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ZHR 181 (2017), 595-602
Hemeling 

Europäische Finanz- und Kapitalmarktregulierung auf dem Prüfstand

Wohl kaum in einem anderen Bereich hat die europäische Rechtsetzung eine so hohe Intensität erreicht wie im Finanz- und Kapitalmarktrecht. Wenn die Überregulierung in Europa beklagt und dies als einer der Gründe für eine nachlassende Akzeptanz der europäischen Integration verstanden wird, eignet sich daher die Regulierung der Finanz- und Kapitalmärkte besonders gut für eine kritische Bestandsaufnahme. Bisherige Erhebungen, etwa unter dem Stichwort Better Regulation oder zur Arbeitsweise der sog. ESA’s, d.h. der europäischen Banken-, Versicherungs- und Wertpapieraufsicht (EBA, EIOPA und ESMA), spiegeln die Wahrnehmung in der Rechtsanwendung dabei nicht hinreichend wider.

Diese leidet zunehmend unter einer Regelungsflut, die in der Summe von mehrstufiger europäischer Regelsetzung und nationalen Umsetzungs- und Anwendungsregeln zu einem komplexen Regelungsdickicht angewachsen ist, dem es an Systematik und Verständlichkeit fehlt und das in Teilen praktisch nicht mehr umsetzbar ist. Anschauliche Beispiele finden sich in den seit Juli 2016 geltenden Marktmissbrauchsregelungen, den aufsichtsrechtlichen Anforderungen für Banken und Versicherungen und dem Verbraucherschutz.

Besonders interessant ist die Entwicklung des Marktmissbrauchsrechtes, da deren Kernelemente, insbesondere die Insider-Handelsverbote und die Regelung zur Ad-hoc-Publizität, originär europäisches Recht sind und sich diese Bereiche daher hervorragend für eine Prüfung eignen, inwieweit die europäische Gesetzgebung in der Lage ist, frei vom Handicap einer Regel-Harmonisierung einen klaren und transparenten Ordnungsrahmen zu schaffen.

In der Anfangsphase wurden mit der Börsenzulassungsrichtlinie1 und der Insiderrichtlinie2 klare Prinzipen zur Ad-hoc-Publizität und den Insider-Handelsverboten aufgestellt, die im Jahr 1994 übersichtlich im deutschen Wertpapierhandelsgesetz umgesetzt wurden. Auch die erste Marktmissbrauchsrichtlinie aus dem Jahr 20033 behielt mit knapp zehn Seiten Regelungstext und dank begrenzter Durchführungsakte ein überschaubares Konzept bei. Ein unverhältnismäßiger Komplexitätsschub begann jedoch mit der im April 2014 verabschiedeten Marktmissbrauchsverordnung und der be¬ZHR 181 (2017) S. 595 (596)gleitenden Richtlinie über die strafrechtlichen Sanktionen bei Marktmanipulation.4 Die Verordnung ist deutlich detaillierter als das Vorgängerregime und enthält insgesamt 24 Ermächtigungen zum Erlass von delegierten Verordnungen und Durchführungsrechtsakten. Auf Basis dieser Ermächtigungen hat die EU Kommission allein in den letzten 18 Monaten sieben Delegierte Verordnungen und sieben Durchführungsrechtsakte auf der Grundlage von Art. 290 und Art. 291 AEUV erlassen; hinzukommen umfangreiche Leitlinien, Konsultationspapiere und FAQ’s der ESMA. Auf nationaler Ebene ist die Umsetzung durch das zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz und die Änderung der Wertpapierhandelsanzeige- und Insiderverzeichnisverordnung noch nicht abgeschlossen. Die deutsche Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat zur neuen europäischen Regulierung aber bereits zahlreiche Einzeldokumente herausgegeben, die Überarbeitung des umfassenden Emittentenleitfadens jedoch noch nicht fertiggestellt.

Die Vervielfachung der Texte auf den verschiedenen Ebenen steht in keinem Verhältnis zum Regelungsnutzen, führt aber zwangsläufig zu einem Verlust an Systematik, Konsistenz, sprachlicher Klarheit und Bestimmtheit. So zeichnen sich die neuen Regelungen durch unnötige Komplexität, etwa bei der Definition des Begriffes „Finanzinstrumente“ über eine lange Verweisungskette, sowie einer Bürokratisierung, etwa bei der Dokumentation im Bereich des Directors Dealing, aus. In Hinblick auf mögliche Eigengeschäfte ist eine spezielle Liste aller „Personen, die Führungsaufgaben wahrnehmen, sowie in enger Beziehung zu ihnen stehende Personen“ zu erstellen; letztere sind schriftlich über die Meldepflichten in Kenntnis zu setzen, was wiederum zu dokumentieren ist.5 Eine Notwendigkeit für diesen hohen Detaillierungsgrad und eine komplette Neufassung des Marktmissbrauchsrechts gab es nicht; es hätte genügt, erkannte Lücken in Hinblick auf Manipulationshandlungen oder neue Handelsformen zu schließen. Angesichts des Aufwands der vollständigen Überarbeitung wäre es allerdings wünschenswert gewesen, sich einer bekannten Schwäche im Bereich der Ad-hoc-Publizität anzunehmen. Unverändert wird aber für das Entstehen einer Insider-Tatsache und der Verpflichtung zur Ad-hoc-Publizität an der einheitlichen zeitlichen Anknüpfung festgehalten, obgleich dies der Lebenswirklichkeit und dem Zeitbedarf bei gestreckten Sachverhalten nicht gerecht wird. Mit der ausdrücklichen Einbeziehung der Zwischenschritte bei gestreckten Vorgängen und den restriktiven Voraussetzungen der Selbstbefreiung hat die europäische Rechtsetzung die Schwierigkeiten bei gestuften oder linearen Entscheidungsprozessen oder Vorgängen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und Zwischenmitteilungen nicht zulassen, im Gegenteil noch erhöht.

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Besonders prekär ist die Entwicklung der Rechtsetzung im Finanzsektor. Im Jahr 2015 wurden bereits 34.019 Seiten in der Finanzmarktregulierung gezählt.6 Allein für die Versicherungswirtschaft beträgt der Textumfang aller versicherungsaufsichtsrechtlichen Regelungen auf den verschiedenen europäischen Regelungsebenen ca. 10.000 Seiten,7 wobei bekanntermaßen die Regelungsdichte auf der Bankenseite noch höher ist. Um sich einen Eindruck von der kaum noch vorstellbaren Komplexität zu verschaffen, genügt ein kurzes Überfliegen der Regelungen zu den Eigenmitteln und zu den Kapitalanforderungen der Banken im Teil 2 (Art. 25–91) und im Teil 3 (Art. 92–386) der EU Verordnung über die Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen.8 Im Vergleich dazu sind die ergänzenden Bestimmungen der §§ 10 ff. KWG zum Kapitalerhaltungspuffer, zum Antizyklischen Kapitalpuffer sowie zu den Kapitalpuffern für systemische Risiken, für global systemische Risiken und für anderweitig systemrelevante Institute noch einfach. Eine Folge dieser Regelungen ist ein ungeheuer hoher Aufwand für die Ermittlung des Kapitalbedarfs; der Umfang der Antragsunterlagen für das Interne Modell zur Berechnung des Kapitalbedarfs bemisst sich bei größeren Instituten nicht mehr nach tausenden, sondern nach zehntausenden Seiten. Daneben wurden in den letzten Jahren unter den Stichworten System of Governance und Sound Organisation detaillierte qualitative Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Banken und Versicherungsunternehmen entwickelt, wobei Umfang und Granularität im Zuge der abnehmenden Regelungsstufen ansteigen.9 Trotz der Detailtiefe enthalten diese Anforderungen weniger konkrete Handlungsanweisungen als abstrakte Beschreibungen eines Idealzustands, der jedoch von der Geschäftsleitung zu gewährleisten ist. Die Umsetzung ist nicht auf die beaufsichtigte Einzelgesellschaft beschränkt, sondern erstreckt sich in der Unternehmensgruppe bzw. im Konglomerat grundsätzlich auf alle Konzerneinheiten, und zwar unabhängig davon, ob diese ihren Sitz in Europa oder in einem Drittstaat haben. Gesellschaftsrechtliche Schranken werden dabei ignoriert.

Angesichts dieser Zustände ist man geneigt, frei von jeglicher Parteipolitik der folgenden Zustandsbeschreibung maßgeblicher Finanzpolitiker der „Grünen“ zuzustimmen:

„Die schiere Seitenzahl zeigt die Absurdität der derzeitigen Finanzmarktregulierung. Unwesentliches wird bis ins kleinste Detail geregelt und Wesentliches trauen sich Regierungen nicht anzugehen. Sehr viele der neuen Regeln sind nicht zielführend, verursachen enorme Bürokra¬ ZHR 181 (2017) S. 595 (598) tie bei den Banken und Aufsichtsbehörden und spiegeln Scheinsicherheit vor. Statt unzähliger komplexer Detailvorschriften brauchen wir weniger, einfachere aber härtere Regeln.“ 10

Aus dem Bereich des Verbraucherschutzes liefert die angestrebte vereinheitlichte Basisinformation über Anlageprodukte für Kleinanleger in zweierlei Hinsicht eine Anschauung europäischer Rechtsetzung. Mit den sog. Key Information Documents (KIDs) soll künftig den Retailkunden eine standardisierte, kurze und verständliche Basisinformation über wesentliche Produktmerkmale, den Vertrieb und die Kosten von Investmentsfonds, strukturierten Finanzprodukten, Derivaten und Versicherungsprodukten mit Anlageelement erteilt werden. Dies ist der Kern der Level 1-Verordnung über Basisinformationen für verpackte Anlage- und Versicherungsanlageprodukte (PRIIPs-VO) vom 26. 11. 2014.11 Vergleichbare und zum Teil überschneidende Vorgaben mit derselben Zielsetzung gibt es aber auch nach der überarbeiteten OGAW-Richtlinie (UCITS IV) vom 13. 7. 2009,12 mit der für Fondsprodukte der frühere vereinfachte Verkaufsprospekt durch ein Kundeninformationsblatt abgelöst wurde, der sog. MIFID II-Richtlinie und MIFIR-Verordnung über Märkte für Finanzinstrumente aus dem Jahr 201413, die ein standardisiertes Produktinformationsblatt für die Aktienanlage einführen, und der Richtlinie über den Versicherungsvertrieb (IDD) vom 20. 1. 201614, die für alle Nichtlebensversicherungsprodukte ein Insurance Product Information Document (IPID) vorschreibt. Während die UCITS IV-Informations- und Transparenzbestimmungen bereits seit 2011 geltendes Recht sind, sollen die Informationsanforderungen von PRIIPs und MIFID zum 1.1. bzw. 3. 1. 2018 und die Regelungen der IDD zum 23. 2. 2018 in Kraft treten. Bereits heute ist aber absehbar, dass die Schaffung einer verständlichen und vergleichbaren Information nach einheitlichem Standard nicht gelingen wird. Zum einen enthalten die genannten Regelwerke selbst zu viele Abweichungen und Inkonsistenzen und es gibt zu viel Nebeneinander; so ist die Definition des relevanten Zielmarkts in allen vier Regelwerken unterschiedlich! Zum anderen wird die ohnehin schon umfangreiche Kundeninformation durch die neuen Anforderungen auch nicht teilweise ersetzt. Bei dem Informationsblatt handelt es sich vielmehr um eine zusätzliche Unterlage, so dass zu besorgen ist, dass sich der information overload weiter erhöht, der Retailkunde abgeschreckt und das Ziel einer leicht verständlichen Basisinformation nicht erreicht wird.

Auch in Hinblick auf das Rechtsetzungsverfahren ist die PRIIPs-Regulierung interessant. Die von der EU-Kommission nach den Vorschlägen der ZHR 181 (2017) S. 595 (599)ESAs erlassenen RTS wurden vom EU-Parlament im September 2016 zurückgewiesen. Nachdem die ESAs daraufhin im Dezember 2016 in einem gemeinsamen Schreiben die Lieferung eines angepassten Standards mit dem Hinweis abgelehnt hatten, dass es unmöglich sei, im aufgegebenen Rahmen zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen, nahm die Kommission eigenhändig Änderungen vor. Obgleich auch der überarbeitete Standard Mängel aufweist und ein gerade aus Verbrauchersicht wünschenswerter Praxistest nicht stattfand, haben sowohl das EU-Parlament als auch der Rat zu dem von der Kommission am 8. 3. 2017 erlassenen ergänzten Standard – wohl auch in Hinblick auf den engen Zeitplan und aus Sorge vor der Blamage einer weiteren Zurückweisung – noch im selben Monat ein early non-objection erklärt. Dieser Vorgang ist ein Lehrstück für die Abläufe der delegierten Rechtsetzung und der inhaltlichen Einwirkungsmöglichkeiten des Parlaments.

Im Übrigen belegen die genannten Regelwerke eindrucksvoll, dass sie aufgrund der zahlreichen Durchführungsbestimmungen, der vielen Verweise sowie des Umfangs und des Detaillierungsgrades nur noch sehr schwer zu verstehen sind und sich auch angesichts der häufig mehrphasigen Regulierung mit ständigen Fortschreibungen die Frage aufdrängt, wie und mit welchem Aufwand eine regelgetreue und effektive Umsetzung in der Praxis noch gelingen kann. Die negativen Begleiteffekte sind inzwischen so schwerwiegend, dass von einer Fehlentwicklung gesprochen werden muss, die dringend zu korrigieren ist.15

Dabei hat jedes Nachdenken über Verbesserungsmöglichkeiten bei den Ursachen anzusetzen. Augenfällig ist zunächst die Komplexität der europäischen Rechtsetzung nach dem so genannten fortgeschriebenen Lamfalussy-Verfahren, das zunächst für Finanzdienstleistungen eingeführt und später in novellierter Form auf die Bereiche, Versicherungen und Pensionsfonds ausgedehnt wurde;16 damit einher ging die Schaffung der europäischen Aufsichtsbehörden EBA, EIOPA und ESMA nach der Finanzkrise 2008. Ungeachtet der Vorteile des Lamfalussy-Verfahrens für eine zügige Harmonisierung wichtiger Bereiche im Finanz- und Kapitalmarktsektor ist es mit der mehrstufigen Rechtsetzung ohne hinreichende Qualitätskontrolle wesentlicher Teil des Problems. Im Ergebnis vollzieht sich die Rechtsetzung auf drei Regelungsebenen mit einer zusätzlichen Zwischenstufe. Auf der ersten Ebene (Level 1) erlassen EU-Kommission, Rat und Parlament Gesetzgebungsakte in Form einer Rahmenrichtlinie oder einer in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltenden Verordnung. Diese werden auf der zweiten Regelungsebene (Level 2) auf der Grundlage entsprechender Ermächtigungen in der Level 1-Gesetzgebung ZHR 181 (2017) S. 595 (600)durch delegierte Rechtsakte der EU-Kommission konkretisiert. Zusätzlich können die europäischen Aufsichtsbehörden in einer Art Zwischenstufe technische Regulierungs- und Durchführungsstandards (RTS und ITS) erarbeiten, die ebenfalls von der EU-Kommission erlassen werden. Allerdings haben das EU-Parlament und der Rat die Möglichkeit, gegen delegierte Rechtsakte und RTSs innerhalb einer Frist von regelmäßig drei Monaten Einwände zu erheben und damit ein Inkrafttreten zu verhindern; eine Überarbeitung obliegt in diesem Fall den Aufsichtsbehörden bzw. der Kommission. Auf der dritten Stufe (Level 3) geben die Aufsichtsbehörden Leitlinien und Empfehlungen heraus, teilweise mit ausführlich erläuternden Texten, die in einer Art Comply-or-explain-Verfahren regelmäßig von den nationalen Aufsichtsbehörden mit entsprechender faktischer Bindungswirkung für die Marktteilnehmer anerkannt werden. Neben die europäischen Normen tritt sodann die nationale Rechtsetzung, häufig ebenfalls auf drei Ebenen (Gesetz, Verordnung und aufsichtsbehördliche Verlautbarung). Im Ergebnis müssen die Marktteilnehmer also ein sechs- bis siebenstufiges Regelwerk beachten oder umsetzen.

Eine kritische Überprüfung verdient die Rechtsetzung auf Level 2 und Level 3. Die delegierten Rechtsakte der EU-Kommission basieren auf Einzelermächtigungen der Level 1–Richtlinien bzw. -Verordnungen, von denen großzügig Gebrauch gemacht wird. So enthält die Rahmenrichtlinie zu Solvency II17 mit zwei Änderungsrichtlinien mehr als 70 Ermächtigungen für eine delegierte Rechtsetzung. Schon die schiere Anzahl der Ermächtigungen lässt Zweifel daran aufkommen, ob hinreichend auf die Sicherstellung einer ausreichenden parlamentarischen Legitimation und Kontrolle geachtet wird. Maßstab bleibt die Vorgabe des Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2, S. 2a AEUV, dass wesentliche Regelungen dem Gesetzgebungsakt vorbehalten bleiben müssen. Dies lässt sich schon aufgrund des Beurteilungsspielraums bei der Abgrenzung der Wesentlichkeit schwer kontrollieren. Ferner steigt mit der Reichweite der Ermächtigungen die Gefahr, dass im Wege delegierter Rechtsakte auch relevante Regelungen getroffen werden, die die Hürden der Gesetzgebung auf Level 1 nicht genommen hätten. Es kommt auch vor, dass die Grenzen der Ermächtigung schlicht überschritten werden. So enthält die Durchführungsverordnung zu Solvency II18 im Art. 275 explizite Vergütungsregelungen, obgleich die zugrunde liegende Solvency II-Rahmenrichtlinie hierzu keine Grundlage enthält.19 Auf den Prüfstand gestellt werden sollten auch die gesonderten Verfahren für die bindenden technischen Standards RTS und ITS, zumal der Regelungsgehalt der beiden Kategorien schwer abgrenzbar ist. Für die wünschenswerte Vereinfachung denkbar wäre ein einheitliches Verfahren ZHR 181 (2017) S. 595 (601)für alle delegierten Rechtsakte mit einer klareren Abgrenzung von rein technischen Ausführungsbestimmungen.

Revisionsbedürftig ist auch das System der Leitlinien und Empfehlungen auf Level 3. Zum einen erscheint eine Anerkennung durch die nationalen Aufsichtsbehörden verzichtbar; der Charakter einfacher Verlautbarungen, wie sie auf nationaler Ebene üblich sind, sollte auch für die europäische Aufsicht ausreichend sein. Ferner gilt es, den offensichtlichen Wettbewerb der ESAs bei der Produktion von Papieren zu stoppen und die Leitlinien und Empfehlungen zur Vermeidung von Redundanzen und Inkonsistenzen auf ein sinnvolles Maß zu beschränken. Einen stärkeren Fokus sollte die europäische Aufsicht hingegen auf die einheitliche Umsetzung (Konvergenz) wesentlicher europäischer Regelungen legen; wo die Befugnisse für eine entsprechende Durchsetzung gegenüber den nationalen Behörden nicht reichen, sollte über eine Verstärkung nachgedacht werden.

Ebenso wichtig wie die formellen Rechtsetzungsprozesse sind einige grundsätzliche systematische Fragestellungen. So mangelt es offenbar an transparenten Vorstellungen, auf welchen Rechtsgebieten eine Vollharmonisierung erfolgen und in welchen Bereichen es bei einer Mindestharmonisierung bleiben soll. Da auch die einzelnen Rechtsakte dies nicht immer erkennen lassen, fehlt es bisweilen schon an einem gemeinsamen Grundverständnis, ob Raum für eine ergänzende nationale Rechtsetzung bleibt.20 Ob der legislative Akt in Form einer Rahmenrichtlinie oder im Wege einer in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltenden Verordnung ergeht, entzieht sich ebenfalls einer systematischen Ordnung. Dabei liegt es nahe, für eine Vollharmonisierung das Instrument der europäischen Verordnung einzusetzen, um das nationale Goldplating zu vermeiden.

Weit entfernt hat sich die Rechtsetzung nach dem Lamfalussy-Verfahren von der Idee eines prinzipienorientierten Ordnungsrahmens. Dazu mag das Bemühen zur Herstellung eines Level-Playing-Fields mit Hilfe von detaillierten Regelungen beitragen; begünstigt wird diese Entwicklung aber auch durch die allgemeine Bürokratisierung und die Tatsache, dass die Praxis selbst unnötige Konkretisierungen und Detailregelungen einfordert. Erhebliche Unsicherheiten gibt es schließlich nach wie vor bei den Kriterien für die Subsidiarität europarechtlicher Regelungen und den Ermächtigungsgrundlagen im Primärrecht, was nicht nur zu Akzeptanzproblemen, sondern auch zu Konflikten und Unschärfen in der Zuständigkeit europäischer und nationaler Institutionen führen kann.

Aber auch die nationalen Gesetz- und Verordnungsgeber tragen zu vermeidbaren Diskrepanzen bei, wenn sie nicht konsequent eins zu eins umsetzen, sondern versuchen, nationale Eigenheiten um jeden Preis zu erhalten. Selbst die Wirtschaft muss sich bisweilen fragen lassen, wie europäisch sie ZHR 181 (2017) S. 595 (602)wirklich ist, wenn sie nationale Sonderregeln und Auslegungen auch für Sachverhalte einfordert, die bereits einheitlichem europäischen Recht unterliegen.

Es gibt sowohl auf europäischer als auch auf deutscher Ebene Initiativen für eine bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau. Die dazu geäußerten Einsichten und Absichten sind durchaus zutreffend, wie etwa folgende Aussagen der Bundesregierung in einem Beschluss vom 4. 6. 2014 zum Arbeitsprogramm „Bessere Rechtsetzung“21 belegen.

„Recht muss einfach, verständlich und zielgenau ausgestaltet werden. Dies gilt gleichermaßen für die nationale wie für die europäische Ebene. Im letzteren Zusammenhang ist sowohl die Rechtsetzung durch EU-Institutionen als auch die Umsetzung von EU-Recht durch Bund, Länder und Gemeinden betroffen… Mit dem Ziel einer besseren Rechtsetzung auf EU-Ebene unterstützt die Bundesregierung eine zügige Durchführung des REFIT-Programms, u. a. durch Vereinfachung des geltenden EU-Rechts, … und Aufhebung überholter Rechtsvorschriften… Die Bundesregierung wird sich für einen wirksamen unabhängigen Normenkontrollmechanismus auf EU-Ebene einsetzen… Zugleich wird die Bundesregierung Richtlinien grundsätzlich „eins zu eins“ umsetzen, um auch Chancengleichheit im europäischen Binnenmarkt zu sichern und bei der Umsetzung von EU-Recht unnötigen Aufwand zu vermeiden.“

Künftig müssen diesen Worten mehr Taten folgen. Angesichts der Regelflut und der damit verbundenen zunehmenden Verwässerung rechtsstaatlicher Grundsätze sind insbesondere die Juristen aufgefordert, über die positivistische Rechtsanwendung hinaus für die Qualität des Rechts Sorge zu tragen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der europäischen Rechtsetzung sollte intensiviert und künftige Konsultationen dazu genutzt werden, deutlicher als bisher eine generelle Zielsetzung der Regulierung, notwendige Vereinfachungen und Begrenzungen, eine wirksame Normenkontrolle sowie eine realistische Aufwands- und Folgenabschätzung einzufordern. Zu den Mängeln einzelner Regelwerke sollte von Wissenschaft und Praxis im Rahmen der regelmäßigen Evaluierungen konstruktiv Stellung genommen werden; für die Machtmissbrauchsverordnung steht zum Beispiel im Jahr 2019 eine Überprüfung an.

Peter Hemeling

1

RL 79/279/EWG v. 5. 3. 1979, ABl. v. 16. 3. 1979, L 066, 21.

2

RL 89/592/EWG v. 13. 11. 1989, ABl. v. 18. 11. 1989, L 334, 30.

3

RL 2003/6/EG v. 28. 1. 2003, ABl. v. 12. 4. 2003, L 069, 16.

4

VO (EU) Nr. 596/2014 v. 16. 4. 2014, ABl. EU L173 v. 12. 6. 2014, 1 und RL (EU) 2014/57/EU v. 16. 4. 2014, ABl. EU L173 v. 12. 6. 2014, 179.

5

Weitere anschauliche Beispiele bei Simons, AG 2016, 651 ff.

6

Vgl. Handelsblatt v. 10. 11. 2015.

7

Prölss/Dreher/ders., VAG, 13. Aufl. 2017, Einleitung Rdn. 48.

8

VO (EU) 575/2013 v. 26. 6. 2013, ABl. v. 27. 6. 2013, L 176, 1.

9

So umfasst das Rundschreiben der BaFin zu den Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen (Rundschreiben 2/2017 VA) 298 Rdnrn. und wird durch diverse Merkblätter ergänzt.

10

Giegold/Philipp/Schick, Finanzwende, 2. Aufl. 2016, S. 9.

11

VO (EU) 1286/2014 v. 26. 11. 2014, ABl. EU v. 9. 12. 2014, L 352, 1.

12

RL (EG) 2009/65 v. 13. 7. 2009, ABl. EU v. 17. 11. 2009, L 302, 32.

13

RL (EU) 2014/65 v. 15. 5. 2014, ABl. EU v. 12. 6. 2014, L 173, 349 und VO (EU) 600/2014 v. 15. 5. 2014; ABl. EU v. 12. 6. 2014, L 173, 84.

14

RL (EU) 2016/97 v. 20. 1. 2016, ABl. EU v. 2. 2. 2016, L 26, 19.

15

Vgl. zum Vertrauensverlust durch die europäische Rechtsentwicklung Schneider, EuZW 2017, 489 f.

16

Zum Lamfalussy-Verfahren vgl. etwa Möllers, ZEuP 2008, 480 ff. und ZEuP 2016, 325 ff.; zum Europäischen Versicherungsaufsichtsrecht vgl. Prölss/Dreher/ders. (Fn. 7), Rdn. 42 ff.

17

RL 2009/138/EG v. 25. 11. 2009, ABl. v. 17. 12. 2009, L 335, 1.

18

Delegierte VO EU 2015/35 v. 10. 10. 2014, ABl. v. 17. 1. 2015, L 12, 1.

19

Zum Verhältnis der europäischen und deutschen Vergütungsregelungen vgl. Hemeling in: Dreher/Wandt, Solvency II in der Rechtsanwendung 2016, 2016, S. 17 ff.

20

Vgl. hierzu Prölss/Dreher/ders. (Fn. 7), Rdn. 86 ff.

21

Als pdf abrufbar unter https://www.amtlich-einfach.de.

 
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