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ZHR 168 (2004), 125-131
Schmidt-Aßmann 

Wohin steuert die Europäische Verwaltung?

I. Während des denkwürdigen Gipfeltreffens vom 13. Dezember 2003, auf dem der Entwurf einer Europäischen Verfassung (jedenfalls zunächst einmal) scheiterte, verständigten sich die Staats- und Regierungschefs der bisherigen 15 Mitgliedsländer darüber, wo die neun jüngsten Europäischen Agenturen und Einrichtungen der Europäischen Union ihren Sitz nehmen sollen1. Bei einigen stehen die förmlichen Gründungsakte noch aus. An ihrem Erlass gibt es jedoch keinen Zweifel. Auch sie werden nicht die letzten Rechtsakte in der Reihe von Maßnahmen zum Ausbau einer regional differenzierten europäischen Verwaltungsstruktur sein. Die nächsten Schritte sind bereits eingeleitet: Im Januar dieses Jahres wurde der Sitz zweier Ausschüsse eines neuen Typs bestimmt, die man Koordinierungsausschüsse nennen kann. Frankfurt erhielt den Ausschuss der europäischen Aufsichtsbehörden für das Versicherungswesen. Die Stadt hatte sich allerdings Hoffnungen auf den entsprechenden Ausschuss der europäischen Bankaufsichtsbehörden gemacht und hätte mit Blick auf künftige Entwicklungen lieber diesen in ihren Mauern gesehen. Die Enttäuschung wird verständlich, wenn man dieser neuen Form von Ausschüssen zutraut, den Nukleus einer sich entwickelnden europäischen Banken- bzw. Versicherungsaufsicht zu bilden. Anders als die Europäische Verfassung ist eine Europäische Verwaltung längst existent und befindet sich weiterhin auf Wachstumskurs. Ihr Ausbau vollzieht sich kontinuierlich und von öffentlichen Diskussionen weitgehend unbemerkt. Trotz der Empfindlichkeit, die die Mitgliedstaaten in Fragen ihrer Verwaltungsvollzugskompetenzen üblicherweise an den Tag legen, haben sich dafür immer wieder die erforderlichen Mehrheiten gefunden. Die meisten Rechtsakte wurden sogar einstimmig beschlossen.

1. Was hier bewusst mit dem mehrdeutigen Begriff der „Europäischen Verwaltung“ bezeichnet wird, ist mehr als die EG-Administration in Brüssel, mehr also als die Kommission mit ihren (auch) administrativen Kompetenzen nach Art. 211 EGV. Die Vorstellung jedenfalls, Europäische Verwaltung zeige sich in einer zentralistischen Mammutbehörde, die den gesamten Gemeinschaftsraum fest im bürokratischen Griff halte, geht an der Realität vorbei. Der Personalbestand der der Kommission zugeordneten Dienststellen ist seit ZHR 168 (2004) S. 125 (126)Jahren nicht wesentlich vergrößert worden. Mit etwa 20000 Bediensteten wird ein großer und differenzierter Bestand an Aufgaben in einer Weise erfüllt, die manche deutsche Bundesbehörde oder Bundesagentur mit 90000 Beschäftigten in den Schatten stellt. Damit sollen Fehlentwicklungen nicht in Abrede gestellt werden. Aber mit Behörden- und Hierarchievorstellungen lässt sich die Europäische Verwaltung nicht erfassen. Vielmehr geht es um ein Gefüge gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Verwaltungen, die in differenzierter, aber zunehmend intensiver Weise zusammenarbeiten und zusammenhängen.

2. Dass die Europäische Gemeinschaft auch eine Verwaltungsgemeinschaft ist, hat lange Zeit wenig Beachtung gefunden. Probleme der Verwaltungsorganisation sind regelmäßig diffizil und unanschaulich. Über „typische Verfassungsfragen“, wie die richtige Zahl der Kommissare oder die richtige Stimmgewichtung für Polen und Spanien im Rat, lässt sich auch ohne vertiefte Kenntnisse debattieren. Dagegen verlangt z.B. die Erfassung der Netzwerke zwischen Kommission und nationalen Kartellbehörden, von denen die neue Kartellverordnung spricht2, Expertenwissen, das nur begrenzt vorhanden ist. Wahrscheinlich war die geringe öffentliche Aufmerksamkeit den beteiligten politischen Kräften sogar willkommen: den überzeugten Verfechtern nationaler Souveränität z.B. in den Verwaltungen der deutschen Bundesländer mit der Forderung, dass es eine Europäische Verwaltung nicht geben dürfe, und der EG-Kommission mit ihren beruhigenden Hinweisen, dass man den Vollzug des Gemeinschaftsrechts selbstverständlich gern den Mitgliedstaaten überlasse. Auf diese Weise hat man lange aneinander vorbei und um das Phänomen Europäischer Verwaltung herumgeredet.

II. Das ist nach dem Rücktritt der Santer-Kommission 1999 anders geworden. Die den Rücktritt auslösende Krise war eine Verwaltungskrise3. Seither hat es an Analysen der zutage getretenen Mängel und an Reflexionspapieren nicht gefehlt: Der „Kinnock/Schreyer-Bericht“4, das „Weißbuch Europäisches Regieren“5, die „Mitteilung der Kommission zur institutionellen Architektur“6, um nur einige zu nennen. Wer sich von der gelegentlich störenden Rhetorik, mit der diese Dokumente „Transparenz“, „Integrität“, „Partnerschaft“, „Solidarität“ und „Bürgernähe“ beschwören, nicht abhalten lässt, findet in ihnen das Konzept eines aus den Verwaltungsinstanzen der EG und den Mitgliedstaaten zusammengesetzten Europäischen Verwaltungsverbundes. Dabei ist das Bemühen unverkennbar, durch Ausbildung klarerer Organisations¬ZHR 168 (2004) S. 125 (127)typen die bisherige Praxis eines punktuellen und eher zufälligen Aufbaus zu überwinden.

– Ein forcierter Ausbau supranationaler Zentralorganisationen ist danach nicht angestrebt. Die Kommission betont mehrfach die Notwendigkeit, sich auf ihre Kernaufgaben zu beschränken. Dass sie mit dieser administrativen Selbstbescheidung keineswegs durchgängig den Wünschen europaweit und weltweit agierender Unternehmen entspricht, lässt sich an manchen Stellungnahmen zum neuen Kartellrecht oder zur Bankenaufsicht ablesen. Ersichtlich gibt es zwischen Wirtschaft und Nationalstaaten recht unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie weit das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EGV getrieben werden sollte.

– Auf der anderen Seite wird deutlich, dass es selbst dort, wo Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten zurückverlagert werden sollen, nicht um eine Re-Nationalisierung geht. Dezentraler mitgliedstaatlicher Verwaltungsvollzug meint nicht die 15fache und künftig 25fache isolierte Aufgabenwahrnehmung. Die mitgliedstaatlichen Exekutiven bilden die Basis des Verwaltungsverbundes. Aber sie agieren mehr und mehr in Netzwerken.

Mit dem juristisch wenig greifbaren Begriff des Netzwerks ist freilich nur die Entwicklungsrichtung angedeutet. Schon jetzt ist deutlich, dass die Beziehungen zwischen den beteiligten Verwaltungsträgern über die bekannten Formen grenzüberschreitender Informations- und Amtshilfe weit hinausreichen. Es geht nicht nur um gegenseitige Unterstützung, sondern um die Ausbildung eines gemeinsamen Willens mit den entsprechenden Konsequenzen für die Vollzugsentscheidungen. Der Europäische Verwaltungsverbund ist in das Stadium der Institutionalisierung getreten. Dabei spielen Agenturen (1) und Ausschüsse (2) eine wichtige Rolle.

1. Die Gründung eigenständiger Agenturen begann 1975 und betraf zunächst eher unscheinbare Spezial- und Randaufgaben7. In den 90er Jahren wurde dann eine Reihe von Agenturen der „zweiten Generation“ geschaffen und mit substantiellen Aufgaben ausgestattet. Zu nennen sind etwa das Europäische Markenamt (Alicante)8, die Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln (Dublin)9 und die Europäische Umweltagentur (Kopenhagen)10. Das Markenamt trifft direkt außenverbindliche Entscheidungen, während die Arzneimittel- und die Umweltagentur vor allem Aufgaben der Informationssammlung, der sachverständigen Begutachtung und der Verfahrenskoordinierung haben. Ein noch klareres Aufgabenprofil zeigen die Gründungen der jüngsten Zeit. Errichtet wurden 2002 Europäische Agenturen für die Si¬ZHR 168 (2004) S. 125 (128)cherheit des Seeverkehrs (Lissabon), für Lebensmittelsicherheit (Parma) und für die Flugsicherheit (Köln). Die Gründung einer Europäischen Eisenbahnagentur11 steht unmittelbar bevor. Weitere Gründungen sind fest ins Auge gefasst, z.B. die einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe12, einer weiteren Agentur für Netz- bzw. Informationssicherheit13, eines Europäischen Zentrums für die Prävention und Bekämpfung von Seuchen14 und einer Aufsichtsbehörde für das europäische Satellitennavigationsprogramm15. Wenn die Gründungsfreudigkeit anhält, werden es bald zwei Dutzend selbständiger Einrichtungen dieses Typs sein.

a) Zu ihrer organisatorischen Stellung lässt sich zunächst festhalten, dass Europäische Agenturen keine nachgeordneten Dienststellen der EG-Kommission sind16. Sie besitzen Rechtsfähigkeit und verfügen über eigene Organe, regelmäßig einen Verwaltungsrat und einen Exekutivdirektor. Im Verwaltungsrat haben sich die Mitgliedstaaten meistens eine starke Position reserviert, während die EG-Kommission auf die Entsendung von ein bis zwei Vertretern beschränkt ist. Gelegentlich werden weitere Mitglieder von den Sozialpartnern designiert – eine Regelung, die die Legitimation dieser Gremien noch undurchsichtiger macht.

b) In ihrer Mitteilung „Rahmenbedingungen für die Europäischen Regulierungsagenturen“17 vom Dezember 2002 hat die Kommission dargelegt, wie diesem Typus in einem künftigen Bau der Europäischen Verwaltung klarere Konturen gegeben werden können: Aktionsbereich der Agenturen sollen vor allem technisch hochspezialisierte Materien sein, deren Bewältigung besondere Expertise verlangt. Dazu wird ein gewisser Autonomiebereich für die zu erstellenden technischen und wissenschaftlichen Gutachten eingeräumt, der jedoch keine Befugnisse politischer Gestaltung umgreifen soll. Im Verwaltungsrat möchte sich die Kommission künftig einen paritätischen Einfluss sichern; die Zahl der von ihr entsandten Mitglieder soll der Zahl der Vertreter der nationalen Exekutiven entsprechen. Vertreter betroffener Kreise sollen nur als Mitglieder ohne Stimmrecht beteiligt werden können. Die Gefahren der „captured agency“, die für das amerikanische Recht beschrieben worden sind18, werden nur beiläufig erwähnt. Die Selbständigkeit der Agenturen soll durch ZHR 168 (2004) S. 125 (129)ein Geflecht von Kontrollen kompensiert werden, in dem der Kommission eine zentrale Rolle, aber kein Weisungsrecht zugedacht ist. Wenn sich künftige Gründungen in diesem Rahmen halten, ist wenigstens eine gewisse Standardisierung erreicht, und das ist gegenüber der bisherigen Praxis schon ein Vorzug.

2. Als außerordentlich undurchsichtig gilt das Ausschusswesen der EG. Über Zahl, Zusammensetzung und Aufgaben bestehender Ausschüsse ist kein verlässliches Bild zu gewinnen19. Das gilt insbesondere für jenen Teil des Ausschusswesens, in dem Repräsentanten von Verbänden und Sachverständige aller Art agieren. Dass hier nicht nur neutral beraten, sondern handfest auf die Politik Einfluss genommen wird, zeigen die Vorgänge in den Veterinärausschüssen, die später zur BSE-Krise in der EG führten.

a) Klare Konturen besitzen bisher nur die Komitologieausschüsse. Bei ihnen handelt es sich um reine Beamtenausschüsse, in denen die Vertreter der nationalen Exekutiven an den Durchführungsmaßnahmen der Kommission mitwirken. Die Grundlage dieser Praxis bildet Art. 202 EGV20. Ein Ratsbeschluss von 1999 normiert die drei Verfahrensarten (Beratungs-, Verwaltungs- und Regelungsverfahren), in denen sich die Mitwirkung zu vollziehen hat21. Die Ausschüsse selbst haben keine Mitentscheidungsbefugnisse. Aber ihre Voten entscheiden – je nach Verfahrenstyp – darüber, inwieweit die Kommission die von ihr geplanten Durchführungsmaßnahmen allein und sogleich vornehmen kann oder auf erneute Abstimmung mit dem Rat angewiesen ist. Die Einflüsse, die den mitgliedstaatlichen Verwaltungen in diesem Verfahren ermöglicht werden, gelten trotz der fehlenden Mitentscheidungsbefugnisse der Ausschüsse als erheblich. Vieles wird im Vorfeld geglättet, um ein negatives Votum des betreffenden Ausschusses zu vermeiden. Positiv an dieser Praxis wirkt, dass Vollzugsprobleme, die sich für Mitgliedstaaten später stellen können, frühzeitig angesprochen werden. Auf der anderen Seite ist die Gefahr nicht zu übersehen, dass manche Mitgliedstaaten das Verfahren nutzen, um hier das noch einmal nachzuverhandeln, was sie beim Erlass der entsprechenden Basisrechtsakte im Rat nicht haben durchsetzen können.

b) Mit den oben genannten Koordinierungsausschüssen wird nun ein zweiter Ausschusstyp als ein Bauelement der Europäischen Verwaltung sichtbar. Die Vorreiterrolle hat hier der Bereich der Finanzdienstleistungen übernommen. Die Ausschüsse, die sich aus den Vertretern der nationalen Zentralbanken- bzw. Aufsichtsbehörden zusammensetzen, werden von der EG-Kommission gebildet. Sie sollen diese beraten. Vor allem aber sollen sie die Konvergenz der Aufsichtspraktiken gewährleisten. Dazu können sie auch Informationen über einzelne beaufsichtigte Unternehmen austauschen. Dass hier unter Umständen recht konkret „gemeinsam“ verwaltet werden soll, zeigen die Vorschriften ZHR 168 (2004) S. 125 (130)zum Schutz der Vertraulichkeit der dabei ausgetauschten Informationen. Von der Aufgabensubstanz her haben die Koordinierungsausschüsse ihren Schwerpunkt in den Mitgliedstaaten. Sie sind aber trotzdem nicht Ergebnisse der Selbstorganisation nationaler Aufsichtsbehörden, sondern rechtssystematisch EG-Ausschüsse – mit allen Konsequenzen z.B. für die Haftung. Sollte diese Ausschussform über den Bereich der Finanzdienstleistungsaufsicht hinaus Schule machen, so könnte daraus in der Tat eine neue Art „gemeinsamer“ Verwaltungsorganisation entstehen, in der die EG-Kommission auf den zweiten Platz verwiesen wäre.

III. Man mag Verwaltungen mögen oder nicht – sie sind eine Realität und bis zu einem gewissen Grade notwendig. Ganz ohne sie lässt sich auch das freiheitlichste Binnenmarktrecht nicht in Szene setzen22. Doch wo liegen ihre Schwachpunkte und Entwicklungsrisiken? Sie liegen in drei Problemen, die als Undurchsichtigkeit, Segmentierung und Gleichheitsideologie bezeichnet werden sollen:

1. Undurchsichtigkeit ist zunächst einmal ein äußerer Tatbestand, der sich daraus ergeben hat, dass der Verwaltungsverbund nicht systematisch, sondern von Fall zu Fall fortentwickelt worden ist. Die Bauformen sind von Zufälligkeiten bestimmt. Keine Verwaltungseinheit gleicht der anderen. Ihre Unterschiede lassen sich weder systematisch erfassen noch verstehen. Dieser Missstand ist inzwischen erkannt worden. Die jüngsten Rechtsakte kennzeichnet das Bemühen, den Bau stärker an bestimmten Organisationstypen auszurichten. Kritisch bleibt die Undurchsichtigkeit als innerer Tatbestand, d.h. als Mangel an klaren Verantwortungszuweisungen. Das liegt in erheblichem Maße am gehüteten intergouvernementalen Charakter der Gemeinschaft und ihrer Entscheidungsgremien, in denen in der Regel alle Mitgliedstaaten vertreten sind. Die immer wieder notwendigen Verhandlungen und Verständigungen führen zu Ergebnissen, die letztlich niemandem verantwortlich zuzurechnen sind. Dieses Problem reicht bis in die Verwaltungsräte der Agenturen. Auch zwischen der Kommission als Kollegialorgan und den ihr zugeordneten Dienststellen ist ein klares Verantwortungsgefüge nicht existent. Die Vorstellung eines durch ministerielle Weisungen gesteuerten Behördenapparats passt hier nicht. Dieser Zustand wird sich, solange für die Kommission am Kollegialprinzip festgehalten wird (Art. 217 Abs. 1 EGV), nicht ändern.

2. Ein zweites Kennzeichen der Europäischen Verwaltung ist ihre starke Segmentierung. Die Kompetenzen der Gemeinschaft sind auf einzelne Sachgebiete zugeschnitten. Zur Regelung übergreifender allgemeiner Fragen geben sie kaum eine Grundlage. Agenturen wie Komitologieausschüsse sind jeweils für spezifische Aufgaben geschaffen. Bei den Gremiensitzungen treffen sich die zuständigen Beamten der EG-Ebene und der mitgliedstaatlichen Ebene, die sich demselben Fachinteresse verbunden fühlen. Das Phänomen ist aus dem deutschen Föderalismus mit seinen Fachministerkonferenzen und fach¬ZHR 168 (2004) S. 125 (131)lich ausgerichteten Arbeitsgemeinschaften bekannt, in denen die Fachbeamten von Bund und Ländern zusammenwirken. Frido Wagener hat dafür schon vor Jahrzehnten den Begriff der vertikalen „Fachbruderschaften“ geprägt23. Innerhalb des europäischen Verwaltungsverbundes bringt diese Entwicklung einerseits zweifellos gewisse Vorteile, denn sie kann den einzelnen nationalen Beamten ein Stück aus den Bindungen an sein nationales Umfeld lösen und ein europäisches Aufgabenverständnis entstehen lassen. Dem stehen aber die Nachteile eines stark partikularistischen Denkens gegenüber, das das allgemeine Wohl schlicht aus den Augen verliert.

3. Der dritte Kritikpunkt, der hier als Gleichheitsideologie bezeichnet wird, hängt mit Formen der horizontalen Kooperation zwischen mitgliedstaatlichen Behörden zusammen. Kritisiert wird auf der einen Seite eine starke, nicht selten zu starke Vereinheitlichung mitgliedstaatlicher Vollzugsregeln, die der Europäische Gerichtshof in die Formeln eines Äquivalenz- und eines Effektivitätsgebots gekleidet hat24. Das nationale Verfahrens- und Organisationsrecht muss danach so ausgerichtet werden, dass „die volle Wirksamkeit“ der durch das EG-Recht eingeräumten Rechte sichergestellt ist. Diese gelegentlich überzogenen Anforderungen an die Gleichförmigkeit des Rechts stehen in auffallendem Gegensatz zu dem geringen Maß an Aufmerksamkeit, das den realen Vollzugsbedingungen in den einzelnen Ländern entgegengebracht wird. Hier bestehen nach wie vor erhebliche Unterschiede, die mit dem Beitritt der 10 neuen Staaten noch wachsen werden. Wirksame Kooperation zwischen nationalen Verwaltungen, wie sie innerhalb des Verbundes verlangt wird, kann aber nur sichergestellt werden, wenn sich jede der beteiligten Verwaltungen darauf verlassen kann, dass die anderen nationalen Exekutiven nach vergleichbaren Sorgfalts-, Unbefangenheits- und Geheimhaltungsstandards verfahren. Anders ist das notwendige gegenseitige Vertrauen nicht zu gewinnen. Ein Informationsaustausch oder die Anerkennung eines Prüfungszeugnisses hängen nicht nur von der Existenz eines einheitlichen Rechtsrahmens, sondern mehr noch davon ab, dass die beteiligten Verwaltungen in derselben Weise verlässlich sind. Kann wirklich von derselben Beweiskraft einer an jeder beliebigen Stelle des Gemeinschaftsraumes ausgestellten Urkunde ausgegangen werden? In diesem Punkte lassen es offizielle Dokumente leider regelmäßig bei Bekenntnissen bewenden, statt kritische Punkte anzusprechen. Ersichtlich mag man einzelne Mitgliedsländer zwar wegen ihrer Rechtslage, nicht aber wegen mangelnder Verlässlichkeit ihrer Administration kritisieren. Auch über diese praktischen Punkte muss jedoch Klarheit herrschen, bevor „Solidarität“ und „Partnerschaft“ wirklich prägende Züge einer Europäischen Verwaltung sein werden.

Eberhard Schmidt-Aßmann

1

Beschluss Nr. 97/2004 der Vertreter der Mitgliedstaaten über die Festlegung der Sitze bestimmter Ämter, Behörden und Agenturen der Europäischen Union vom 13. 12. 2003, ABl. 2004 L 29/15.

2

Vgl. den 16. Erwägungsgrund der Verordnung 1/2003, ABl. L 1/1; vgl. auch schon EuGHE vom 22. 10. 2002, EuZW 2003, S. 14ff. „Roquette Frères“.

3

Mehde, ZEuS 2001, S. 403ff.

4

Die Reform der Kommission, Konsultationspapier vom 18. 1. 2000, CG 3 (2000) 1/17.

5

Vom 25. 7. 2001, KOM (2001) 428 endg.

6

Vom 11. 12. 2002, KOM (2002) 728 endg.

7

Vgl. etwa das Europäische Zentrum zur Förderung der Berufsbildung, Verordnung 337/75 vom 10. 2. 1975, ABl. L 39/1. Darstellung der Entwicklung bei Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, 1999, S. 38ff.

8

Verordnung Nr. 40/94 vom 20. 12. 1993, ABl. L 11/1.

9

Verordnung Nr. 2309/93 vom 22. 7. 1993, ABl. L 214/1.

10

Verordnung Nr. 1210/90 vom 7. 5. 1990, ABl. L 120/1.

11

Vgl. Kommissionsvorschlag, KOM (2002) 23 endg., ABl. C 126E/323. Vgl. auch Gemeinsamer Standpunkt 56/2003 des Rates vom 26. 6. 2003, ABl. C 270E/48.

12

Vgl. Kommissionsvorschlag, KOM (2003) 644 endg.

13

Vgl. Kommissionsvorschlag, KOM (2003) 63 endg.

14

Vgl. Kommissionsvorschlag, KOM (2003) 441 endg.

15

Vgl. Kommissionsvorschlag, KOM (2003) 471 endg.

16

Darin unterscheiden sie sich von sog. Exekutivagenturen, die nach der neuen Haushaltsverordnung der EG in den Vollzug finanzieller Programme eingegliedert und der Kommission nachgeordnete, auf Zeit geschaffene Instanzen sind (Verordnung 58/2003 vom 19. 12. 2002, ABl. L 11/1).

17

Mitteilung vom 11. 12. 2002, KOM (2002) 718 endg.

18

Vgl. Steinberg, Politik und Verwaltungsorganisation, 1979, S. 107ff.

19

Joerges/Falke, Das Ausschußwesen der Europäischen Union, 2000.

20

Hummer/Obwexer, in: Streinz, EUV/EGV, Kommentar, 2003, Art. 202 Rdn. 25ff.

21

Beschluss 1999/468 des Rates vom 28. 6. 1999, ABl. L 184/23, sog. Modalitätenbeschluss.

22

Vgl. Müller-Graff, EuR 2002, Beiheft 1, S. 7ff.

23

VVDStRL Bd. 37, 1979, S. 215ff. (238).

24

v. Danwitz, DVBl. 1998, S. 421ff.

 
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