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ZHR 185 (2021), 781-791
Schön 

Etikettenschwindel im Europäischen Bilanzrecht

1. Am 11. 11. 2021 hat das Europäische Parlament einem Rechtsakt des Ministerrates1 seine endgültige Zustimmung erteilt, der nicht nur ein hochpolitisches Zeichen setzt, sondern eine Grundfrage der europäischen Kompetenzordnung aufwirft. Es geht um eine Änderung der Bilanz-RL der Europäischen Union durch die Einführung eines öffentlichen Country-by-Country Reporting für sehr große börsennotierte Unternehmen (deren Jahresumsatz mehr als 750 Mio. € beträgt). Diese sind künftig verpflichtet, ihre wesentlichen steuerrelevanten Kennzahlen in einem “Ertragsteuerinformationsbericht” zusammenzufassen und der europäischen (d.h. letztlich einer globalen) Öffentlichkeit mitzuteilen.2

Damit ist ein mehr als fünf Jahre währendes europäisches Gesetzgebungsverfahren zu seinem Abschluss gelangt. Nachdem die Europäische Kommission im Jahre 2016 den zugrundeliegenden Richtlinienvorschlag unterbreitet hatte,3 zogen sich die Beratungen – teils wegen inhaltlicher Divergenzen, teils wegen institutioneller Streitfragen – über viele Jahre hin, bis am 1. 6. 2021 die portugiesische Ratspräsidentschaft eine vorläufige Einigung verkündenZHR 185 (2021) S. 781 (782) konnte.

Die Neuregelung war inhaltlich stark umstritten:4 Ist der vorgesehene Eingriff in das Steuergeheimnis zu Lasten der betroffenen Kapitalgesellschaften gerechtfertigt? Besitzen Anleger überhaupt ein materielles Interesse an der Offenlegung dieser Steuerdaten?5 Wird hier ein öffentlicher Pranger errichtet, an den Nicht-Regierungsorganisationen bedeutende multinationale Unternehmen stellen können? Schadet die europäische Politik mit dieser Maßnahme gezielt europäischen Konzernen – denn Unternehmensgruppen aus Drittstaaten unterliegen in ihren Heimatstaaten nicht denselben Offenlegungspflichten?

Dies alles wurde kontrovers diskutiert. Der wirkliche Grund für die mehrjährige Verzögerung dieser Gesetzgebung lag jedoch in der Suche nach ihrer richtigen Kompetenzgrundlage in den europäischen Verträgen. Hier standen sich über mehrere Jahre zwei Positionen gegenüber. Die Europäische Kommission6 stützte ihren Vorschlag eines öffentlichen Country-by-Country Reporting von Anbeginn auf Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV, die traditionsreiche Ermächtigungsgrundlage für die Angleichung der nationalen Gesellschaftsrechte,7 die seit der Einführung der Publizitäts-RL im Jahre 1968 und der Bilanz-RL im Jahre 1978 als selbstverständliche Kompetenznorm auch für die unternehmerische Rechnungslegung akzeptiert ist.8 Die Kommission begründete dies mit dem Hinweis, es werde mit dieser neuen Offenlegungspflicht lediglich der Umfang der nach der Bilanz-RL publizitätspflichtigen Unternehmensinformationen erweitert. Der Juristische Dienst des Rates hielt demgegenüber die allgemeine Harmonisierungskompetenz nach Art. 115 AEUV für maßgeblich.9 Es handele sich der Sache nach um eine Maßnahme zur Durchsetzung der steuerlichen Interessen der Mitgliedstaaten im Binnenmarkt, deren Zielsetzung die Schutzrichtungen des Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV im Rahmen des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit übersteigen würde.

Kommt es für die Einführung eines öffentlichen Ertragsteuerinformationsberichts auf die richtige Zuordnung zu einer der beiden Kompetenznormen überhaupt an? Der Unterschied ist in der Tat beachtlich. Während die Rechtsangleichung im Gesellschaftsrecht nach Art. 50 Abs. 1 AEUV im “ordentlichen Gesetzgebungsverfahren” eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat und die Zustimmung des Europäischen Parlaments voraussetzt, kann nach Art. 115 AEUV ein Rechtsakt im Rat nur einstimmig verabschiedet werden – außerdem wird das Europäische Parlament in diesem “besonderen Gesetzgebungsverfahren” nur angehört. Art. 115 AEUV gehört mit diesemZHR 185 (2021) S. 781 (783) strengen Einstimmigkeitsprinzip und der geringen Bedeutung des Parlaments noch zum “Urgestein” des EWG-Vertrages aus dem Jahre 1957. Zwar wurde im Jahre 1987 durch die Einheitliche Europäische Akte mit dem heutigen Art. 114 AEUV auch für die allgemeine Binnenmarktgesetzgebung das Mehrheitsprinzip in Kraft gesetzt. Ausdrücklich ausgenommen von dieser Modernisierung wurden jedoch u.a. die “Bestimmungen über die Steuern” (Art. 114 Abs. 2 AEUV), die im Anwendungsbereich des heutigen Art. 115 AEUV verblieben. Das bedeutet: Die Zuordnung einer Regelungsmaterie zu Art. 50 Abs. 2 lit. g) oder zu Art. 115 AEUV präjudiziert für einen Gesetzgebungsakt die erforderliche Stimmenzahl im Rat und die Qualität der Beteiligung des Europäischen Parlaments. So kann es nicht verwundern, dass das Europäische Parlament sich nach einigem Überlegen recht schnell dem Standpunkt der Europäischen Kommission angeschlossen und seinen institutionellen Zustimmungsvorbehalt betont hat.10 Und ebenso selbstverständlich musste es erscheinen, dass einzelne Mitgliedstaaten sich nachdrücklich auf ihr in Art. 115 AEUV verankertes Vetorecht beriefen. Auch die Bundesregierung zögerte lange, sich diesem Vorschlag gesteigerter Steuertransparenz anzuschließen.11

Die Ratsentscheidung vom 28. 9. 2021, mit welcher die Richtlinie letztlich verabschiedet wurde, erfolgte mit qualifizierter Mehrheit – bei zwei Gegenstimmen und vier Enthaltungen.12 Und das Parlament nahm diesen Rechtsakt nicht nur zur Kenntnis, sondern erklärte formal seine Zustimmung.13 Die Kommission hat also verfahrensrechtlich “gesiegt”. Aber hat sie auch Recht? Und wie kam das Ergebnis zustande? Schaut man näher hin, so verdankt sie den gesetzgeberischen Durchbruch einem legislatorischen Etikettenschwindel. Dieser drastische Vorwurf bedarf einer vertieften Begründung.

2. Wirft man einen Blick auf den materiell-rechtlichen Rahmen, in dem sich die neue Regelung zum Country-by-Country Reporting bewegt, so stellt man fest, dass sich die Europäische Union schon zum vierten Mal dieses Themas annimmt. Im Zentrum stehen die von den G20 beauftragten Arbeiten der OECD zur internationalen Steuervermeidung. Im Zuge des Aktionsplans gegen Base Erosion and Profit Shifting verständigten sich im Jahre 2015 mehr alsZHR 185 (2021) S. 781 (784) 100 Staaten darauf, Unternehmen ab einer Umsatzschwelle von 750 Mio. € zur Einreichung von Country-by-Country-Berichten zu verpflichten, deren Inhalt allen Finanzbehörden zur Verfügung gestellt werden muss, auf deren Gebiet das Unternehmen wirtschaftlich tätig ist.14 Das bereitgestellte Zahlenwerk soll die Finanzbehörden auf mögliche Gewinnverlagerungen zwischen den betroffenen Jurisdiktionen aufmerksam machen; im Gegenzug wurde den betroffenen Unternehmen von allen beteiligten Staaten die Wahrung des Steuergeheimnisses zugesagt.15 Für die Europäische Union wurde dieses neue Instrument im Jahre 2016 im Zuge einer Ergänzung der steuerlichen Amtshilfe-RL übernommen.16 Diese Gesetzgebung erforderte auf der Grundlage des Art. 115 AEUV im “besonderen Gesetzgebungsverfahren” einen einstimmigen Beschluss nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Die nunmehr verabschiedete Regelung zum “öffentlichen” Ertragsteuerinformationsbericht erweitert letztlich dessen Adressatenkreis über die Finanzbehörden hinaus in die allgemeine Öffentlichkeit. Kann sich dadurch die Rechtsgrundlage ändern?

Der Richtliniengeber und die Kommission haben hierzu darauf hingewiesen, dass der europäische Gesetzgeber in der Vergangenheit bereits in zwei Fällen Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV in Anspruch genommen hat, um ein sektorenspezifisches Country-by-Country Reporting durchzusetzen.17 Konkret werden die “extraktiven Industrien” sowie der Bankensektor seit dem Jahre 2013 dazu angehalten, in ihrer Rechnungslegung auch länderbezogene Steuerzahlen offenzulegen. Doch gab es hierfür jeweils branchenspezifische Gründe: bei der extraktiven Industrie lieferte der häufig beobachtete Zusammenhang zwischen Rohstoffwirtschaft und Korruption in Entwicklungsländern den Anlass für einen Blick auf das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Aktivität und Steuerlast;18 bei den Banken ging es um die Korrespondenz zwischen staatlichen Hilfsmaßnahmen für Banken einerseits und deren eigenen Beitrag zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben.19 Verallgemeinerungsfähige Aussa-ZHR 185 (2021) S. 781 (785)gen zur Rechtsgrundlage einer sektorenübergreifenden Maßnahme lassen daraus nur schwer herleiten.

3. Betrachtet man die beiden konkurrierenden Kompetenznormen und ihre Ausgestaltung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, so fällt auf, dass beide Vorschriften den Gegenstand von juristischen Streitfragen bilden, die sich im Fall des öffentlichen Country-by-Country Reporting gleichsam “addieren”.

a) Zu den Grundfragen der Reichweite des Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV gehört seit jeher die Problematik, welche mitgliedstaatlichen Vorschriften als “Schutzbestimmungen” i.S. dieser Norm verstanden werden und welche Personenkreise neben den in dieser Norm ausdrücklich erwähnten “Gesellschaftern” als schutzwürdige “Dritte” angesehen werden können. Bedenkt man, dass diese Harmonisierungskompetenz ihrem Ursprung nach Gefährdungslagen bewältigen sollte, die durch die ungehinderte Ausübung der Niederlassungsfreiheit von und durch Gesellschaften im europäischen Binnenmarkt entstehen, so leuchtet es ein, dass in erster Linie die Interessen derjenigen Personen geschützt werden sollen, die von der rechtlichen Verselbstständigung von Gesellschaften und der damit einhergehenden Haftungsbeschränkung betroffen sind. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Kreditgeber der Gesellschaften, aber auch um Arbeitnehmer, Zulieferer oder weitere Vertragspartner. Eine Information der Öffentlichkeit über Steuerzahlungen von Unternehmen ist durch eine so verstandene Ermächtigungsnorm nicht gedeckt; die Problematik der Steuervermeidung besitzt letztlich auch keinen sachlichen Zusammenhang mit der Rechtsform eines Unternehmens (z.B. ihrer Verfasstheit als Kapitalgesellschaft).

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gibt dem europäischen Gesetzgeber indessen einen sehr weiten Spielraum, wenn es um die Schutzrichtung der nach Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV zu harmonisierenden Bestimmungen geht. In seinen Urteilen in den Rechtssachen Daihatsu20 und Axel Springer21 hat der Gerichtshof nicht nur dem Begriff des “Dritten” in Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV eine nahezu unbegrenzte Bedeutung gegeben, sondern auch aus der registerrechtlichen Öffentlichkeit der Bilanzpublizität den Schluss gezogen, dass im Bereich der unternehmerischen Rechnungsle-ZHR 185 (2021) S. 781 (786)gung keine strenge Fokussierung auf bestimmte schutzwürdige Gruppen existiert.22 Ob Konkurrenten, Journalisten oder NGOs – es kann sich nahezu jeder auf einen Anspruch auf Unternehmenspublizität berufen. Da verwundert es nicht, dass sich der Richtliniengeber23 nunmehr auch im Hinblick auf das öffentliche Country-by-Country Reporting auf diese breit ausgreifende Judikatur beruft.

b) Für die Anwendung des Art. 115 AEUV ist wiederum die Grenzziehung zur Binnenmarktkompetenz nach Art. 114 Abs. 1 AEUV erforderlich, die – wie oben erwähnt – eine Aussage darüber voraussetzt, welche Rechtsvorschriften als “Bestimmungen über Steuern” nach Art. 114 Abs. 2 AEUV gelten können. Eine enge Sicht auf diesen Carve-Out interpretiert den Vorbehalt als Sicherung der materiellen Steuerkompetenz der Mitgliedstaaten, mithin die Festlegung der steuerwürdigen Sachverhalte, der Bemessungsgrundlage oder des Steuertarifs.24 In zwei Grundlagenurteilen aus den Jahren 2004 und 2006 hat der Europäische Gerichtshof indessen ein weites Verständnis “steuerlicher” Vorschriften formuliert und auch verfahrensrechtliche Vorgaben zur Steuererhebung – namentlich zur Durchsetzung von Steuerforderungen – dem traditionellen Regime einstimmiger Beschlussfassung bei bloßer Anhörung des Europäischen Parlaments unterstellt.25 Versteht man das öffentliche Country-by-Country Reporting als einen Beitrag zur Durchsetzung von Steuerforderungen und zur Bekämpfung von Steuergestaltungen, so fällt es nicht schwer, dies dem umfassenden Normbereich der “Bestimmungen über Steuern” zuzuordnen und damit auf das besondere Gesetzgebungsverfahren nach Art. 115 AEUV zuzusteuern.

4. Akzeptiert man, dass der Europäische Gerichtshof einerseits den Tatbestand der “Schutzbestimmungen” i.S.d. Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV weit versteht und andererseits ein umfassendes Konzept der “Bestimmungen über Steuern” verfolgt, so wird deutlich, dass im Ausgangspunkt beide Vorschriften eine Veröffentlichungspflicht für Steuerdaten von großen Unternehmen begründen können. Vor diesem Hintergrund kommt es für die Wahl der Rechtsgrundlagen vor allem darauf an, welche konkreten Ziele und Inhalte der europäische Gesetzgeber mit seiner Maßnahme verfolgt.26

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Und genau hier – und dies lässt sich an der Entstehungsgeschichte der verabschiedeten Fassung präzise nachverfolgen – ist den europäischen Institutionen der klare Vorwurf zu machen, eine eindeutig steuerpolitisch motivierte Maßnahme durch bloßes “Labelling” in das Kleid des Unternehmensrechts gesteckt zu haben. Ganz offen begründete die finnische Ratspräsidentschaft im Jahre 2019 wesentliche Umformulierungen in der Präambel des Richtlinienvorschlags schlicht mit dem Ziel, den von einigen Ratsmitgliedern geltend gemachten Bedenken gegen die Anwendung von Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV Rechnung zu tragen – ohne hingegen den Regelungsinhalt des Richtlinienvorschlags abzuändern:

“It is the Presidency's view that amending these recitals by clarifying the aim and content of the proposal could alleviate concerns regarding the legal base of the proposal, and pave the way for further negotiations at the Council. Several delegations as well as the Council Legal Service also highlighted this approach at the Competitiveness Council as well as at Economic and Financial Affairs Council.”27

Die steuerpolitische Motivation wird nunmehr textlich heruntergespielt und die Idee der Unternehmenspublizität in den Vordergrund gestellt. Der manipulative Charakter der Maßnahmen ist schlagend. Man vergleiche nur den ersten Erwägungsgrund in der ursprünglich vorgeschlagenen und in der endgültig verabschiedeten Fassung. Die Ausgangsformulierung legte das Sachziel und den Kontext der Gesetzgebung unmissverständlich fest:

“In den letzten Jahren hat sich die Ertragssteuervermeidung zu einer erheblichen Herausforderung entwickelt und ist in der Union sowie weltweit in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. In seinen Schlussfolgerungen vom 18. 12. 2014 erkannte der Europäische Rat an, dass es dringend erforderlich ist, die Anstrengungen zur Bekämpfung von Steuerumgehung sowohl weltweit als auch auf Unionsebene weiter voranzubringen. (. . .)”28

Fünf Jahre später enthält dieser Einführungsabschnitt kein Wort mehr davon – stattdessen wird das gesetzgeberische Vorhaben in das Arbeitsprogramm der Union zur “Transparenz” eingestellt:

“Für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts ist Transparenz wesentlich. In ihren Mitteilungen vom 27. 10. 2015 mit dem Titel ‘Arbeitsprogramm der Kommission 2016 – Jetzt ist nicht die Zeit für Business as usual’ und vom 16. 12. 2014 mit dem Titel ‘Arbeitsprogramm der Kommission 2015 – Ein neuer Start’ erklärte es die Kommission zur Priorität, dem Ruf der Bürgerin-ZHR 185 (2021) S. 781 (788)nen und Bürger der Union nach Fairness und Transparenz zu folgen und die Union zum weltweiten Vorbild zu machen.”29

Nicht anders stellt sich der Vergleich der beiden Richtlinien-Fassungen dar, soweit es um die konkreten Informationsbedürfnisse geht, die durch die öffentliche steuerliche Berichterstattung gestillt werden sollen. Ging es in dem ursprünglichen Vorschlag noch darum, mit diesem Instrument die Steuerpflicht der Unternehmen gegenüber dem Staat zu aktualisieren, stehen in der abschließenden Version der Gesellschafter und die Öffentlichkeit als Informationsinteressenten im Vordergrund. Im Jahre 2016 formuliert die Kommission noch:

“Eine verstärkte öffentliche Kontrolle der Ertragsteuerbelastung von multinationalen Unternehmen, die in der Union tätig sind, ist unerlässlich, um Unternehmen stärker in die Verantwortung zu nehmen, durch Steuern zum Wohlstand beizutragen, durch eine sachkundigere Debatte einen faireren Steuerwettbewerb in der Union zu fördern und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fairness der nationalen Steuersysteme wiederherzustellen. Durch einen Ertragsteuerinformationsbericht kann eine solche öffentliche Kontrolle unabhängig davon erreicht werden, wo das obersten Mutterunternehmen der multinationalen Gruppe seinen Sitz unterhält.”30

Fünf Jahre später liest sich die entsprechende Passage in der Präambel wie aus einem Lehrbuch der Kapitalmarktinformation:

“Die öffentliche länderspezifische Berichterstattung ist ein wirksames und geeignetes Hilfsmittel, um die Transparenz der Tätigkeiten multinationaler Unternehmen zu erhöhen und der Öffentlichkeit zu ermöglichen, die Auswirkungen dieser Tätigkeiten auf die Realwirtschaft zu beurteilen. Sie verbessert auch die Fähigkeit der Aktionäre, die von Unternehmen eingegangenen Risiken zutreffend einzuschätzen, führt zu Anlagestrategien, die auf genauen Informationen beruhen, und verbessert die Fähigkeit von Entscheidungsträgern, die Effizienz und die Auswirkungen nationaler Rechtsvorschriften zu bewerten. (. . .).”31

Um ganz sicher im Feld des Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV zu landen, fühlt sich der Richtliniengeber weiterhin bemüßigt, den Kreis der privaten Informationsinteressenten möglichst breit zu definieren. Einen Anhaltspunkt hierfür bietet die Schutzrichtung, mit der die vorgesehene Gesamtverantwortung der Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorgane für die Erfüllung der neuen Offenlegungspflicht begründet wird. Während es in der Ausgangsfassung lediglich darum ging,

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“die Verantwortung gegenüber Dritten zu stärken und eine angemessene Unternehmensführung zu gewährleisten”32,

wird in der Endfassung das Ziel betont,

“die Transparenz und Verantwortung von Unternehmen gegenüber Anlegern, Gläubigern, anderen Dritten und der breiten Öffentlichkeit zu stärken und eine angemessene Unternehmensführung zu gewährleisten.”33

Und auch die Arbeitnehmerschaft wird wie von Zauberhand erstmals zur Zielgruppe der publizitätspflichtigen Steuerinformationen erhoben:

“Eine öffentliche länderspezifische Berichterstattung hat zudem wahrscheinlich (sic!) positive Auswirkungen auf die Rechte der Arbeitnehmer auf Information und Konsultation (. . .), sowie – durch Verbesserung der Kenntnisse über die Tätigkeiten von Unternehmen – auf die Qualität des Dialogs, der innerhalb der Unternehmen stattfindet.”34

In dieser schönen neuen Welt steuerlicher Informationspflichten werden sich nach der Vorstellung des Richtliniengebers alle Parteien wohlfühlen – mit Ausnahme des Fiskus, der wohlweislich keine Erwähnung mehr findet:

“Mehr Transparenz bei finanziellen Angaben wird Vorteile für alle mit sich bringen, da die Zivilgesellschaft stärker einbezogen wird, die Arbeitnehmer besser informiert werden und die Anleger eine geringere Risikoscheu haben. Außerdem werden Unternehmen von besseren Beziehungen zu Interessenträgern profitieren, was zu größerer Stabilität zusammen mit einem leichteren Zugang zur Finanzierung wegen klarerer Risikoprofile und einer gestärkten Reputation führen wird.”35

5. Besitzt dieser im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens vollzogene wundersame Wandel der nach außen formulierten Intention nun Auswirkungen auf den Inhalt des obligatorischen öffentlichen Ertragsteuerinformationsberichts? Davon kann keine Rede sein. Der neue Art. 48c der Bilanz-RL weicht in der Beschreibung der materiellen Berichtsinhalte so gut wie überhaupt nicht von seinem Wortlaut im ursprünglichen Richtlinienvorschlag ab. An diesem praktisch bedeutsamen Punkt endet der Versuch der europäischen Institutionen, eine steuerlich motivierte Regelung als Bestandteil des Unternehmensrechts zu camouflieren. Vielmehr zeigt sich im Detail die fortbestehende Verbindung zum Steuerrecht. So wird mit Selbstverständlichkeit den Unternehmen in Art. 48c der endgültigen Fassung gestattet, ihre neue Berichtspflicht dadurch zu erfüllen, dass sie die nach der Amtshilfe-RL für steuerliche Zwecke bei den Finanzbehörden einzureichenden Berichte inhaltsgleich für die InformationZHR 185 (2021) S. 781 (790) der Öffentlichkeit verwenden.36 Dass schließlich sowohl die vorgeschlagene als auch die verabschiedete Regelung zum öffentlichen Country-by-Country Reporting Wert darauf legen, Sonderangaben für die Geschäfts- und Steuerzahlen in Niedrigsteuergebieten zu machen, die ihrerseits im Rahmen der “EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke” aufgeführt sind,37 bestätigt den fortbestehenden dichten materiell-rechtlichen Konnex zwischen den steuerpolitischen Maßnahmen der Europäischen Kommission und dem neu eingeführten Ertragsteuerinformationsbericht.

6. Dass die europäischen Institutionen die in der Präambel niedergelegten Aussagen zur Intention dieser Gesetzgebung selbst nicht ernst nehmen, lässt sich schließlich plakativ daran erkennen, dass die europäische Einigung auf das öffentliche Country-by-Country Reporting der Öffentlichkeit letztlich mit rein steuerpolitischer Motivation präsentiert wird. Stolz verkündete der portugiesische Finanzminister die Einigung im Ministerrat im Juni 2021 mit den Worten:

“Es wird davon ausgegangen, dass den EU-Ländern durch die Steuervermeidung bei der Körperschaftsteuer und aggressive Steuerplanung großer multinationaler Unternehmen jährlich Einnahmen in Höhe von mehr als 50 Mrd. € entgehen. Diese Steuerpraktiken werden dadurch erleichtert, dass große multinationale Unternehmen nicht zur Berichterstattung darüber verpflichtet sind, in welchen Ländern der EU sie ihre Gewinne erzielen und ihre Steuern zahlen. In einer Zeit, in der unsere Bürgerinnen und Bürger mit den Auswirkungen der Pandemie zu kämpfen haben, ist es wichtiger denn je, eine aussagekräftige Transparenz der Finanzen in Bezug auf solche Steuerpraktiken zu verlangen. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle Wirtschaftsakteure ihren gerechten Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung leisten.”38

Dem möchte man nicht widersprechen. Doch desavouiert der Ratspräsident mit dieser Pressemeldung zugleich das angestrengte Bemühen der Richtlinienverfasser, die steuerliche Motivation der Maßnahme zu verschleiern. Wenn es um den Popularitätsgewinn europäischer Maßnahmen geht, lässt Brüssel die Hüllen fallen. Man schwankt als Leser, ob man dieses ehrliche Statement noch als naiv oder schon als dreist einordnen soll. Als Jurist aber weiß man, dass es zu den Grundsätzen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gehört, dass der europäische Gesetzgeber gehindert ist, Ermächtigungsgrundlagen des AEUV heranzuziehen, um den Ausschluss oder die Einschränkung von Harmonisierungsmaßnahmen im Rahmen bestimmter sachnaher Vor-ZHR 185 (2021) S. 781 (791)schriften des AEUV zu umgehen.39 Man wünscht sich, dass einer der im Rat unterlegenen Mitgliedstaaten den Mut und die Kraft aufbringt, die Anwendung dieses Missbrauchsvorbehalts auf die europäische Gesetzgebung zum “Ertragsteuerinformationsbericht” in Luxemburg gründlich prüfen zu lassen.

Wolfgang Schön

1

Rat der Europäischen Union, Interinstitutionelles Dossier 2016/0107(COD), Vermerk 12146/21 v. 28. 9. 2021.

2

Rat der Europäischen Union, Interinstitutionelles Dossier 2016/0107(COD), Gesetzgebungsakte und andere Rechtsinstrumente, Lex 2126: RL (EU) 2021/. . . des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.11.2021 zur Änderung der RL 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen (noch nicht im Amtsblatt).

3

Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 4. 2016 zur Änderung der RL 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen, COM(2016)198 final.

4

Zu den materiellen Fragen siehe (Auswahl) Noked, Tax Notes International v. 25. 6. 2018, S. 1501 ff.; Lagarden/Schreiber/Simons/Sureth-Sloane, 27 Transfer Pricing Journal (2020) 91 ff.; Johnston/Sadiq, 27 New Zealand Universities Law Review (2017) 569 ff.; Oguttu, 11 World Tax Journal (2020) 167 ff.; zur Verfassungsmäßigkeit aus deutscher Sicht siehe Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Öffentliche Country-by-Country Reports von Unternehmen: Welche rechtlichen Grenzen setzen das Steuer- und Geschäftsgeheimnis?, WD 4 – 3000 – 068/16, 2016.

5

Zweifelnd Schön in: ders., Tax and Corporate Governance, 2008, S. 31, 50 f.

6

Europäische Kommission (Fn. 3), Begründung, S. 4, Erwägungsgrund 12.

7

Zur Reichweite und Bedeutung Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, Rdn. 98; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2019, § 3 Rdn. 58 ff.; Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2018, Rdn. 2.5 ff.

8

Zur Entwicklung Schön/Osterloh-Konrad in: Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. II, 2009, S. 893 ff., Rdn. 80 ff.

9

Council of the European Union, Interinstitutional File 2016/0107(COD), Opinion of the Legal Service of 11th November 2016.

10

Europäisches Parlament, Bericht v. 21. 6. 2017 (A-8–0227/2017) über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der RL 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen. (COM(2016)0198 – C8–0146/2016 – 2016/0107(COD)).

11

Greive, “Widerstand der Bundesregierung gegen höhere Steuertransparenz bröckelt”, HB online vom 25. 10. 2019, abrufbar unter https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/druck-aus-bruessel-widerstand-der-bundesregierung-gegen-hoehere-steuertransparenz-broeckelt/25155854.html?ticket=ST-7157201–vPHTnlipGYAJE2UnF5fC-cas01.example.org.

12

Rat der Europäischen Union (Fn. 1), Abstimmungsergebnis; das Protokoll vermerkt Gegenstimmen von Schweden und Zypern sowie Enthaltungen von Tschechien, Irland, Luxemburg und Malta.

13

Rat der Europäischen Union (Fn. 2).

14

G20/OECD, Transfer Pricing Documentation and Country-by-Country Reporting, Action 13 – 2015 Final Report, abrufbar unter www.oecd.org.

15

G20/OECD (Fn. 14), Rdn. 44 f.

16

RL (EU) 2016/881 des Rates vom 25. 5. 2016 zur Änderung der RL 2011/16/EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. EU v. 13. 6. 2016 Nr. L 146, S. 8; zur Umsetzung in Deutschland siehe § 138a AO.

17

Rat der Europäischen Union (Fn. 2), Erwägungsgrund 22; Europäische Kommission (Fn. 3), Begründung, S. 3.

18

Näher Europäische Kommission, Review of country-by-country requirements for extractive and logging industries, Final Report, 2018.

19

Art. 89 RL 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 6. 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der RL 2002/87/EG und zur Aufhebung der RL 2006/48/EG und 2006/49/EG, ABl. EU v. 27. 6. 2013 Nr. L 176, S. 338; siehe dort Erwägungsgrund 52: “Mehr Transparenz hinsichtlich der Tätigkeiten der Institute und insbesondere hinsichtlich ihrer Gewinne, der Steuern, die sie zahlen, und der ihnen gewährten Beihilfen ist entscheidend dafür, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger der Union in die Finanzbranche wiederherzustellen. Berichts- bzw. Meldepflichten in diesem Bereich können daher als wichtiges Element der Verantwortung der Institute gegenüber den Interessenträgern und der Gesellschaft betrachtet werden.”

20

EuGH v. 4. 12. 1997, Rs. C-97/96 (Daihatsu Deutschland), Slg. 1997, I-6843 ff.; EuGH v. 29. 9. 1998, Rs. C-191/95 (Kommission ./. Deutschland), Slg. 1998, I-5449 ff.

21

EuGH v. 23. 9. 2004, verb. Rs. C-435/02 und C-103/03 (Axel Springer), Slg. 2004, I-8663.

22

Grundsatzkritik bei Schön in: ders., Rechnungslegung und Wettbewerbsschutz im deutschen und europäischen Recht, 2009, S. 563, 566 ff.

23

Rat der Europäischen Union (Fn. 2), Erwägungsgrund 22.

24

So die Position der Kommission in den nachfolgend zitierten Verfahren.

25

EuGH v. 29. 4. 2004, Rs. C-338/01 (Kommission ./. Rat), Slg. 2004, I-4829; EuGH v. 26. 1. 2006, Rs. C-533/03 (Kommission ./. Rat), Slg. 2006, I-1025.

26

EuGH v. 29. 4. 2004, Rs. C-338/01 (Kommission ./. Rat), Slg. 2004, I-4829, Rdn. 54; EuGH v. 26. 1. 2006, Rs. C-533/03 (Kommission ./. Rat), Slg. 2006, I-1025, Rdn. 43; EuGH v. 8. 9. 2009, Rs. C-411/06 (Parlament ./. Rat), Slg. 2009, I-7585, Rdn. 45; EuGH v. 19. 7. 2012, Rs. C-130/10 (Parlament ./. Rat), ECLI:EU:C:2012:472, Rdn. 42; EuGH v. 6. 5. 2014, Rs. C-43/12 (Kommission ./. Parlament und Rat), ECLI:EU:C:2014:298, Rdn. 29.

27

Council of the European Union, Interinstitutional File 2016/0107(COD), Information from the Presidency of 20th December 2019, 15285/19.

28

Europäische Kommission (Fn. 3), Erwägungsgrund 1.

29

Europäische Kommission (Fn. 3), Erwägungsgrund 1.

30

Europäische Kommission (Fn. 3), Erwägungsgrund 5.

31

Rat der Europäischen Union (Fn. 2), Erwägungsgrund 3.

32

Europäische Kommission (Fn. 3), Erwägungsgrund 19.

33

Rat der Europäischen Union (Fn. 2), Erwägungsgrund 19.

34

Europäische Kommission (Fn. 3), Erwägungsgrund 4.

35

Rat der Europäischen Union (Fn. 2), Erwägungsgrund 8.

36

Art. 48c Abs. 3 der Bilanz-RL in der Fassung der Änderungs-RL (Fn. 2); siehe auch dort Erwägungsgrund 14.

37

Europäische Kommission (Fn. 3), Erwägungsgrund 13; Rat der Europäischen Union (Fn. 2), Erwägungsgrund 17.

38

Abrufbar unter https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2021/06/01/public-country-by-country-reporting-by-big-multinationals-eu-co-legislators-reach-political-agreement/.

39

EuGH v. 5. 10. 2000, Rs. C-376/98 (Deutschland ./. Parlament und Rat), Slg. 2000, I-8419, Rdn. 79.

 
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