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ZHR 171 (2007), 485-489
Schön 

Finanzbeamte auf den Finanzmarkt!?

Unter den Finanzvorständen großer Gesellschaften, unter den Leitern ihrer Bilanz- und Steuerabteilungen, aber auch unter Wirtschaftsprüfern und Rechtsanwälten kursiert in diesen Monaten ein Kürzel, das von Eingeweihten nur in verschwörerischem oder verzweifeltem Tonfall in den Mund genommen wird: „FIN 48 – Fin forty-eight“ – oder, um die offizielle Bezeichnung zu verwenden: „FASB Interpretation No. 48 – Accounting for Uncertainty in Income Taxes“1. Gemeint ist eine im Juli 2006 erlassene verpflichtende Publikation des US-amerikanischen Standardsetters für kapitalmarktorientierte Rechnungslegung, des Financial Accounting Standards Board, mit deren Hilfe der bereits seit längerem bestehende Standard SFAS No. 109 (Accounting for Income Taxes) eine wichtige Konkretisierung erfahren soll. Es geht um den sachgerechten Ausweis von Steuerrisiken und Steuerchancen in den publizierten Bilanzen von Unternehmen, die an US-Börsen notiert werden und damit nach US-GAAP ihre Finanzberichte aufstellen. Betroffen sind damit auch sämtliche in Deutschland ansässigen Aktiengesellschaften, die mit Rücksicht auf ihr listing in den USA gegenüber der SEC Abschlüsse nach US-Bilanzrecht vorlegen müssen. Da FIN 48 für sämtliche Geschäftsjahre Geltung beansprucht, die nach dem 15. 12. 2006 beginnen, müssen diese Unternehmen in der Regel erstmals im Jahresfinanzbericht 2007 (und vorher bereits im Rahmen der Quartals- und Halbjahresberichterstattung) diese Vorschrift beachten.

Worum geht es in der Sache? Betroffen von FIN 48 sind sämtliche „Steuerpositionen“ der rechnungslegenden Gesellschaft2. Dazu gehört der Ausweis von steuerlichen Erstattungsansprüchen, vor allem aber von Rückstellungen für steuerliche Eventualverbindlichkeiten. Das Unternehmen wird diese positiven und negativen Vermögensgegenstände im Ausgangspunkt nach der eigenen tatsächlichen und rechtlichen Einschätzung über den Bestand von Forderung und Verbindlichkeit ausweisen. Ausdifferenzierte Ansatz- und Bewertungsregeln für das Risiko einer abweichenden Einschätzung durch die Finanzbehörden oder den Ausgang allfälliger Gerichtsverfahren bestanden in der Vergangenheit nicht3. Die Investoren waren daher über die steuerlichen ZHR 171 (2007) S. 485 (486)Risiken ihrer Beteiligungsunternehmen nur wenig informiert; vor allem in den USA wurde daher kritisiert, dass die Unternehmen unsichere Steuervorteile vorzeitig gewinnwirksam ausweisen konnten, während unsichere Steuernachteile allenfalls pauschal in Rückstellungen versteckt waren4. Nunmehr gebietet FIN 48 für jede einzelne Steuerposition eine individuelle Einschätzung der tatsächlichen und rechtlichen Durchsetzbarkeit – nur solche Ansprüche, bei denen ein Erfolg im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann („more likely than not“), dürfen aktiviert werden; umgekehrt führt eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Unterliegens zum Ansatz einer entsprechenden Rückstellung5. Dabei richtet sich auch die Höhe des jeweiligen Ansatzes nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit: der höchste Betrag, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 51 % gegenüber den Finanzbehörden durchgesetzt werden kann, muss in der Bilanz ausgewiesen werden.

Diese Neuregelung zwingt erstmals sämtliche an US-Börsen notierten Gesellschaften dazu, die Gesamtheit ihrer Steuerpositionen einer Individualbewertung zu unterziehen. Offene Veranlagungen müssen über Jahre zurückverfolgt werden, sämtliche Tatsachen und Rechtsfragen einer internen – neutralen – Prüfung unterzogen und das Ergebnis vom auditor testiert werden6. Schließlich muss für alle Steuergestaltungen des Unternehmens eine verlässliche Einschätzung geliefert werden, bis hin zu der Subsumtion unter die anti-avoidance-Regeln der jeweiligen Jurisdiktionen. Für international operierende Unternehmen bedeutet dies, dass sie die Rechtslage in sämtlichen Sitzstaaten von Betriebsstätten und Tochtergesellschaften prüfen und testieren lassen müssen, einschließlich der dort zu erwartenden verfahrensrechtlichen und verfahrenspraktischen Risiken7. Dabei muss – gerade in der Bilanz 2007 – eine erstmalige Einschätzung sämtlicher in der Vergangenheit eingetretener und bis heute nicht erledigter Steuerfälle vorgenommen werden. Dieser Herkulesaufgabe müssen sich gegenwärtig Bilanz- und Steuerabteilungen großer Unternehmen in aller Herren Länder unterziehen. Da kann es nicht verwundern, dass mehr als 400 US-Unternehmen noch vor wenigen Monaten mit Nachdruck für eine zeitliche Verschiebung des Inkrafttretens von FIN 48 um ein Jahr gekämpft haben; das FASB hat in diesem Punkt jedoch nicht nachgegeben8.

Man mag dieses Exerzitium als wichtigen Beitrag zur Herstellung von Kapitalmarkteffizienz und Investorvertrauen begrüßen. Bedenklich muss allerdings stimmen, wenn ein weiterer Akteur Interesse an dem Ausweis und der ZHR 171 (2007) S. 485 (487)Bewertung von Steuerrisiken zeigt: Das Finanzamt. Hier eröffnet sich eine wahre Fundgrube für Betriebsprüfer: Nach FIN 48 ist das Unternehmen verpflichtet, seine riskanten Steuerpositionen vollständig zu ermitteln, bei der Prüfung der Wahrscheinlichkeit der Durchsetzbarkeit einer Position deren tatsächliche und rechtliche Umstände vollständig aufzuführen und im Lichte der Verwaltungs- und Gerichtspraxis alle für und gegen die eigene Position sprechenden Tatsachen und Argumente zu würdigen. Dabei ist dem Unternehmen untersagt, auf Nichtentdeckung eines Vorfalls zu spekulieren oder eine unvollständige Sachkenntnis des Finanzamts zu unterstellen. Kurzum: Das Unternehmen darf möglicherweise nicht mehr abwarten, ob und welche Positionen aus dem Jahresabschluss oder der laufenden Geschäftstätigkeit die Finanzbehörden aufgreifen und zum Gegenstand von Kontroversen erklären werden – es scheint verpflichtet zu sein, alle Unsicherheiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht in einer „open roadmap“ zu erläutern und dabei auch alle Argumente zugunsten des Finanzamts zu präsentieren9. Der Betriebsprüfer muss nur noch zugreifen.

Schaut man näher hin, zeigen sich Differenzierungen. Naturgemäß hat sich in den vergangenen Monaten vor allem die US-amerikanische Finanzverwaltung – der Internal Revenue Service – in die Diskussion eingeschaltet. Man bietet einerseits Hilfen an, um dem Steuerpflichtigen kurzfristig Risikoeinschätzungen zu ermöglichen10. Man erkennt andererseits an, dass die offengelegten Unternehmenszahlen zu den Steuerrisiken im Rahmen von Betriebsprüfungen zum Anlass für weitergehende Nachfragen genommen werden können11. Dabei ist zu beachten, dass im publizierten Abschluss nach FIN 48 nur die Salden sämtlicher positiver und negativer Unsicherheiten ausgewiesen werden. Allerdings liegen diesen Salden Einzelberechnungen zugrunde (tax accrual workpapers), die von den Unternehmen in ihre Buchführungsunterlagen aufgenommen werden müssen. Vorläufig möchte die US-Finanzverwaltung davon Abstand nehmen, bei Betriebsprüfungen die Vorlage dieser workpapers anzuordnen12. Vertreter des IRS weisen aber durchaus darauf hin, dass in anderen Staaten – etwa Kanada – weniger Hemmungen der Steuerbehörden ZHR 171 (2007) S. 485 (488)bestehen dürften, auf diese Unterlagen zuzugreifen13. Schließlich kann es den Steuerbehörden ausreichen, sich die kritischen Positionen en detail benennen zu lassen, ohne auf die zugrunde liegenden Arbeitspapiere unmittelbar zuzugreifen14.

Wie ist die Rechtslage in Deutschland? Nach § 97 Abs. 1 S. 1 AO kann die Finanzbehörde im Veranlagungsverfahren von dem Steuerpflichtigen die Vorlage von „Büchern, Aufzeichnungen, Geschäftspapieren und anderen Urkunden zur Einsicht und Prüfung“ verlangen. Ähnlich formuliert § 200 Abs. 1 S. 2 AO für die Außenprüfung. Der Gesetzestext enthält keine expliziten Schranken; die Finanzverwaltung sieht sich daher nahezu unbegrenzt in der Lage, auf Dokumente in den Händen des Steuerpflichtigen zuzugreifen15. Die tax accrual workpapers stehen damit der Steuerverwaltung offen. Eine starke Ansicht im Schrifttum16, die in der Vergangenheit zwar noch nicht die Finanzgerichte17 überzeugt, aber doch das Bundesverfassungsgericht18 zu einer unentschiedenen Haltung bewegt hat, vermag demgegenüber Vorlagepflichten nur für solche Urkunden zu erkennen, die der Steuerpflichtige nach § 147 AO aufbewahren muss. Da § 147 Abs. 1 Nr. 1 AO auf die bilanzrechtliche Dokumentation verweist, verlagert sich die Frage nach dem Zugriff der Steuerbehörden auf die tax accrual workpapers auf das Problem, ob Aufzeichnungspflichten im Rahmen von US-GAAP-Bilanzen durch § 140 AO in steuerliche Dokumentationsanforderungen transformiert werden. Stark umstritten ist bereits, ob auch ausländische Rechnungslegungspflichten von dieser Norm erfasst werden19. Vor allem aber hängt die Anwendung des § 140 AO davon ab, ob die Unterlagen „für die Besteuerung von Bedeutung sind“. Hierzu hat sich im Schrifttum20 eine wertvolle Differenzierung herausgebildet: Während dokumentierte Tatsachendarstellungen in der Regel für die Beurteilung steuerre¬ZHR 171 (2007) S. 485 (489)levanter Sachverhalte von Bedeutung sind, ist dies bei bloßen Rechtsausführungen nicht der Fall. Man wird auf dieser Grundlage den Zugriff auf tax accrual workpapers insoweit verweigern können, als das rechtliche Pro und Contra einer Position diskutiert wird. Gleiches gilt im Rahmen von § 147 Abs. 1 Nr. 5 AO, der über die Rechnungslegungsunterlagen hinaus „sonstige Unterlagen“ einer Aufbewahrungspflicht unterwirft, soweit sie „für die Besteuerung von Bedeutung sind“. Zu dieser Norm ist bereits in der Vergangenheit mit guten Gründen vertreten worden, dass interne oder externe Rechtsgutachten zu Steuerpositionen von Unternehmen nicht aufbewahrt und daher auch nicht vorgelegt werden müssen21. Die Verwaltung ist allerdings bisher nicht bereit, sich diesen Restriktionen zu unterwerfen22. Sind am Ende die Finanzbeamten die wahren Gewinner der gesteigerten Finanzmarktpublizität?

Die Zwangslage, in welche Unternehmen durch FIN 48 in Zukunft gelangen können, weist ein weiteres Mal auf die Gefahren hin, die innerhalb und außerhalb des Kapitalmarktrechts durch naives Vertrauen in die Vorzüge unablässig gesteigerter Offenlegungspflichten hervorgerufen werden. Schon in der Vergangenheit mussten publizitätspflichtige Gesellschaften es hinnehmen, dass mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs nicht nur Gesellschafter, Gläubiger und Arbeitnehmer, sondern auch Konkurrenten, Zulieferer und Abnehmer Einblick in relevante Unternehmensdaten erhielten23. Nun tritt mit dem Fiskus ein weiterer Informationsinteressent auf die Bühne, der sich an den Früchten der Finanzmarktgesetzgebung schadlos halten kann. Naiv wäre es auch, zu glauben, dass diese Effekte auf die in den USA börsennotierten Unternehmen beschränkt werden könnten. IASB und FASB arbeiten an einem Konvergenzprojekt, das auch für die Bilanzierung von income taxes bis zum Jahre 2008 eine internationale Einheitslösung vorgeben soll24 und dabei die fortgeschrittenere Rechtslage in den USA zum Ausgangspunkt nehmen dürfte25. Die börsennotierten Konzerne in der Europäischen Gemeinschaft und viele andere Unternehmen werden sich dann auch überlegen müssen, ob sie ihre Steuerrisiken optimistisch einschätzen – und sich damit einer möglichen Haftung gegenüber den Kapitalmarktinvestoren aussetzen – oder ob sie ihre Steuerpositionen konservativ bilanzieren – und sich damit gegenüber den Finanzbehörden von vornherein unterwürfig geben. Finanzamt und Finanzmarkt – hier scheint zusammenzuwachsen, was wirklich nicht zusammengehört.

Wolfgang Schön

1

Financial Accounting Standards Board (www.fasb.org).

2

Überblick bei: KPMG (Hrsg.), US-GAAP-News, Juli 2006 und März 2007; ausführliche Darstellung bei American Institute of Certified Public Accountants (AICPA) (Hrsg.), Practice Guide on Accounting for Uncertain Tax Positions under FIN 48, November 29, 2006; Dahlke, KoR 2007, 311ff.

3

Spatt, The Economics of FIN 48: Accounting for Uncertainty in Income Taxes, März 2007 (www.sec.gov/news/speech/2007/spch030807css.htm); Norris, Risky Bets on Winning Tax Fights, New York Times, v. 27. 5. 2007.

4

Morgenson, A Tax Secret Emerges from the Murk, New York Times, v. 13. 1. 2007.

5

Ausführlich AICPA (Fn. 2), S. 3ff.

6

AICPA (Fn. 2), S. 9 ff.

7

Cigler, Journal of International Taxation, April 2007, 64.

8

Cigler (Fn. 7), S. 64.

9

Spatt (Fn. 3), Nr. 3.

10

Internal Revenue Service, Frequently Asked Questions about FIN 48, LMSB Initiative to Expedite Resolution of Uncertain Tax Positions Prior to Taxpayer Adoption of FIN 48 (www.irs.gov/business/corporations/article/0,,id=163683,00.html).

11

Siehe den Bericht über eine Stellungnahme von IRS Commissioner Everson in: Stamper (Hrsg.), Increased Transparency still falling short, Everson Says, Tax Notes, 5. 2. 2007, S. 502 ff.

12

Stratton, FIN 48 Leading IRS to Reconsider Restraint Policy for Workpapers, Tax Notes, 12. 2. 2007, S. 614 ff.; Jaworski/Kenney, IRS, PCAOB Officials Discuss Tax Accrual Workpapers, FIN 48, Tax Notes, 19. 3. 2007, S. 1069ff., 1069; Harris, Korb Discusses IRS Policy on FIN 48 Workpapers, Tax Notes, 28. 5. 2007, S. 812; Coder, IRS Considering Changing Policy on FIN 48 Workpapers, Tax Notes, 18. 6. 2007, S. 1113.

13

Stratton (Fn. 12), S. 615.

14

Pies/Gropper, FIN 48 Considerations: Tax Attorney’s Perspective, Tax Notes, 30. 4. 2007, S. 462ff., 464; Harris, Could FIN 48 Disclosures Reopen an Audit?, Tax Notes, 4. 6. 2007, S. 896.

15

Anwendungserlass zur Abgabenordnung, Zu § 200 Nr. 1 S. 2; Weiss, StBp 2004, 220ff., 223.

16

Tipke in: Tipke/Kruse, AO und FGO, Losbl., § 97 AO Rdn. 5 (Stand 2004) und § 200 AO Rdn. 10 (Stand 2003); Schick in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, Losbl., § 200 AO Rdn. 199 (Stand 1991); a. A. Schuster in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, Losbl., § 97 AO Rdn. 8 (Stand 2004).

17

BFH BStBl II 1968, 365 ff., 367; BFH BStBl II 1991, 277 f.; FG Münster EFG 2001, 4; a.A. FG Rheinland-Pfalz EFG 1988, 502; zu § 147 Abs. 6 AO nunmehr deutlich für eine enge Auslegung FG Hamburg, DStR-E 2007, 441 ff., 444 ff. (Revision eingelegt).

18

BVerfGE 110, 94 ff., 130.

19

Zum Streitstand Drüen in: Tipke/Kruse, AO und FGO, Losbl., § 140 AO Rdn. 7 (Stand 2007); Trzaskalik in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, Losbl., § 140 AO Rdn. 7 (Stand 1999), offen BFH BStBl II 1995, 238ff., 239.

20

Drüen (Fn. 19), § 147 AO Rdn. 23 (Stand 2007).

21

Ditz, DStR 2004, 2038ff., 2040; Schaumburg, DStR 2002, 829ff., 833.

22

Weiss (Fn. 15), S. 220ff.

23

Grundsatzkritik bei Schön, 6 Journal of Corporate Law Studies, 259ff. (2006).

24

International Accounting Standards Board (Hrsg.), Short-Term Convergence: Income Taxes, März 2007, No. 4; siehe auch Wright LaFon, FASB, IASB Address FIN 48 Measurements, Tax Notes International v. 7. 5. 2007, S. 550f.

25

Zum Vergleich zwischen FIN 48 und der aktuellen – nicht steuerspezifischen – Rechtslage unter IAS 12 siehe Dahlke (Fn. 2), S. 318 ff.

 
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