Kommission habe mit der Änderung seinerzeit andeuten wollen, dass “angemessen” mehr sei als “ausreichend”, schränkt aber gleich ein, dass es kein objektives Kriterium gebe, an dem die “angemessene Anzahl” gemessen werden könnte.20 Jedenfalls gibt es keine Berechnungsformel. Die Feinjustierung kann sich aber an zwei Gesichtspunkten orientieren. Diese liegen eigentlich auf der Hand, sind aber auch im Kodex zu finden, wenn man verschiedene Fassungen nebeneinander legt: Einerseits darf und soll die Eigentü-ZHR 184 (2020) S. 549 (553)merstruktur berücksichtigt werden21; andererseits soll eine unabhängige Beratung und Überwachung des Vorstands durch den Aufsichtsrat ermöglicht werden22, was als Forderung zu verstehen ist, dass die Interessen der Minderheitsaktionäre hinreichend repräsentiert sein müssen.23 In der (faktisch) beherrschten Gesellschaft ist damit das Interesse des Mehrheitsaktionärs an möglichst weitgehender Kontrolle des Aufsichtsrats mit dem Interesse der Minderheitsaktionäre, dass auch ihre Interessen eingebracht werden, zum Ausgleich zu bringen. Dass dieser Ausgleich im Falle eines paritätisch besetzten Aufsichtsrats mit sechs Anteilseignervertretern schon mit einem unabhängigen Vertreter erzielt werden kann,24 erscheint teleologisch plausibel, war aber nicht unumstritten – aus dem einfachen Grunde, dass zwei mehr sind – quantitativ und qualitativ – als einer.25 Der Kodex 2019/2020 hat seiner eigenen Teleologie jedenfalls nicht getraut und verlangt korrigierend oder klarstellend nun mit Empfehlung C.9 in diesen Fällen mindestens zwei unabhängige Mitglieder auf Anteilseignerseite.

Diese Präzisierung war vielleicht auch deshalb angezeigt, weil die Kodex-Empfehlung C.6 keine objektiv angemessene Anzahl unabhängiger Anteilseignervertreter verlangt, sondern nur eine “nach Einschätzung der Anteilseignerseite” angemessene Anzahl. Das ist weniger als eine determinative Vorgabe. Mit der Subjektivierung wird das Kriterium der Angemessenheit weiter geöffnet, so dass die als materielle Regelung formulierte Empfehlung des Kodex zu einer Kompetenz- und Verfahrensregel wird: Angemessen ist, was von den Zuständigen als angemessen begründet werden kann.26 Angesichts der klaren Mindestregelungen, die heute gelten, hat diese kompetenz- und verfahrensrechtliche Dimension kaum noch Relevanz. Aber es ist interessant zu sehen, dass der weiche Maßstab der Angemessenheit noch weiter aufgeweicht oder – besser ausgedrückt – durch eine weitere Nuance gefärbt werden kann.

Diesen Weg ist der Gesetzgeber ganz bewusst auch bei § 93 Abs. 1 S. 2 AktG gegangen, der das Privileg der Business Judgment Rule u.a. davon abhängig macht, dass der Vorstand “vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Informationen zu handeln”. Dies, so die Gesetzes-ZHR 184 (2020) S. 549 (554)begründung Anfang 2005, “reflektiert, dass insbesondere bei Entscheidungen, die unter hohem und nicht selbsterzeugtem Zeitdruck zu fällen sind, eine umfassende Entscheidungsvorbereitung schwierig oder gar unmöglich sein kann. Mitunter sind die verfügbaren objektiv erscheinenden Informationen auch unmerklich durch betriebswirtschaftliche Trends oder allgemeine Marktstimmungen subjektiv eingefärbt, und gerade der Unternehmer, der sich antizyklisch verhält und das Unerwartete tut, mag Erfolg haben. Abgestellt wird daher auf die vom Vorstandsmitglied vernünftigerweise als angemessen erachtete Information, auf deren Basis und nach deren freier Würdigung er dann eine unternehmerische Entscheidung fällt.”27

2. Eine Erstarkung von der weicheren Angemessenheit zur harten Mindestquote vollzog sich bekanntlich auch bei der Frauenquote. Der Kodex empfahl seit 2011 (bis zum Kodex vom 5. 5. 2015), dass die vom Aufsichtsrat für seine Zusammensetzung zu benennenden konkreten Ziele eine angemessene Beteiligung von Frauen vorsehen sollen (Ziff. 5. 4. 1). Das Kriterium der Angemessenheit, zumal es gefasst war als Gegenstand einer Ziel-Benennung durch den Aufsichtsrat, hatte vor allem eine gesellschaftspolitisch motivierte Appellfunktion: Ziel war, dass sich der Frauenanteil in Aufsichtsräten insgesamt erheblich steigert. Mehr als dieses “Mehr als bisher” war aus der Angemessenheit bei Licht betrachtet nicht abzuleiten28 – womit der Wert der Kodex-Empfehlung in keiner Weise in Abrede gestellt werden soll. Die Empfehlung gab vor allem Raum für die naheliegende Überlegung (und den Diskurs darüber29), dass es einer kritischen Masse von Frauen in Führungsgremien bedarf, um die positiven Effekte von Gender Diversity zum Tragen zu bringen.30 Zusammen mit anderen gesellschaftlichen Veränderungen hat diese Kodex-Empfehlung schon viel bewegt.31 Politisch wurde dieser Ansatz aber als nicht ausreichend verworfen und durch die im Gesetz für die gleichberechtigte Teil-ZHR 184 (2020) S. 549 (555)habe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst vom März 2015 vorgesehene Quotenregelung abgelöst, die für mitbestimmungspflichtige börsennotierte Gesellschaften einen Mindestanteil von jeweils 30 % an Frauen und Männern bei erforderlich werdenden Neuwahlen und Entsendungen ab dem 1. 1. 2016 vorsieht.

Was die Repräsentanz von Frauen in den Vorstands- und obersten Managementebenen angeht, hat das Kriterium der Angemessenheit in der juristischen Umsetzung zuletzt interessanterweise keine Rolle mehr gespielt. Seit dem 30. 9. 2015 muss der Aufsichtsrat von Gesellschaften, die börsennotiert sind oder der Mitbestimmung unterliegen, Zielgrößen für den Frauenanteil im Vorstand festlegen. Weder § 111 Abs. 5 AktG (bzw. § 76 Abs. 4 AktG) noch der Kodex kreisen die Zielgröße mit dem Begriff der Angemessenheit ein. Stattdessen gilt de lege lata32 ein Verschlechterungsverbot. Liegt der Frauenanteil bei Festlegung der Zielgrößen bei unter 30 %, so dürfen die Zielgrößen den einmal erreichten Anteil nicht unterschreiten. Die im Gesetzgebungsverfahren33 diskutierte ergänzende Plafond-Regelung, dass eine Zielgröße von 30 % nicht mehr unterschritten werden dürfe, nachdem ein Frauenanteil von 30 % oder mehr einmal erreicht worden ist, wurde nicht umgesetzt. Der Kodex hatte seit 2010 gefordert, dass der Vorstand bei der Besetzung von Führungsfunktionen im Unternehmen eine angemessene Berücksichtigung von Frauen anstreben soll (Ziff. 4. 1. 5). Ganz ohne Angemessenheit als Orientierung für ein Durchgangsstadium ging es also auch hier nicht. Der aktuelle Kodex 2019/2020 hat das Kriterium allerdings fallengelassen und empfiehlt unter A.1 etwas breiter, dass der Vorstand bei der Besetzung von Führungsfunktionen auf Diversität achten soll. Im Hinblick auf Gender Diversity ist damit sicherlich kein Rückschritt gegenüber der bisher in Ziff. 4. 1. 5 vermittelten Akzentuierung beabsichtigt.

3. Nicht um Quantitäten, sondern um Qualitäten geht es dem Kodex im Grundsatz 15, wo wiedergegeben wird, dass die Information des Aufsichtsrats zwar Aufgabe des Vorstands ist, der Aufsichtsrat aber seinerseits sicherzustellen hat, dass er angemessen informiert wird. Hier geht es nicht um das Maß der Information, sondern um den Inhalt der Information und die Art und Wei-ZHR 184 (2020) S. 549 (556)se, wie der Aufsichtsrat informiert wird. Wann welche Information angemessen im Sinne des Kodex ist, kann wegen der Vielgestaltigkeit der Sachverhalte nur von den Umständen des Einzelfalls abhängen. Diese zu sammeln, zu gewichten und aus den gegebenen Besonderheiten abzuleiten, welches Informationsbedürfnis besteht, wie dieses befriedigt werden kann und welche Grenzen dabei zu beachten sind, obliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Aufsichtsrats. Maßstab dafür sind die Zuständigkeiten des Aufsichtsrats im Kompetenzgefüge der Aktiengesellschaft, insbesondere gegenüber dem Vorstand. Der Aufsichtsrat muss und darf die Informationen verlangen, die er zur Ausfüllung seiner verschiedenen Aufgaben und Kompetenzen benötigt. Geht es um die dem Aufsichtsrat zugewiesene Überwachung der Geschäftsführung der Gesellschaft (§ 111 Abs. 1 und 2 AktG), wird er sich vor allem in Aufsichtsratssitzungen und in den Sitzungen der Ausschüsse über die Tätigkeit des Vorstands berichten lassen. Gleiches gilt für die Beratungen, die der Aufsichtsrat gegenüber und mit dem Vorstand leistet. Anders gelagert ist die Informationsbeschaffung, wenn der Aufsichtsrat Unterlagen der Gesellschaft einsieht und zu diesem Zweck Sachverständige einschaltet, die ohne oder nur mit dosierter Mitwirkung des Vorstands tätig werden. Erläuterungen anderer Art wird der Aufsichtsrat vom Vorstand einholen, wenn er der Hauptversammlung seine eigenen Beschlussvorschläge unterbreitet (§ 124 Abs. 3 AktG). Wiederum anders sind die Informationspflichten im Hinblick auf dem Aufsichtsrat zugewiesene Personalentscheidungen, wenn es also z.B. darum geht, ob der Vorstand richtig zusammengesetzt ist, ob zusätzliche Mitglieder bestellt oder ob Vorstandsmitglieder abberufen werden sollen (§ 84 AktG). Die Information kann in all diesen Fällen mündlich oder schriftlich erfolgen. Informationsschuldner ist im Regelfall der Vorstand, ausnahmsweise aber auch Mitarbeiter nachgeordneter Ebenen.34 Und das Informationsrecht besteht nicht unbegrenzt: Es geht nur so weit, wie es der Kompetenzbereich des Aufsichtsrats erlaubt. Insoweit muss der Aufsichtsrat die ausschließliche Leitungskompetenz des Vorstands respektieren und darf das Informationsrecht nicht zu einem Instrument der Kontrolle in Alltagsfragen ausbauen.35 Die Angemessenheit markiert hier also eine organisationsrechtliche Grenze. Andererseits muss der Aufsichtsrat über die vom Vorstand angebotenen Informationen hinausgehen und eigene Ermittlungen anstellen, wenn Anhaltspunkte für pflichtwidriges Verhalten des Vorstands bestehen.36 Die Aufklärungsmethode und -tiefe liegt dann wiederum im Ermessen des Aufsichtsrats.37 All diese Kompetenz- und Ermessensfragen verbergen sich hinter dem Begriff der Angemessenheit in Grundsatz 15 des Kodex.ZHR 184 (2020) S. 549 (557)

Mit gleicher Berechtigung hätte freilich auch Satz 1 dieses Grundsatzes deutlich machen können, dass es Aufgabe des Vorstands ist, den Aufsichtsrat angemessen zu informieren.

4. Nur vordergründig um Quantitäten geht es auch bei Empfehlung G.2, wonach die festzulegende Gesamt-Zielvergütung des Vorstands in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage des Unternehmens stehen soll. Damit wird § 87 Abs. 1 AktG wortgetreu wiederholt, mit dem hier nicht interessierenden Unterschied, dass der Kodex die Kategorie einer Gesamt-Zielvergütung einführt. Die Regelung im Aktiengesetz ist uralt. Sie war als § 78 Abs. 1 bereits im AktG 1937 enthalten, nur dass seit 1967 klargestellt ist, dass es für die Angemessenheitsprüfung allein auf den Zeitpunkt der Festsetzung der Vergütung ankommt. Vor 1937 konnten die Bezüge frei vereinbart werden, was bisweilen zu – unangemessenen – “Riesengehältern” geführt hatte. Das Kriterium der Angemessenheit sollte diese Exzesse verhindern, wirkte und wirkt also als Begrenzung nach oben, ohne eine Höchstgrenze vorzuschreiben. Normadressat ist ausschließlich der Aufsichtsrat.38 Damit ist wieder der Übergang von Sach- zu Verfahrensfragen angesprochen. Denn der Aufsichtsrat ist seinerseits keine ungebundene Vertragspartei; seine Mitglieder sind als Sachwalter des für sie fremden Vermögens der Aktiengesellschaft39 ausschließlich dem Gesellschaftsinteresse verpflichtet. Unangemessene Vergütungen, die den Aufgaben und Leistungen sowie der Lage der Gesellschaft nicht gerecht werden, darf der Aufsichtsrat daher schon aufgrund dieser Pflichtenbindung nicht vereinbaren. Bei seiner Entscheidung steht dem Aufsichtsrat ein weiter Beurteilungs- und Ermessenspielraum offen. Der Aufsichtsrat handelt pflichtgemäß, “solange die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muss, nicht überschritten sind,”40 m.a.W. solange der Aufsichtsrat auf angemessener Informationsgrundlage, sachlich unbefangen und unter Beachtung der ordnungsgemäßen Verfahren eine Entscheidung trifft, die im Ergebnis nicht “schlechthin unvertretbar” ist.41 All dies folgt aus Mannesmann, ARAG-Garmenbeck und § 93 Abs. 1 Sa. 2 i.V.m. § 116 AktG. Angemessen ist, was der nach diesen Grundsätzen pflichtgemäß handelnde Aufsichtsrat beschließt. Betrachtet man es von diesem Blickwinkel aus, ist das Kriterium der Angemessenheit in § 87 Abs. 1 AktG lediglich ein klarstellender Verweis auf eine ohnehin bestehende Pflichtenbindung des Aufsichtsrats.

Was die vom Aufsichtsrat zu ermittelnde Informationsgrundlage angeht, bringt die Kodex-Empfehlung G.5 den Vergütungsexperten ins Spiel: WirdZHR 184 (2020) S. 549 (558) ein solcher zur Beurteilung der Angemessenheit der Vergütung hinzugezogen, soll der Aufsichtsrat auf dessen Unabhängigkeit von Vorstand und Unternehmen achten. So wie der (unabhängige) Wirtschaftsprüfer – wie oben beschrieben – den Verantwortlichen hilft, den Wert für die angemessene Abfindung bei Strukturmaßnahmen zu ermitteln, hilft der Vergütungsexperte bei der Ermittlung der angemessenen Vergütung. Beide bringen externe Expertise an den Tisch. Dennoch unterscheidet sich ihre Funktion ganz wesentlich: Der Wirtschaftsprüfer agiert auf dem Feld der Bewertungsmethoden, die “keine Rechtsnormen sind und ihnen auch nicht ähneln”.42 Die von ihm ermittelten Werte sind daher Ergebnis eines erkennenden Aktes und können von demjenigen, der die Abfindung rechtlich anbietet (also z.B. der Hauptaktionär beim Squeeze-out), nach einer Plausibilitätsprüfung43 zugrunde gelegt werden; begleitend findet die Prüfung durch den gesetzlich vorgesehenen sachverständigen Prüfer statt. Kurzum und etwas überzeichnet: Angemessen ist, was die Wirtschaftsprüfer als angemessen erkennen. Anders ist die Rolle des Vergütungsexperten: Er stellt empirisches Erfahrungs- und Vergleichswissen bereit und erarbeitet auf dieser Grundlagen Vorschläge für die Struktur und Höhe der Vergütung. Diese Arbeiten sind Teil der Entscheidungsgrundlage des Aufsichtsrats und können unter Umständen sogar erforderlich44 sein, damit der Aufsichtsrat in die Lage versetzt wird, “auf der Grundlage angemessener Information” zu entscheiden, insbesondere hinsichtlich der Üblichkeit der Vergütung. Die Festlegung, welche Vergütung angemessen ist, bleibt aber eine rechtlich determinierte Ermessensentscheidung des Aufsichtsrats.

5. Wenden wir uns nun der Empfehlung G.11 zu, dem vielleicht schwierigsten Fall. Bei der Ausgestaltung der variablen Vergütung soll sich der Aufsichtsrat die Möglichkeit vorbehalten (ggf. beraten durch einen unabhängigen Vergütungsberater), außergewöhnlichen Entwicklungen in angemessenem Rahmen Rechnung zu tragen. Warum weicht diese Empfehlung von § 87 Abs. 1 S. 3 2. HS. AktG ab? Dort heißt es schlicht, dass der Aufsichtsrat bei den variablen Vergütungsbestandteilen eine Begrenzungsmöglichkeit für außergewöhnliche Entwicklungen vereinbaren soll. Die gesetzliche Regelung war wiederum die Umsetzung einer Empfehlung, die der Kodex seit der Fassung vom 21. 5. 2003 ausgesprochen hatte. Die Empfehlung von 2003 lautete, dass der Aufsichtsrat für außerordentliche, nicht vorhergesehene Entwicklungen eine Begrenzungsmöglichkeit (Cap) vereinbaren soll (Ziff. 4. 2. 3 Abs. 2 S. 345), was seit der Fassung vom 18. 6. 2009 – nach Inkrafttreten des GesetzesZHR 184 (2020) S. 549 (559) zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung mit dem o.g. § 87 Abs. 1 S. 2 2. HS. AktG – umformuliert wurde in die Wiedergabe der gesetzlichen Regelung, dass der Aufsichtsrat für außerordentliche Entwicklungen grundsätzlich eine Begrenzungsmöglichkeit (Cap) zu vereinbaren hat, die wiederum in der Fassung vom 13. 5. 2013 zugunsten der Empfehlung “Die Vergütung soll insgesamt und hinsichtlich ihrer variablen Vergütungsteile betragsmäßige Höchstgrenzen aufweisen” aufgegeben wurde. Der Kodex 2019/2020 knüpft an die Soll-Empfehlung von 2003 an, garniert diese allerdings mit der Einschränkung “in angemessenem Rahmen”.

Zunächst zurück zur gesetzlichen Regelung: Die Begrenzung der variablen Vergütungsbestandteile kann durch feste Höchstbeträge (Caps) erfolgen, so wie es der Kodex 2013–2018/2019 in Ziff. 4. 2. 3 empfohlen hatte und ähnlich – für den Gesamtvorstand – auch in § 87a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AktG als zwingendes Element des Vergütungssystems vorgesehen ist. Möglich ist aber auch, dass im Dienstvertrag lediglich ein allgemeiner Vorbehalt vereinbart wird, was in der praktischen Anwendung allerdings Unwägbarkeiten mit sich bringen kann, wenn streitig wird, ob die Voraussetzungen des Vorbehalts vorliegen und welche Rechtsfolgen gelten sollen.46 Spielt der Kodex auf diese Umsetzungsvarianten an, wenn er eine Gestaltung “in angemessenem Rahmen” empfiehlt? Oder bezieht sich der Kodex nur auf das Maß der Begrenzung und empfiehlt, dass die Höhe der Caps nicht zu hoch und nicht zu niedrig sein soll? Beides wäre wiederum nur ein Appell an den Aufsichtsrat, der ihm ohnehin obliegenden Pflicht gerecht zu werden, Vergütungsentscheidungen mit der gebotenen Sorgfalt unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu treffen. Das läge in etwa auf der Linie des Verständnisses der Kodex-Anregung A.3, wonach der Aufsichtsratsvorsitzende bereit sein sollte, “in angemessenem Rahmen” Investorengespräche zu führen.47 Hierdurch wird zum Ausdruck gebracht, dass der Aufsichtsratsvorsitzende “ein Ermessen hat, mit wem, wann und wie oft er derartige Gespräche führen will”.48 Dieses Ermessen ist ein Ermessen, das der Kodex in der Verantwortung des Aufsichtsratsvorsitzenden belässt und mit seiner Anregung lediglich beschreibt.

Die Empfehlung G.11 verwendet die Angemessenheitsformel allerdings noch aus einem weiteren Grund. Er wird sichtbar, wenn man sich vor Augen hält, dass die Empfehlung von ihrem gesetzlichen Vorbild abweicht – weshalb es auch folgerichtig ist, dass sie als Empfehlung (“soll”) und nicht als Wiedergabe des Gesetzes gefasst ist: Empfohlen wird nicht nur eine Begrenzung der Vergütung nach oben, wie es der Regelung in § 87 Abs. 1 S. 3 2. HS. AktG entspricht. Vielmehr heißt es allgemeiner, dass außergewöhnlichen Entwicklungen “Rechnung getragen” werden soll. “Das kann zu einer Erhöhung wieZHR 184 (2020) S. 549 (560) auch zu einer Verminderung der andernfalls sich ergebenden variablen Vergütung führen.”49 Der Zusatz “in angemessenem Rahmen” ist also zugleich eine Kurzformel für die Empfehlung, je nach Einzelfall eine Korrektur nach oben oder nach unten vorzusehen. Dass es dann eigentlich klarer gewesen wäre zu sagen, der Aufsichtsrat solle die Möglichkeit haben, die variable Vergütung zu vermindern oder zu erhöhen, um außergewöhnlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen, steht auf einem anderen Blatt und ist hier nicht als Textkritik gemeint. Der “angemessene Rahmen” in Empfehlung G.11 ist jedenfalls ein Chamäleon, das von allem, was oben angesprochen wurde, ein bisschen hat.

Für die praktische Umsetzung bedeutet dies, dass der Empfehlung etwa dadurch genügt werden kann, dass variable Vergütungsbestandteile, deren Höhe mit einer Formel errechnet werden können, mit Höchstbeträgen begrenzt werden, und zusätzlich eine Ermessenstantieme vereinbart wird, mit der der Aufsichtsrat die Vergütung bei Bedarf erhöhen kann. Damit können außergewöhnlichen Entwicklungen nach oben und unten ausreichend Rechnung getragen werden. Eine Abweichungserklärung mit dem Inhalt, dass zwar derartige Erhöhungs- und Begrenzungsmöglichkeiten vorgesehen sind, diese aber außerhalb eines “angemessenen Rahmens” liegen, wird es in der Praxis aus naheliegenden Gründen nicht geben. Dafür muss der Aufsichtsrat seine Entscheidung aber auch nachvollziehbar begründen. Im Vergütungsbericht werden daher Erläuterungen aufgenommen werden müssen, in denen in aller Kürze dargestellt wird, warum die Erhöhungs- und Begrenzungsmöglichkeiten angemessen sind. “Dieses diskretionäre Element”, schreibt die Regierungskommission folgerichtig, “bedarf der besonderen Begründung im Vergütungsbericht.”50

IV. Sind die hier behandelten Empfehlungen und Anregungen des Kodes also ihrerseits angemessen? Der im Kodex gewählte Rückgriff auf das Kriterium der Angemessenheit ist jedenfalls in allen Fällen gut begründbar. Wenn es um Quantitäten geht, beispielsweise die Anzahl unabhängiger Vertreter im Aufsichtsrat, kann die Entscheidung von einer Vielzahl von Faktoren abhängen – in diesem Fall vor allem von der Größe des Aufsichtsrats und der Eigentümerstruktur der Gesellschaft. One size does not fit all. Angemessenheit ist hier wie ein Hosenbund mit Gummizug, der sich den Gegebenheiten anpasst. Ein elastischer, kalibrierungsoffener Begriff, um es etwas hochtrabend auszudrücken. Ähnlich aufnahmefähig und wertungsoffen ist der Maßstab, wenn er qualitative Dimensionen einfangen soll wie bei der Angemessenheit der Information des Aufsichtsrats. Das Leben ist schlicht zu bunt, um alle denkbaren Situationen mit scharf gezogenen Linien zu ordnen. Das gilt auch für die gesellschaftsinterne Binnensphäre mit ihrem auf Machtbalance ausgerichtetenZHR 184 (2020) S. 549 (561) System der checks-and-balances. Und am Beispiel der Frauenquote sieht man, dass man zwar zu bestimmten Themen klare Ansagen machen kann, es dafür aber manchmal eines Anlaufs bedarf, bei dem die Forderung nach einem Mehr an Angemessenheit die Richtung vorgibt und den Weg bahnt.

Neben diese Geschmeidigkeit des Maßstabs tritt ein Wertelement. Angemessen ist nur das, was das richtige Maß hat, frei nach Goethes “Oh wäre doch das rechte Maß getroffen!” Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit bei der Angemessenheitsstufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Verfassungsrecht. Angemessen ist nicht die erstbeste Größe, die passt, sondern die Größe, die unterschiedliche Zielparameter einpreist und die beteiligten Interessen zum Ausgleich bringt. Damit einher geht die Begründungslast, die dem Merkmal der Angemessenheit inhärent ist. Wer behauptet, etwas sei angemessen, muss die Frage beantworten, was die Angemessenheit im konkreten Fall ausmacht. Welche Kriterien sind relevant, wie werden sie gewichtet und warum ist das gefundene Ergebnis angemessener als die in Betracht kommenden Alternativen? Dieses Modell eines zweckrationalen Diskurses findet beispielsweise Ausdruck in der Pflicht, im Bericht zum Squeeze-out und anderen Strukturmaßnahmen die Angemessenheit der Abfindung zu erläutern und zu begründen (vgl. § 327c Abs. 2 S. 1 AktG oder § 8 Abs. 1 S. 1 UmwG). Beim Kodex führt dieser Ansatz neben dem vielzitierten “comply or explain” zur Variante des “comply and explain”, wie wir am Beispiel der Empfehlung G.11 gesehen haben: Ob die variable Vergütung so gestaltet ist, dass außergewöhnlichen Entwicklungen in angemessenem Rahmen Rechnung getragen werden kann, ist im Vergütungsbericht darzulegen.

Drittens bildet sich im Maßstab der Angemessenheit bisweilen der gesamte Kosmos der Sorgfaltspflichten eines Organmitglieds ab. Die Verpflichtung gemäß § 87 Abs. 1 AktG, für eine angemessene Vergütung der Vorstandsmitglieder zu sorgen, sagt letztlich wenig über die konkrete Höhe der Vergütung aus, die der Aufsichtsrat festzusetzen hat. Entscheidend ist vielmehr, wie der Aufsichtsrat zu dieser Festsetzung gelangt. Die Entscheidung des Aufsichtsrats unterliegt seinem pflichtgemäßen Ermessen, und genau dieses Ermessen ist der Schlüssel zur Angemessenheit in § 87 Abs. 1 AktG und der entsprechenden Passage in Ziff. G.2 des Kodex.

Ist all dies angemessen? Die Menge macht das Gift, gerade im Kodex. Der Begriff der Angemessenheit hilft, komplexe Zusammenhänge im Tatsächlichen und Rechtlichen auf einen Nenner zu bringen. Das Zugeständnis liegt in der Größe dieses Nenners und der damit verbundenen Unbestimmtheit oder Offenheit. Für den Kodex ist das – in Maßen – kein falscher Weg.

Rainer Krause

1

So Abs. 3 der Präambel des Kodex 2019/2020.

2

Vosskuhle in: Hillgruber/Waldhoff, 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 97 ff., 100, unter Hinweis auf Schlink, FS 50 Jahre BVerfG II, 2001, S. 445 ff.

3

BVerfGE 3, 383, 399.

4

Honsell spricht in seinem lesenswerten Buch “Was ist Gerechtigkeit”, 2019, S. 80, vom “sog. German principle of proportionality”.

5

Zur Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung Trstenjak/Beysen, EuR 2012, 265 ff.

6

Vgl. BVerfGE 109, 279, 335 ff.; 115, 320, 345; 118, 168, 193; 120, 274, 318.

7

Vgl. BVerfGE 90, 145, 173; 92, 277, 327; 109, 279, 349 ff.; 115, 320, 345.

8

BVerfGE 76, 1, 51.

9

BVerfGE 118, 168, 195.

10

BVerfGE 100, 289, 306; BGHZ 138, 136, 140.

11

U.a. der BGH in BGHZ 207, 114, Rdn. 12–14; vgl. dazu Fleischer, AG 2016, 185, 189 ff.

12

BGHZ 207, 114, 118.

13

BGH v. 29. 9. 2015 – II ZB 23/14, NZG 2016, 139, 143; BVerfG NZG 2012, 1035.

14

Vgl. BeckOGK/Stilz, AktG, Stand: 1. 7. 2020, § 255 Rdn. 19.

15

So etwa BeckOGK/Stilz (Fn. 14), § 255 Rdn. 22 f.

16

Hüffer/Koch/ders., 14. Aufl. 2020, § 255 Rdn. 12.

17

In diesem Sinne BeckOGK/Stilz (Fn. 14), § 255 Rdn. 24: “Es wäre mit den Interessen der Gesellschaft und damit auch der Altaktionäre nicht zu vereinbaren, die Preisfindung an realitätsferne Parameter zu binden [. . .].”

18

Vgl. nur Hüffer/Koch/ders. (Fn. 16), § 255 Rdn. 13: “Überdies erfordert das Angemessenheitsurteil eine Gesamtbewertung [. . .]”;BeckOGK/Stilz (Fn. 14), § 255 Rdn. 19: “Im Ergebnis hängt die Frage der Angemessenheit des Ausgabebetrags daher von einer Gesamtbetrachtung der Interessenlage unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles ab.”

19

Ziff. 5. 4. 2.

20

Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Kremer, DCGK, 7. Aufl. 2017, Rdn. 1390.

21

So der Kodex seit 2017 unter 5. 4. 2.

22

So zuletzt der Kodex von 2010 (bis 2012).

23

Hüffer, ZIP 2006, 637, 640; Vetter, BB 2005, 1689, , 1691.

24

So Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Kremer (Fn. 20), Rdn. 1390; Hüffer, ZIP 2006, 637, 640; Florstedt, ZIP 2013, 337, 343.

25

Anschaulich Scholderer, NZG 2012, 168, 174: “[. . .] wird nur eine “kritische Masse” angemessen sein, die der gruppensoziologischen Erkenntnis Rechnung trägt, dass isolierte Einzelpersonen im Konfliktfall hilflos sind.”; ebenso im Ergebnis MünchKommAktG/Habersack, 5. Aufl. 2019 § 100 Rdn. 86; Roth, ZHR 175 (2011) 605, , 636

26

Vgl. Wilsing/ders., DCKG, 2012, 5. 4. 2 Rdn. 9: “Je geringer die Zahl unabhängiger AR-Mitglieder der Anteilseignerseite ist, desto mehr steigt der Begründungsaufwand für die Selbsteinschätzung des AR.”

27

UMAG-RegE v. 14. 3. 2005 zu § 93 Abs. 1 S. 2 und 3 AktG, BT-Drs. 15/5092, S. 12.

28

Dennoch wurden mitunter Mindestquoten genannt, so Ringleb/Kremer/Lutter/v.Werder, NZG 2010, 1161, 1166 (mehr als 10 %); Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder/Kremer, DCGK, 5. Aufl. 2014, Rdn. 986 (20–30 %).

29

Zu der damaligen (dialektischen) Diskussion Seibert, FS Baums, 2017, S. 1033 ff.

30

Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder/Kremer (Fn. 28), Rdn. 986.

31

Beispielhaft Stellungnahme der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex zum “Gesetz über die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst” vom 3. 11. 2014: “Insbesondere die größeren Unternehmen, aber auch viele kleine und mittlere Unternehmen haben für diese Ziele in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen und auf fast allen Ebenen sichtbare, wenn auch noch nicht ausreichende Erfolge erzielt; das gilt insbesondere für die Aufsichtsräte der DAX-Unternehmen. Zu diesen Fortschritten haben die Empfehlungen des Kodex ebenso beigetragen wie die öffentliche Debatte und die demographische Entwicklung, aber auch die Erkenntnis, dass gemischt zusammengesetzte Teams wegen der Einbeziehung unterschiedlicher Gesichtspunkte und Herangehensweisen längerfristig oft bessere Resultate erzielen als Teams mit fehlender oder nur schwach ausgeprägter Diversity.”

32

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 12. 3. 2018 sieht ferner eine Begründungs- und Berichtspflicht bei einer Festlegung der Zielgröße Null für den Vorstand, die beiden obersten Führungsebenen unterhalb des Vorstands (und den Aufsichtsrat) vor. Aktuell diskutiert wird ferner eine Initiative des BMFSFJ und BMJV, in einem zweiten Gesetz zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen festzulegen, dass der Vorstand eines börsennotierten und mitbestimmten Unternehmens künftig mit wenigstens einer Frau besetzt sein muss, wenn er mehr als drei Mitglieder hat, dazu Thüsing, Der Aufsichtsrat, 2020, S. 111 ff.

33

Instruktiv Seibert, NZG 2016, 16 ff.

34

Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 1 Rdn. 154 m.w.N.

35

MünchKommAktG/Habersack (Fn. 25), § 111 Rdn. 77.

36

BGHZ 179, 71 (MPS), Rdn. 21; BGH ZIP 2007, 224, 225 f.; OLG Düsseldorf AG 2010, 126, 129.

37

MünchKommAktG/Habersack (Fn. 25), § 111 Rdn. 37.

38

Seyfarth (Fn. 34), § 5 Rdn. 47.

39

BGH v. 21. 12. 2005 – 3 StR 470/04 (Mannesmann), BGHSt 50, 331, 335.

40

BGHSt 50, 331, 336.

41

BGHZ 135, 244 (ARAG/Garmenbeck).

42

BGH v. 29. 9. 2015 – II ZB 23/14, NZG 2016, 139.

43

Diese materialisiert sich beispielsweise in der Pflicht gemäß § 327c Abs. 2 S. 1 AktG, einen Bericht zu erstatten, in dem die Angemessenheit der Barabfindung erläutert und begründet wird.

44

Vgl. Habersack, NZG 2018, 127, 130; rechtspolitisch kritisch Koch, ZGR 2020, 183, 192 f.

45

Diese Empfehlung bezog sich nur auf variable Vergütungskomponenten “mit langfristiger Anreizwirkung und Risikocharakter”.

46

Hoffmann-Becking/Krieger, Beilage zu NZG Heft 26/2009, 4.

47

Umfassend zum Aufsichtsratsdialog mit institutionellen und aktivistischen Aktionären Schiessl, FS Krieger, 2020 (im Erscheinen).

48

Pressemitteilung der Kodex Kommission vom 14. 2. 2017, S. 4.

49

Erläuterung der Regierungskommission zu G.11, abrufbar unter www.dcgk.de//files/dcgk/usercontent/de/download/kodex/191216_Begruendung_DCGK.pdf, Datum des letzten Abrufs: 3. 8. 2020.

50

Erläuterung der Regierungskommission zu G11 (Fn. 49).

 
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