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ZHR 166 (2002), 1-5
Schön 

Wer schützt den Kapitalschutz?

„The Case against the European Legal Capital Rules“ – mit diesem Aufsatztitel aus dem jüngsten Heft des Cornell Law Review1 ist der internationale Diskussionsstand zu den traditionellen Prinzipien der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung im kontinentaleuropäischen und vor allem im deutschen Gesellschaftsrecht treffend umschrieben: Der Kapitalschutz, ein Grundpfeiler der Finanzverfassung von Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung, sitzt auf der Anklagebank. Eine „Kulturleistung ersten Ranges“ (Wiedemann), die in den §§ 57, 62 AktG und §§ 30, 31 GmbHG ihre Grundlage und in einer hochdifferenzierten Judikatur und Literatur – beispielhaft auf dem Gebiet des Kapitalersatzrechts – eindrucksvolle Ausprägungen erfahren hat, steht unter Beschuss. Wer sie verteidigen will, muss zweierlei leisten: er muss die Angreifer und ihre Waffen präzise erkennen und er muss die inneren Stärken des tradierten Konzepts betonen. Beides fällt nicht leicht.

Es ist nun 20 Jahre her, dass in den USA mit dem „Revised Model Corporation Act“ der Abschied von dem Rechtsinstitut und der wirtschaftlichen Funktion des festen Grundkapitals gewerblich tätiger juristischer Personen eingeleitet wurde2. Dass dieses Konzept augenfällige Defizite besitzt, war auch in Deutschland von jeher bekannt: Das gesetzliche Mindestkapital für GmbH und AG bietet kaum mehr als eine nebensächliche Seriositätsschwelle, die nur extrem finanzschwachen Unternehmensgründern den Zutritt zum „Privileg“ der beschränkten Haftung verwehrt. Oberhalb dieser Mindestsummen steht die Festlegung des haftenden Eigenkapitals einer Gesellschaft im Belieben ihrer Gründungsgesellschafter; eine betriebswirtschaftliche Angemessenheitskontrolle des Anfangskapitals ist gesetzlich nicht vorgesehen, wäre praktisch nicht zu bewerkstelligen und ist von der Rechtsprechung auch in extremen Ausnahmefällen so gut wie nie im Wege der Durchgriffshaftung sanktioniert worden. Minimale Befriedigungsquoten für einfache Insolvenzgläubiger und eine große Zahl masseloser Insolvenzen kleiner GmbH scheinen eine deutliche Sprache zu sprechen: Ein effektiver Gläubigerschutz ist durch ein „haftendes Kapital“ kaum zu bewerkstelligen.

Auf der anderen Seite hindert – wie vor wenigen Wochen Eddy Wymeersch3 auf dem 1. Europäischen Juristentag in Nürnberg mit Nachdruck vorgetragen ZHR 166 (2002) S. 1 (2)hat – das System des festen Grundkapitals große, kapitalmarktorientierte Unternehmen an einer flexiblen Nutzung des Fremd- und Eigenkapitalangebots. Die echte nennwertlose Stückaktie steht ebensowenig zur Verfügung wie das Gestaltungsmittel einer Unter-Pari-Emission, das in Sanierungsfällen dem mühevollen Verfahren einer sukzessiven Herabsetzung und Erhöhung des Grundkapitals überlegen sein könnte. Der Erwerb eigener Aktien wird erschwert und die „financial assistance“ einer Gesellschaft zum Management-Buyout durch ihre tüchtigen Geschäftsleiter nahezu unmöglich gemacht. Die Gewährung von Sacheinlagen wird mit übertriebenen Bewertungsvorbehalten ausgestattet, die im Falle von sanierenden Forderungseinlagen flexible debtequity-swaps verhindern und im Fall der „Verschleierung“ zu einer drakonischen Inferentenhaftung führen. Ein weiteres Beispiel: Bei Verschmelzungen kann den übervorteilten Aktionären der übertragenden Gesellschaft im Spruchverfahren eine Ausgleichszahlung gewährt werden, nicht aber den Aktionären der aufnehmenden Gesellschaft, weil das Gläubigerrisiko, das der nachteilige Vermögenserwerb auf Gesellschaftsebene mit sich bringt, nicht auch noch durch eine Einlagenrückgewähr an die Aktionäre gesteigert werden soll. Das System des festen Grundkapitals präferiert damit tendenziell die Fremdkapitalgläubiger gegenüber den Eigenkapitalinhabern, es verzerrt auf diese Weise die ökonomischen Entscheidungen der Geschäftsleitung, die künftige Geschäftspolitik durch die Beschaffung von gewinnabhängigem Eigen- oder festverzinslichem Fremdkapital zu finanzieren. Der traditionelle Kapitalschutz passt eher – so die Kritik aus den USA – in eine opake Welt mächtiger Bankgläubiger als in einen transparenten Markt offener Kapitalbeschaffung. Namentlich Friedrich Kübler4 hat diese aus der US-amerikanischen Lehre und Praxis stammende Kritik aufgegriffen und damit das Gesellschaftsrecht in Deutschland und Europa herausgefordert. Sie hat inzwischen Eingang in die Vorstandsetagen der großen deutschen Unternehmen gefunden5.

Noch steht aber – so scheint es – festgefügt die lex lata des deutschen Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsrechts, so dass die Rechtspraxis meint, mit Gelassenheit das pro und contra des transatlantischen Diskurses auf sich wirken lassen zu können. Vor allem – ist nicht das „deutsche“ Kapitalschutzprinzip zugleich in Art. 15, 16 der 2. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie (Kapital-RL) unverrückbar niedergelegt? Diese Sicherheit ist jedoch trügerisch. Eine wesentliche Lücke des europäischen Kapitalschutzsystems findet sich schon bei der GmbH – hier fehlt nicht nur jede Rechtsangleichung, sondern es sehen wichtige Mitgliedstaaten wie das Vereinigte Königreich keinen Anlass für eine Harmonisierung der Finanzverfassung nicht-notierter Kapitalgesell¬ZHR 166 (2002) S. 1 (3)schaften in Analogie zum Recht der Aktiengesellschaft. Wenn im Gefolge der „Centros“-Judikatur die grenzüberschreitende identitätswahrende Sitzverlegung europäische Realität werden sollte, wird sich der deutsche Gesetzgeber gegen eine verstärkte Präsenz unterkapitalisierter Gesellschaften nicht wehren können. Wer hier auf die Grundidee der gemeinschaftsrechtlichen Regeln über die Niederlassungsfreiheit hofft und erwartet, dass der Brüsseler Richtliniengeber auf eine Erweiterung der Mobilität von Gesellschaften in Europa mit einem erhöhten Schutzniveau im angeglichenen Gesellschaftsrecht reagieren wird (Art. 44 Abs. 2 lit.g EG), dürfte eine Enttäuschung erleben – es wird sich auf kurze und lange Sicht im Ministerrat schlicht keine (qualifizierte) Mehrheit für das traditionelle Kapitalschutzkonzept mehr finden.

Der rocher de bronce, den man in Art. 15, 16 Kapital-RL äußerlich noch vermuten kann, wird zudem von einer anderen Seite unterminiert: Auf Vorlage der Europäischen Kommission hat der Ministerrat den Entwurf einer IAS-VO gebilligt, die mit Wirkung ab 2005 börsennotierte Unternehmen in der Gemeinschaft zur Erstellung der Konzernabschlüsse nach International Accounting Standards verpflichten soll. Zugleich wird den Mitgliedstaaten die Option eingeräumt, auch die Einzelabschlüsse von Kapitalgesellschaften diesen informationsorientierten Bilanzierungsregeln zu unterstellen. Es ist damit zu rechnen, dass von dieser Option weitgehend Gebrauch gemacht wird. Damit wird das Prinzip vorsichtiger Bilanzierung aufgegeben, das in der Vergangenheit – ausgehend von dem AktG 1884 und bis in die Jahresabschluss-RL 1978 hinein – das zwingende logische Korrelat zu einem an formellen Bilanzziffern orientierten Kapitalschutz durch Ausschüttungsbegrenzung gebildet hat. Was nützt ein perfekt durchdachter Ausschüttungsschutz, wenn die gedankliche Grundlage, eine am Vorsichtsprinzip orientierte Bemessung des „entziehbaren Gewinns“ nicht mehr existiert? Es verwundert nicht, dass über diese Konsequenz der IAS-VO auch in Europäischen Gremien bereits nachgedacht wird: Für die Ausschüttungsbemessung könne es ausreichen, wenn – wie in den USA – bei jeder Vermögenszuwendung an einen Gesellschafter ein „insolvency surplus test“ angestellt wird, d.h. anhand eines ad-hoc-Überschuldungsstatus geprüft wird, ob die Gesellschaft nach Durchführung der Ausschüttung unmittelbar den Gang zum Insolvenzrichter antreten müsste.

Will man diesen rechtspolitischen Tendenzen begegnen, so muss man die Funktionen des traditionellen Kapitalschutzsystems differenziert würdigen. Hier lassen sich drei verschiedene Teilfunktionen erkennen: die Seriositätsschwelle des gesetzlichen Mindestkapitals, die kollektivvertragliche Wirkung des zugesagten Haftkapitals, schließlich die von der Höhe des versprochenen Kapitals unabhängigen Verbotswirkungen von Unterbewertungen und Ausschüttungen in der Krise.

Die traditionelle Festlegung eines gesetzlich bezifferten Mindestkapitals für Kapitalgesellschaften ist sicherlich das schwächste Glied in der Argumentationskette für den geltenden Rechtszustand. Seine wirtschaftliche Funktion beschränkt sich auf die einer „Schutzgebühr“, die finanziell substanzlosen Un¬ZHR 166 (2002) S. 1 (4)ternehmensgründungen eine mäßige Schranke setzt. Ohnehin setzt falsch an, wer in der Mindestkapitalausstattung eine ernsthafte Hilfe gegen die betriebswirtschaftlichen Risiken einer Unternehmung zu sehen glaubt. Die aktuellen Verhandlungen in Basel über die Verfeinerung der Eigenkapital-Kredit-Relationen für Bankkredite lassen erkennen, dass von den wichtigsten Gläubigergruppen, den Kreditinstituten, schon in wenigen Jahren die Nutzung anspruchsvoller Instrumente zur Prüfung der wirtschaftlichen Situation ihrer Kreditkunden verlangt wird („internes Rating“); unter den Kriterien der Vergabeentscheidung wird die Eigenkapitalausstattung der Kreditnehmer eine untergeordnete Rolle spielen.

Wichtiger ist die Funktion der Kapitalschutzregeln als Bestandteil eines „Kollektivvertrages“, der zwischen den Gesellschaftsgründern und dem Publikum über die Zusage einer finanziellen Mindestbeteiligung der Initiatoren und damit als Aussage über die Einschätzung der Risiken und der künftigen Geschäftspolitik der Unternehmung verstanden werden kann. In den USA hat sich gezeigt, dass ein natürliches Interesse von Kreditgebern an einer bestimmten finanziellen Eigenbeteiligung der gewinnberechtigten Anteilseigner und an einer rechtlich normierten Ausschüttungskontrolle auch nach der Abschaffung der gesetzlichen Kapitalregeln fortbesteht und von den Kreditgebern im Wege individualvertraglicher „covenants“ durchgesetzt wird. Hier stehen sich zwei Alternativkonzepte gegenüber: Die europäische Tradition eines satzungsmäßig festgelegten und durch gesetzliche Aufbringungs- und Ausschüttungsregeln gesicherten Kapitals wirkt wie eine kollektive Vereinbarung zwischen den Gesellschaftern und den Geschäftspartnern des Unternehmens, welche die Beteiligten von dem Erfordernis mühevoller individueller Vereinbarungen über das finanzielle Verhalten des Unternehmens entlastet und vor allem zugunsten von Kleingläubigern mit geringer Marktmacht oder – bei Deliktsgläubigern – fehlender Verhandlungsmöglichkeit ein ausgewogenes Verhandlungsergebnis simuliert. In dieser kollektiven Vertragswirkung sehen Kritiker allerdings Zeichen eines pauschalierenden Rechtspaternalismus, der maßgeschneiderte Lösungen verhindert und den Kreditmarkt eher verfälscht als verbessert. Doch überzeugt diese Kritik nicht: Die generellen Schutzwirkungen der Haftungszusage der Gründungsgesellschafter bieten eine sinnvolle „Grundsicherung“ für alle Gläubiger, die individuelle Großgläubiger nicht daran hindert, weitergehende Kontrollinteressen durch Sonderklauseln – z.B. über die zweckgerechte Mittelverwendung oder eine bestimmte Fremd-/Eigenkapitalrelation – zu verwirklichen.

Die wesentliche Funktion unseres Kapitalschutzsystems ist jedoch ganz davon unabhängig, ob und in welcher Höhe die Gesellschafter bei der Gründung einer Gesellschaft eine finanzielle Eigenbeteiligung an den Risiken der Unternehmung zusagen. Denn die §§ 30, 31 GmbHG, §§ 57, 62 AktG konstituieren ein allgemeines Regelwerk zur Bekämpfung von Vermögensverschiebungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter, für dessen Anwendung es nicht entscheidend darauf ankommt, ob ein Gesellschaftskapital vorhanden oder be¬ZHR 166 (2002) S. 1 (5)reits aufgebraucht ist. Solange der Satz gilt, dass die Gesellschaft an ihre Gesellschafter nur dann Mittel ausschütten darf, wenn ein Bilanzgewinn oberhalb der zugesagten Haftsumme feststellbar ist (mag diese auch nur 1,– Euro betragen), sind die Kapitalgesellschaft, ihre Gläubiger und ihre Arbeitnehmer in der Krise der Gesellschaft weitestgehend vor Manipulationen des Gesellschaftsvermögens durch die Gesellschafter geschützt6. Vor betriebswirtschaftlicher Unvernunft kann ein Kapitalschutzreglement nicht bewahren, vor missbräuchlicher Verwendung von gebundenen Gesellschaftsmitteln schon. Das geltende Recht bietet damit – von den Grundtatbeständen der Kapitalerhaltung über das Kapitalersatzrecht bis hin zum Konzernrecht – einen verlässlichen Rahmen der Kontrolle von Vermögensverlagerungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter, die in ihren Kernfunktionen schwer zu ersetzen ist. Alternative Rechtskonzepte – etwa ein missbrauchsorientiertes „piercing the corporate veil“ oder eine deliktsähnliche Geschäftsführer- oder Gesellschafterhaftung – besitzen nicht die Präzision und Verlässlichkeit für alle Beteiligten, die in der gewachsenen bilanzorientierten Anwendung der Kapitalerhaltungsregeln auf rechtswidrige Vermögensverlagerungen zu finden ist. Diese bilanzorientierte Verfahrensweise ist auch dem „insolvency surplus test“ überlegen, der im US-Recht als letzte Kontrolle genutzt und auch für die europäischen Richtlinienrechte erwogen wird. Denn ein solcher Test ist in dreifacher Hinsicht schwächer ausgestaltet als das geltende Recht: Die Ausschüttung setzt nicht den Fortbestand eines Mindestkapitals voraus, es reicht der Gleichstand von Aktiva und Passiva; für diese Vermögensgegenstände werden keine „vorsichtigen“ Wertansätze gewählt, sondern die Verkehrswerte des Gesellschaftsvermögens geschätzt; schließlich wird der „surplus test“ nicht „stetig“ aus einer existierenden Bilanz fortgeschrieben, sondern lediglich punktuell aus der Tagessituation ermittelt und ist damit subjektiven Schätzungen der Geschäftsführer/Gesellschafter in erheblichem Umfang ausgesetzt.

Spätestens mit der Übernahme der International Accounting Standards in die Einzelbilanz wird sich das deutsche Gesellschaftsrecht der Auseinandersetzung um diese Grundfragen der Finanzverfassung juristischer Personen nicht mehr entziehen können, einer Diskussion, die international mit großer Intensität und zum Nachteil der tradierten deutschrechtlichen Konzeption stattfindet. Es wird daher Zeit, dass sich die juristische Fachöffentlichkeit über die Stärken, aber auch die Angriffsflächen der eigenen Position Gewissheit verschafft, um eine hörbare Stimme im grenzüberschreitenden Konzert der Gesellschaftsrechtspolitik vernehmen zu lassen.

Wolfgang Schön

1

Luca Enriques/Jonathan R. Macey, Creditors versus Capital Formation: The Case against the European Legal Capital Rules, Cornell Law Review 86 (2001), S. 1165aff.

2

Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 1991, Rdn. 371ff.

3

Wymeersch, Company Law in Europe and European Company Law, Referat auf dem 1. Europäischen Juristentag, Nürnberg, 2001, Abteilung II, Gemeinschaftsweite Unternehmenstätigkeit, S. 85ff., 126ff.

4

Kübler, ZHR 159 (1995), 550ff.; ders., ZGR 2000, 550ff.

5

Sprißler in: IDW (Hrsg.), Kapitalmarktorientierte Unternehmensüberwachung, 2001, S. 85ff.

6

Zuletzt eindrücklich BGH v. 17. 9. 2001, NJW 2001, S. 3622 („Bremer Vulkan“).

 
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