Das Insolvenzrecht mischt sich ein
I. Ein Thema für die ZHR?
Kennen Sie, liebe Leser dieses Hefts, die „Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht“? Vielleicht werden Sie staunen, wenn Sie nun lesen: Sie haben sie in der Hand, denn genau dies war von Band 60 (1907) bis Band 123 (1960) der Name von „GoldschmidtsZ“1, die wir heute als „Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht“ edieren, lesen und zitieren. Mehr als ein Drittel ihrer stattlichen 152 Jahre2 hat die ZHR als „Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht“ durchlebt, bis ihr Kurt Ballerstedt und Ernst Steindorff als damals neue Schriftleiter im Jahr 1961 ihren heutigen, bewahrenswürdigen Namen gaben. Sie taten dies ausdrücklich nicht, um „konkursrechtliche Fragen aus dem Arbeitsgebiet der Zeitschrift ganz auszuscheiden“3. Aber sie ließen unter gleichzeitiger Hervorhebung des gesamten Wirtschaftsrechts doch den Anspruch fallen, „neben dem gesamten Handelsrecht auch das Konkursrecht planmäßig pflegen zu wollen …, weil sie damit in das bürgerliche und das Vollstreckungsrecht allzu weit hinübergreifen würden“4. Das entsprach der praktischen und entsprach noch entschiedener auch der akademischen Arbeitsteilung jener Tage. Handelsrecht, Gesellschaftsrecht und Insolvenzrecht (Konkursrecht) liefen weithin blind nebeneinander her. Und während sich die Ersteren immer stärker durch unternehmensrechtliche Verklammerung zusammengeführt5 und durch ein aus makropolitischen Dimensionen erwachsenes, rechtlich interdisziplinäres Wirtschaftsrecht6 überwölbt sahen, war das Konkursrecht nahezu voll¬
II. Insolvenzordnung und Unternehmensrecht
Die Insolvenzordnung von 1994, in Kraft seit 1999, war von hier schon ein Schritt auf dem Weg zu einem Insolvenzrecht der Unternehmen. § 1 spricht vom „Erhalt des Unternehmens“, § 11 von der Insolvenzrechtsfähigkeit auch der Gesellschaften, § 15 von den Antragsrechten bei insolventen Gesellschaften, und bei dem Insolvenzgrund der Überschuldung stellt § 19 InsO auf das Unternehmen und nicht auf das Vermögen als bloße Gesamtvollstreckungsmasse ab. Von einem durchgebildeten Unternehmens-Insolvenzrecht war gleichwohl nicht zu sprechen. So blieb charakteristisch, dass der InsO-Gesetzgeber die Insolvenzantragspflichten sowie die Nachrangigkeit von Gesellschafterdarlehen nicht in sein kodifikatorisch verstandenes Werk aufnahm. Darauf mussten wir bis 2008, nämlich bis zum MoMiG, warten.
Nicht behoben wurde auch ein anderes, gleichfalls aus dem exekutorischen Denken herrührendes Defizit der geltenden Insolvenzgesetze: Während die Löschung vermögensloser Gesellschaften (§§ 262 Abs. 1 Nr. 6, 264 Abs. 2 AktG, §§ 60 Abs. 1 Nr. 7, 66 Abs. 5 GmbHG, §§ 131 Abs. 2 Nr. 2, 145 Abs. 3 HGB) mit dem Gesellschafts- und Insolvenzrecht in Einklang zu bringen ist16 – die Akten gehören danach in die Hand der Staatsanwaltschaft! –, ist es in Fällen einer vorhandenen, indes für ein Insolvenzverfahren zu geringen Masse bei dem unbefriedigenden Sachstand geblieben, dass das Insolvenzrecht diese Fälle an das für ihre Bewältigung vollkommen ungeeignete gesellschaftsrechtliche Liquidationsrecht zurückgibt (§ 262 Abs. 1 Nr. 4 AktG, § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG, § 131 Abs. 2 Nr. 1 HGB, § 81a Nr. 1 GenG). Seither ist die Abwicklung masseloser Gesellschaften ein Musterbeispiel für ein in Fällen extremer Insolvenz überfordertes, für diese Fälle auch nicht geschaffenes Unternehmensrecht.
Als wissenschaftliche Disziplinen – und durchaus mit praktischer Wirkung – aber haben sich Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht in den vergangenen Jahrzehnten dann doch aufeinander zubewegt. Der Lernprozess fand allerdings in erster Linie auf der Insolvenzrechtsseite statt.17 Hier musste über die Binnenverfassung insolventer Gesellschaften, über Verwalterbefugnisse und über das Verhältnis zwischen Gläubiger- und Gesellschafterversammlungen
III. Das Verhältnis der Rechtsdisziplinen: auch eine praktische und rechtspolitische Lehrstunde
Man darf sich die Abgrenzung und Verzahnung der Rechtsdisziplinen nicht einfach vorstellen. Nicht jedes Finanzierungs- oder Leitungsproblem in „Distressed Firms“18 ist deshalb rein unternehmensrechtlich, weil es der Insolvenzverfahrenseröffnung vorausgeht. Nicht jedes dieser Probleme ist, nur weil es nach der Verfahrenseröffnung auftritt, rein insolvenzrechtlicher Art. Bis hin zu der kollisionsrechtlichen Anknüpfung19 wirft die wechselseitige Durchdringung beider Rechtsgebiete Fragen auf, die von Land zu Land, ja selbst innerhalb desselben Rechts unterschiedlich beantwortet werden: Ist Durchgriffshaftung ein Insolvenzrechtsproblem20? … oder die Nachrangigkeit von Gesellschafterdarlehen21? … oder das Verbot, auf Kosten der Gläubiger ein materiell insolventes Unternehmen weiterzuführen22, was in deutscher Perspektive bedeutet: Ist die sog. Insolvenzantragspflicht eine auf Selbstprüfung der Unternehmen zielende Governance-Regel23 oder eine Insolvenzrechtsregel24? Die wechselseitige Überblendung der Rechtsgebiete im Grenzbereich zwischen „Corporate Governance“ und „Bankruptcy Governance“25 bringt hybride Rechtsregeln zutage, macht deren eindeutige Zuweisung zu den tradierten Rechtsdisziplinen schwierig und führt auch in der Rechtsanwendung zu Wechselwirkungen. Das Unternehmensrecht bekommt deren praktische und rechtspolitische Folgen immer stärker zu spüren.
IV. MoMiG und anstehende Insolvenzrechtsnovelle
Jüngst hat bekanntlich das „MoMiG“ erheblich zur Einmischung des Insolvenzrechts in unternehmensrechtliche Belange beigetragen. Dieses Reformgesetz zeigt allerdings auch, welch unterschiedliche Bedeutung eine Verlagerung gesellschaftsrechtlicher Regeln in das Insolvenzrecht haben kann. Die Verlagerung der deutschen „wrongful trading“-Bestimmungen aus den Gesellschaftsgesetzen (§ 92 Abs. 2 AktG a.F., § 64 Abs. 1 GmbHG a.F., § 130a Abs. 1 HGB a.F., § 99 GenG a.F.) in den § 15a InsO ist ihrem Ansatz nach kein schwergewichtiges Resultat eines geläuterten Grundverständnisses über die Rechtsnatur der „Insolvenzantragspflichten“.26 Sie ist nicht mehr, jedoch auch nicht weniger als eine rechtsformneutrale Neuregelung mit teils redaktioneller, teils auch (im Blick auf Auslandsgesellschaften) rechtspolitischer Intention.27 Dagegen hat das neue Recht der Gesellschafterdarlehen (§§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 44a, 135, 143 Abs. 3 InsO), verbunden mit der vieldiskutierten gesellschaftsrechtlichen „Nichtanwendungsregel“ des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG, echte Verdrängungseffekte:28 Der Gesetzgeber hat mit dem Verbot der Anwendung des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes auf Kredite aus Gesellschafterhand eine ganze Rechtsprechungstradition schlicht vom Tisch gewischt.29 Regeln für ordnungsmäßige Unternehmensfinanzierung lassen sich seither aus dem Recht der Gesellschafterdarlehen nur mehr im Vorgriff auf mögliche Insolvenzrisiken ableiten. Aus gelebten und jahrzehntelang exekutierten Finanzierungsregeln ist eine bloße Vorwirkung des Insolvenzrechts geworden. Dessen Verdrängungseffekte werden bis hinein in das Gerichtsverfassungsrecht spürbar. Die Anwendung und Fortbildung des Rechts der Gesellschafter-Fremdfinanzierung liegt nach dem neuen Recht nicht mehr beim Zweiten, sondern beim Neunten Zivilsenat des Bundesgerichtshofs und dürfte in Zukunft vom Denken in Insolvenzanfechtungskategorien beherrscht sein. Nicht zuletzt deshalb wird sich vieles ändern, und nicht zuletzt deshalb verdienten insolvenzrechtliche Regeln und Entscheidungen neue Aufmerksamkeit in der Praxis und Theorie des Unternehmensrechts.
Zu einem regelrechten Wettbewerb zwischen genuin unternehmensrechtlichen und insolvenzrechtlichen Ansätzen wird die durch den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien30 ausgelöste Diskussion um die Verbesserung der Be¬
V. Ausblick
Wie immer die Zukunft des Insolvenzrechts aussehen mag, verdient doch zweierlei unsere Aufmerksamkeit: sowohl die zunehmende Interferenz beider Rechtsdisziplinen als auch das Grundsatzbekenntnis, jeder von ihnen ihr eigenes Terrain zu belassen. Leser und Herausgeber der ZHR werden (um mit dem zweiten Punkt zu beginnen) nicht ernsthaft an eine Fortsetzung im Geist einer „Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Insolvenzrecht“45 denken. Nicht ohne Folgen bleibt aber der erste Punkt. Nachdem sich die Insolvenzrechtspraxis und -literatur, soweit nicht auf Verbraucherinsolvenzen spezialisiert, an eine sorgsame Befassung mit Unternehmensrechtsfragen gewöhnen musste, wird umgekehrt auch das Unternehmensrecht nicht mehr achtlos an Insolvenzrechtsentwicklungen vorbeigehen können.
Karsten Schmidt
1 | Diese Bezeichnung entsprach im 19. Jahrhundert der Zitierungsusance, war aber niemals offizieller Name der ZHR. |
2 | Zum 150. Jubiläum im Jahr 2008 vgl. das Heft 5/6 in Band 172 mit Beiträgen zur ZHR-Geschichte von Wolfgang Schön, ZHR 172 (2008) 504ff.; Karsten Schmidt, ZHR 172 (2008) 507ff.; Brigitte Zypries, ZHR 172 (2008) 510ff. und Wulf Goette, ZHR 172 (2008) 514ff. |
3 | Steindorff/Ballerstedt, ZHR 124 (1962) 1. |
4 | Ebd., S. 4. |
5 | Nachweise bei MünchKommHGB/Karsten Schmidt, 2. Aufl. 2005, vor § 1 Rdn. 5ff. |
6 | Vgl. zur Entwicklung des Wirtschaftsrechts Steindorff, Einführung in das Wirtschaftsrecht der Bundespolitik Deutschland, 1977, S. 8ff.; Nörr, ZHR 172 (2008) 522, , 527ff.; Karsten Schmidt, AcP 206 (2006), 169, 176ff.; zum Inhalt des Wirtschaftsrechts vgl. Ludwig Raiser, ZHR 143 (1979) 338f.; Martens, AB 1967, 62. |
7 | Charakteristisch noch Jauernig, Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrecht, 21. Aufl. 1999, S. 173. |
8 | Vgl. Henckel, FS Merz, 1992, S. 197ff.; ein bemerkenswert positives Beispiel war, gemessen am damaligen Stand, Friedrich Weber, in: Jaeger, Konkursordnung, 8. Aufl., Bd. II/2 1973 (§§ 207ff. KO). |
9 | Konkursordnung vom 10. 2. 1877, RGBl. S. 351. |
10 | Dies war 1978 durch Bundesjustizminister Vogel geschehen. |
11 | BGH KTS 1980, 122 = NJW 1980, 55. |
12 | Charakteristisch und zeitgemäß noch die knappen Hinweise auf §§ 207, 208 KO bei Wiedemann in: Hopt/Wiedemann (Hrsg.), Großkommentar zum AktG, 3. Aufl. 1973, § 262 Rdn. 21ff. |
13 | Vgl. über die Entwicklung in Argentinien, Spanien, Frankreich und Italien etwa Dasso, Derecho Concursal Comparado, 2008, Bd. I, S. 117ff., 493ff., Bd. II, S. 805ff., 908ff. |
14 | Vgl. Hahn, Materialien zur Konkursordnung, 1881, S. 41f.; Kohler, Leitfaden des deutschen Konkursrechts, 2. Aufl. 1903, S. 173. |
15 | Eingehend Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen, 1990, passim. |
16 | Der Doppeltatbestand aus Vermögenslosigkeit und Löschung im Handelsregister führt zum Erlöschen der Gesellschaft. |
17 | Charakteristisch etwa Gehrlein, Limmer, Undritz, Henssler, Bork, Ehricke und Heckschen in: Wrobel-Sachs (Hrsg.), Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 3. Aufl. 2009, S. 1140ff. |
18 | Vgl. Armour/Hertig/Kanda in: Kraakmann et al. (Hrsg.), The Anatomy of Corporate Law, 2. Ed. 2009, S. 134ff. |
19 | Dazu etwa MünchKommBGB/Kindler, 3. Aufl. 1999, IntGesR Rdn. 482ff. |
20 | Angaben bei Ferran, Corporate Finance Law, 2008, S. 16ff.; Merkt/Göthel, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2006, Rdn. 405ff. |
21 | Vgl. Merkt/Göthel (Fn. 20), Rdn. 405ff. |
22 | Schilling, ECFR 2010, 116, 126ff.; über das Verhältnis zwischen „wrongful trading“ und „Insolvenzantragspflichten“ vgl. Karsten Schmidt in: Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaften in Europa, 2006, S. 188, 198ff. |
23 | Dazu Scholz/Karsten Schmidt, GmbHG, 10. Aufl. 2010, Anh. § 64 Rdn. 3. |
24 | So für die h.M. Casper in: Ulmer/Habersack/Winter (Hrsg.), Großkommentar zum GmbHG, 2006, § 64 Rdn. 33. |
25 | Hierüber Schilling, ECFR 2010, 116ff. |
26 | In dieser Richtung allerdings BegrRegE MoMiG, BT-Drs. 16/6140, S. 55, wo mit Recht auf die positivistische und ganz anspruchsorientierte Einordnung der „action en comblement de passif“ der Haftung für „wrongful trading“ hingewiesen wird. |
27 | Diese durch den Hinweis auf die systematische Einordnung kaum verdeckte rechtspolitische Strategie ist unverkennbar; vgl. BegrRegE MoMiG, BT-Drs. 16/6140, S. 55. |
28 | Eingehend Habersack in: Goette/Habersack (Hrsg.), Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, S. 159ff. |
29 | Dazu Goette, Einführung in das neue GmbH-Recht, 2008, Einf. Rdn. 57ff. |
30 | www.cdu.de/doc/pdfc/091026–koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf, S. 18. |
31 | Zur Neutralität der Insolvenzordnung gegenüber Gesellschaftern vgl. BegrRegE InsO, BT-Drs. 12/2443, S. 75f.; Hans-Friedrich Müller, Der Verband in der Insolvenz, 2002, S. 318ff. |
32 | Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, 1985, Rdn. 2, 4, 9ff. |
33 | Ausführlich Westpfahl/Janjuah, ZIP 2008, 1, 14. |
34 | Vgl. zuletzt Bork, ZIP 2010, 397, 407f.; Eidenmüller, ZIP 2010, 649, 657; ausführlich demnächst Undritz, Bitter, Hirte, Jaffé, Verse und Schuster, ZGR 2010, Heft 2/3. |
35 | Westpfahl/Janjuah, ZIP 2008, 1, 13f. |
36 | Angaben bei Eidenmüller/Engert, ZIP 2008, 541, 542. |
37 | Dazu Mayson/French/Regan, Company Law, 2007–2008, S. 644ff.; Windsor/Müller-Seils/Burg, NZI 2007, 7ff. |
38 | Näher Dammann, NZI 2009, 502ff. |
39 | Dazu Arlt, ZInsO, 2009, 1081, 1085ff. |
40 | Vgl. die Diskussion von Jacoby und Streit (pro) sowie Hirte und Karsten Schmidt (contra) in DB Standpunkte (Beilage zu DB 2010, Heft 13). |
41 | Auch hierzu Dammann, NZI 2009, 502, 503. |
42 | Zuletzt auch hierzu Eidenmüller, ZIP 2010, 649, 654ff.; ausführlich demnächst Jacoby und Westpfahl, ZGR 2010, Heft 2/3. |
43 | Vgl. auch Karsten Schmidt, DB Standpunkte (Beilage zu DB 2010, Heft 13), S. 27f. |
44 | BGH NJW 2010, 65 = ZIP 2009, 2289. |
45 | Der ZIP ist es bekanntlich und einleuchtenderweise anders herum gegangen: Als „Zeitschrift für Insolvenzpraxis“ gegründet, mauserte sie sich nach drei Jahren zur „Zeitschrift für Wirtschaftsrecht“. |