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ZHR 179 (2015), 1-8
Mayen 

Anlegerschutz ist (auch) öffentliches Recht!

Das Kapitalmarktrecht ist nicht nur zivil- und gesellschaftsrechtlich, sondern in bedeutendem Umfang auch öffentlich-rechtlich geregelt. Dies findet indessen nicht nur in der zivilrechtlichen, sondern auch in der öffentlich-rechtlichen Judikatur und im Schrifttum nicht immer die erforderliche Beachtung. Die Diskussion um den Schutz der Minderheitsaktionäre einer Aktiengesellschaft beim sog. Delisting von Aktien, die zum Börsenhandel am regulierten Markt einer Börse zugelassen sind, ist hierfür ein beredtes Beispiel. Obschon im Börsengesetz – anders als im Gesellschaftsrecht – seit 1998 eine (öffentlich-rechtliche) gesetzliche Regelung über das Delisting existiert, dominiert die Rechtsprechung der Zivilgerichte zum gesellschaftsrechtlichen Anlegerschutz, die ihrerseits freilich – bis heute – auf ungesicherten Annahmen über die Reichweite und Leistungsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Anlegerschutzes beruht. Das Beispiel zeigt einmal mehr, wie sehr es nottut, sich über Bedeutung und Stellenwert des öffentlichen Rechts für das Wirtschaftsrecht Klarheit zu verschaffen. In der Praxis, vor allem aber in der (Verwaltungsrechts-)Wissenschaft wird dies bisher leider vernachlässigt. Folgende Anmerkungen wollen insofern als Impuls für eine intensivere künftige Diskussion verstanden werden:

I. Seit dem Dritten Finanzmarktförderungsgesetz vom 24. 3. 19981 hat der Gesetzgeber das sog. freiwillige Delisting von Wertpapieren im Börsengesetz (BörsG) geregelt. Der durch Art. 1 Nr. 17b des Gesetzes eingefügte § 43 Abs. 4 BörsG findet sich mit nur geringen Abweichungen im Wortlaut auch in dem heute geltenden § 39 Abs. 2 BörsG wieder, der auf das Börsengesetz in der Fassung des Gesetzes vom 16. 7. 20072 zurückgeht. Danach kann die Geschäftsführung der Börsen die Zulassung von Wertpapieren zum Handel im regulierten Markt widerrufen (§ 39 Abs. 2 S. 1 BörsG); der Widerruf darf aber „nicht dem Schutz der Anleger widersprechen“ (§ 39 Abs. 2 S. 2 BörsG). Der Zeitraum zwischen der Veröffentlichung und der Wirksamkeit des Widerrufs darf zwei Jahre nicht überschreiten (§ 39 Abs. 2 S. 3 BörsG). Nähere Bestimmungen über den Widerruf sind in der Börsenordnung zu treffen (§ 39 Abs. 2 S. 4 BörsG). Auch wenn diese Vorgaben zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten und auch im Übrigen vieles offenlassen (namentlich was die Voraussetzungen für die Eröffnung des Widerrufsermessens angeht sowie das Verhältnis des Absatzes 2 zu der Regelung über den Widerruf von Amts we¬ZHR 179 (2015) S. 1 (2)gen nach § 39 Abs. 1 BörsG), hat sich der Gesetzgeber hier doch immerhin der Frage des Anlegerschutzes angenommen, und zwar in Gestalt öffentlichrechtlicher Bestimmungen. Das Aktienrecht enthält hingegen bis heute keine Regelung über Voraussetzungen und Zulässigkeit eines Delisting und namentlich über den Schutz der Minderheitsaktionäre; hier geht es darum, ob im Wege der Analogie aus bestehenden Vorschriften zum Schutz der Anleger ein Beschluss der Hauptversammlung und zusätzlich auch ein Barabfindungsangebot des Mehrheitsaktionärs oder der Gesellschaft abgeleitet werden kann.3

II. Bei der Rechtsprechung fällt der Befund genau entgegengesetzt aus. Während die Verwaltungsgerichte weder die Voraussetzungen eines freiwilligen Delisting noch den Umfang des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes der Aktionäre gegen einen Widerruf der Börsenzulassung ihrer Aktien bisher höchstrichterlich geklärt haben4 und auch die instanzgerichtlichen Entscheidungen über vereinzelte Judikate nicht hinausgehen5, haben sich die Zivilgerichte dem gesellschaftsrechtlichen Anlegerschutz gegenüber einem freiwilligen Delisting ungleich stärker angenommen; die diesbezügliche (auch höchstrichterliche) Spruchtätigkeit beruht (auch) auf Prämissen über Umfang und Leistungsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Anlegerschutzes vor einem Delisting.

1. Dies beginnt in der sog. Macrotron-Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25. 11. 2002, in der der II. Zivilsenat im Wege einer Gesamtanalogie zu gesellschaftsrechtlichen Regelungen entschieden hatte, der aktienrechtlich gebotene Schutz der Minderheitsaktionäre könne nur durch einen Hauptversammlungsbeschluss und darüber hinaus ein Pflichtangebot des Mehrheitsaktionärs oder der Gesellschaft über den Kauf ihrer Aktien erreicht werden.6 Dieser Rechtsprechung lag die (öffentlich-rechtliche) Prämisse zugrunde, der verfassungsrechtliche Schutz des Anteilseigentums durch Art. 14 Abs. 1 GG verlange, dass den Minderheitsaktionären im Falle eines Delisting der volle Verkehrswert ihrer Aktien ersetzt werde, der diesen aufgrund der bisherigen Zulassung zum Börsenhandel im regulierten Markt zukomme.7 Da dies weder durch das Börsengesetz noch durch die auf seiner Grundlage erlassenen Börsenordnungen sichergestellt werde, gewährleiste der öffentlich-rechtliche An¬ZHR 179 (2015) S. 1 (3)legerschutz keinen hinreichend wirksamen gesellschaftsrechtlichen Minderheitenschutz und müsse damit von Verfassungs wegen ergänzt werden.8

Diese öffentlich-rechtliche Prämisse hat inzwischen das Bundesverfassungsgericht korrigiert.9 Es hat klargestellt, dass der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt – anders als der Bundesgerichtshof noch angenommen hatte – gar nicht erst den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts des Aktionärs berühre, so dass es auch nicht darauf ankomme, ob und unter welchen Voraussetzungen der Widerruf durch die Schranken des Eigentumsgrundrechts gerechtfertigt sein könne.10 Dies schließe es allerdings nicht aus, dass der BGH einfachrechtlich im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung ein Pflichtangebot des Mehrheitsaktionärs oder der Gesellschaft fordere.11

2. In der Sache musste man die letztgenannte Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts als ausgestreckte Hand in Richtung Bundesgerichtshof begreifen. Umso überraschender mutet es an, dass der BGH diese Hand nicht ergriffen hat. In der sog. Frosta-Entscheidung vom 8. 10. 2013 hat der II. Zivilsenat seine Rechtsprechung zum aktienrechtlichen Anlegerschutz vielmehr aufgegeben und entschieden, bei einem Widerruf der Zulassung von Aktien zum Handel im regulierten Markt auf Veranlassung der Gesellschaft bedürfe es weder eines Beschlusses der Hauptversammlung noch eines Barabfindungsangebots der Gesellschaft bzw. des Mehrheitsaktionärs.12 Hierbei hat der Bundesgerichtshof auch seine frühere Annahme zur Leistungsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Anlegerschutzes korrigiert: Es lasse sich nicht feststellen, dass der durch § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG gewährleistete Schutz vor den tatsächlichen Beeinträchtigungen der Verkehrsfähigkeit durch den vollständigen Rückzug von der Börse oder den Wechsel in andere Börsensegmente durch das Börsengesetz unzureichend und darüber hinaus gesellschaftsrechtlich ein Barabfindungsgebot erforderlich sei.13 Insoweit stützt sich der Bundesgerichtshof erneut auf eine öffentlich-rechtliche Prämisse, nämlich die Annahme, einem möglicherweise unzureichenden Schutz der Anleger in der Verwaltungspraxis der Börsen könne mit verwaltungsrechtlichen Mitteln begegnet werden, da § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG „ausreichende Ansatzpunkte für einen angemessenen, mit Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Widerruf der Zulassung durchsetzbaren Schutz der Aktionäre“ biete.14 Insoweit sei eine Ergänzung durch einen zivilrechtlichen Anspruch der Anleger nicht schon deshalb veranlasst, weil „ein individuell durchsetzbarer Anspruch für sinnvoll oder effektiver gehalten“ werde.15

ZHR 179 (2015) S. 1 (4)

III. In beiden Fällen müssen die öffentlich-rechtlichen Annahmen, auf die der Bundesgerichtshof seine (im Ergebnis divergierenden) Entscheidungen jeweils stützt bzw. gestützt hat, (mindestens) als nicht gesichert bezeichnet werden.

1. Für die verfassungsrechtliche Prämisse der Macrotron-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die öffentlich-rechtliche Fehleinschätzung des Bundesgerichtshofs in aller Deutlichkeit aufgedeckt. Die Einwände sind aus der grundrechtlichen Perspektive nicht überraschend. Sie ergeben sich aus der überkommenen Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts. Zwar schützt Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG das in der Aktie verkörperte Anteilseigentum. Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist aber nur dann betroffen, wenn der Aktionär seine in der Aktie verkörperte Rechtsposition verliert oder diese in der Substanz verändert wird. Der bloße Vermögenswert des Aktieneigentums und der Bestand einzelner wertbildender Faktoren, insbesondere solcher, die die tatsächliche Verkehrsfähigkeit einer Aktie steigern, sind hingegen grundrechtlich durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG nicht geschützt; denn insoweit handelt es sich nur um wirtschaftliche Chancen und Risiken, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht an der eigentumsmäßigen Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG teilhaben.16 Daraus folgt zwanglos: Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums umfasst grundsätzlich auch „nicht den wertbildenden Effekt marktregulierender und unternehmensbezogener Vorschriften des Aktien- und des Börsenrechts, die nach der Zielsetzung des Gesetzgebers Transparenz schaffen und in Ansehung der wirtschaftlichen Macht großer börsennotierter Aktiengesellschaften sowie ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung auch der Missbrauchsprävention und dem Wohl der Allgemeinheit dienen sollen. Auch wenn sie der Gesellschaft und ihren Organen Pflichten auferlegen oder Rechte einräumen, die mittelbar auch für den einzelnen Aktionär oder für die Gesamtheit der potentiellen Anleger von Nutzen sein mögen, werden sie dadurch nicht zum Schutzgegenstand des Art. 14 Abs. 1 GG.“17

2. Aus öffentlich-rechtlicher Sicht nicht hinreichend gesichert ist auch die Erwägung in der Frosta-Entscheidung, § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG biete ausreichende Ansatzpunkte für einen Anlegerschutz, der für den einzelnen Anleger mit Widerspruch und Anfechtungsklage durchsetzbar sei.

Dies betrifft zunächst die Begründung. Der Bundesgerichtshof stützt sich weder auf eine eigene rechtliche Auslegung des § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG noch auf eine existierende oder gar gesicherte Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu dieser Vorschrift. Maßgebliche Erkenntnisgrundlage für den Bundesgerichtshof ist offenbar allein die Sachverhaltsschilderung des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 11. 7. 2012. Daraus ergibt sich, dass der 8. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts offenbar in seiner Stel¬ZHR 179 (2015) S. 1 (5)lungnahme zu den dortigen Verfassungsbeschwerden die Aussage getroffen hatte, die Vorschrift biete ausreichende Ansatzpunkte für einen angemessenen, mit Widerspruch und Anfechtungsklage durchsetzbaren Schutz der betroffenen Aktionäre gegen den Widerruf der Zulassung der Wertpapiere zum Börsenhandel.18 Allerdings hatte das Bundesverwaltungsgericht offenbar auch darauf hingewiesen, dass seine Stellungnahme nicht auf einer höchstrichterlichen Rechtsprechung beruht.19 Welche Gründe das Bundesverwaltungsgericht zu seiner Einschätzung bewogen haben, bleibt daher offen.20 Fazit: Der Bundesgerichtshof hat sich auf die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts gleichsam „vom Hörensagen verlassen“ und keine eigenständige rechtliche Deduktion des § 39 Abs. 2 BörsG vorgenommen. Dies überrascht!

Dies gilt umso mehr, als die Annahme, der Schutz der betroffenen Aktionäre durch § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG sei mit Widerspruch und Anfechtungsklage durchsetzbar, keinesfalls über jeden Zweifel erhaben ist. Im Gegenteil. Dies zeigen erste verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zu § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG. So hat das VG Frankfurt a.M. in einem Beschluss vom 25. 3. 2013 den Eilantrag eines Minderheitenaktionärs gegen einen Widerruf der Börsenzulassung schon mangels Antragsbefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) abgelehnt. Die hierfür angeführten Gründe sind beachtlich: Da der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt nicht den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts berühre und der Anleger auch nicht als Adressat der Widerrufsentscheidung in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG betroffen sei, besteht die erforderliche Klagebefugnis für eine Drittanfechtungsklage gegen eine Widerrufsentscheidung nur dann, wenn § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG drittschützend wäre. Hiergegen wiederum spricht, dass die Geschäftsführung der Börse die ihr nach diesem Gesetz zugewiesenen Aufgaben und Befugnisse nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt: § 15 Abs. 6 BörsG. Zu diesen „Aufgaben und Befugnissen“ zählt auch der Widerruf der Zulassung nach § 39 BörsG, so dass insofern eine drittschützende Wirkung dieser Vorschrift schon nach Wortlaut und gesetzessystematischer Stellung des § 39 Abs. 2 BörsG im Gesamtgefüge des Börsengesetzes ausscheidet.21 Hierfür kann sich das Verwaltungsgericht auch auf die Entstehungsgeschichte des Börsengesetzes berufen. So heißt es in der Begründung zu der durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz vom 21. 6. 2002 in das Börsengesetz eingefügten Regelung des § 12 Abs. 3 BörsG a.F. (der wortgleichen Vorläuferbestimmung des heutigen § 15 Abs. 6 BörsG): „Ergänzt wurde mit der Regelung in Abs. 3 der Hinweis darauf, dass auch die Börsengeschäftsführung die ihr nach diesem Gesetz zu¬ZHR 179 (2015) S. 1 (6)gewiesenen Aufgaben und Befugnisse nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt. Ebenso wie die anderen Börsenorgane und die Börsenaufsichtsbehörden wird die Geschäftsführung im Interesse der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Börse und nicht zum Schutz individueller Anlegerinteressen tätig.“22

IV. Legt man dies zugrunde, so spricht vieles dafür, dass beim öffentlichrechtlichen Anlegerschutz gegenüber einem freiwilligen Delisting im regulierten Markt „die Musik“ vornehmlich bei der durch § 39 Abs. 2 S. 4 BörsG begründeten objektiv-rechtlichen Verpflichtung der Börsen spielt, den Schutz der Anleger im Rahmen des Widerrufs im Rahmen ihrer Börsenordnung im Einzelnen auszugestalten. Bei der Erfüllung dieser Verpflichtung bewegen sich die Börsen keineswegs im kontrollfreien Raum; denn die Börsenordnung bedarf der Genehmigung der zuständigen Börsenaufsichtsbehörde (§ 16 Abs. 3 S. 1 BörsG). Diesen Schutz sollte man nicht gering schätzen. Zwar denkt der verwaltungsgerichtliche Rechtschutz „vom subjektiven Recht her“; was von diesem Ansatz aus gerichtlicher Kontrolle nicht zugänglich ist, bleibt jedoch „keineswegs von den zahlreichen sonstigen Kontrollen frei, die das Grundgesetz zur Durchsetzung rechtlicher Bestimmungen kennt“.23 Zu diesen Kontrollen zählt namentlich die – auch vom BGH erwähnte24 – Kontrolle durch die zuständigen Aufsichtsbehörden. Insofern realisiert sich auch der öffentlich-rechtliche Anlegerschutz nicht nur durch verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz, sondern auch durch die Verpflichtung der Börsen zur Einhaltung des objektiven Rechts, die darüber hinaus auch aufsichtsrechtlich durch die zuständigen Börsenaufsichtsbehörden kontrolliert und sanktioniert werden kann. Insoweit gilt es im Zuge der weiteren praktischen und wissenschaftlichen Durchdringung, diese objektivrechtliche Verpflichtung der Börsen nach § 39 Abs. 2 S. 4 BörsG mit Leben zu füllen. Näher zu bestimmen ist nicht nur die Reichweite der öffentlich-rechtlichen Pflicht zum Anlegerschutz, sondern auch die Reichweite der Befugnisse, die hierbei den Börsen durch die Börsenordnungen eröffnet sind.

Was den Umfang der Pflicht zu einem objektiv-rechtlichen Anlegerschutz angeht, so ist auch hier im Ausgangspunkt die Aussage wesentlich, dass ein Anlegerschutz gegenüber dem Widerruf der Börsenzulassung verfassungsrechtlich nicht indiziert ist. Insoweit besteht daher auch keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers und/oder der Börsen (in Gestalt des Satzungsgebers), einen öffentlich-rechtlichen Anlegerschutz vorzusehen, der über die aktienrechtlichen Schutzmechanismen hinausgeht. § 39 Abs. 2 S. 4 BörsG ist vielmehr nur ein einfachgesetzlicher Rechtsetzungsauftrag, der durch Ausgestaltung in der Börsenordnung zu erfüllen ist. Den Börsen ist in¬ZHR 179 (2015) S. 1 (7)soweit zwar kein Entschließungsermessen, wohl aber (in Ermangelung verfassungsrechtlicher Pflichten zum Anlegerschutz) ein breites Normsetzungsermessen in Bezug auf die Auswahl der zum Anlegerschutz getroffenen Mittel eingeräumt. Namentlich kann insoweit rechtlich nicht beanstandet werden, wenn sie sich für eine Ausgestaltung der Börsenordnung entscheiden, die über das aktienrechtliche Schutzniveau nicht hinausgeht.

Davon zu trennen ist die weitere Frage, inwieweit die Börsen im Rahmen ihrer Satzungsautonomie über das aktienrechtliche Schutzniveau hinausgehen dürfen. Hier geht es namentlich darum, ob es die Satzungsbefugnis der Börsen nach § 39 Abs. 2 S. 4 BörsG auch einschließt, den börsenrechtlichen Anlegerschutz von Maßnahmen der Gesellschaftsorgane abhängig zu machen, die gesellschaftsrechtlich so nicht vorgeschrieben sind. Darf eine Börse etwa in der Börsenordnung zum Zwecke des Anlegerschutzes ein Delisting von mit qualifizierter Mehrheit getroffenen Beschlüssen der Hauptversammlung abhängig machen? Oder darf die Börsenordnung – wie etwa in § 65 Abs. 4 der Börsenordnung der Börse Düsseldorf – auch nach der Kehrtwende des Bundesgerichtshofs ein Barabfindungsangebot des Mehrheitsaktionärs bzw. der Gesellschaft als Voraussetzung für den Widerruf der Börsenzulassung fordern? Hier stellt sich zunächst die Frage, ob der Satzungsgeber mit solchen Regelungen in unzulässiger Weise in das Gesellschaftsrecht eingreift. Dies muss im Ausgangspunkt vom öffentlichen Recht her beantwortet werden. Konkret geht es um die Reichweite der durch § 39 Abs. 2 S. 4 BörsG den Börsen eingeräumten Satzungsbefugnis. Sie ist die erforderliche bundesgesetzliche Legitimation der Börsenordnung.25 Deshalb ist allein durch Auslegung des § 39 Abs. 2 S. 4 BörsG zu ermitteln, ob die Reichweite der Satzungsermächtigung überschritten wird, wenn die Börsenordnung Anforderungen an das gesellschaftsrechtliche Zustandekommen der Entscheidung des Emittenten für einen Antrag auf ein Delisting stellt. Ist dies nicht der Fall, dann dürften solche satzungsrechtlichen Bestimmungen nicht schon daran scheitern, dass die Gesetzgebungsbefugnis für das Gesellschaftsrecht dem Bundesgesetzgeber zusteht, die Börsen hingegen verwaltungsorganisatorisch den Ländern zugeordnet sind. Denn die Satzungskompetenz des § 39 Abs. 2 S. 4 BörsG ist durch Bundesgesetz begründet worden mit der Folge, dass der Bundesgesetzgeber selbst das Bundesrecht für solche Regelungen geöffnet hat, welche die Börsen zum Zwecke des öffentlich-rechtlichen Anlegerschutzes gegenüber einem Delisting in ihren Börsenordnungen treffen.

Nur auf den ersten Blick gewichtiger ist der Einwand, dass die Regelungen der Börsenordnungen ihrer Rechtsnatur nach Benutzungsordnungen sind, die allein das Verhältnis der Börse zu den Anstaltsnutzern regeln dürfen, also zu den Emittenten26; denn obwohl die Anleger nicht zu den Nutzern der teil¬ZHR 179 (2015) S. 1 (8)rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts „Börse“ gehören, statuiert § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG den Schutz der Anleger ausdrücklich als eine Bedingung, von welcher die Zulässigkeit des Widerrufs der Börsenzulassung im Benutzungsverhältnis zwischen Börse und Emittent abhängen soll. Ein ausreichender Anlegerschutz zählt damit zu den gesetzlich vorgegebenen Rahmenbedingungen des börsenrechtlichen Benutzungsverhältnisses, soweit es um den Widerruf der Zulassung von Wertpapieren zum Handel im regulierten Markt geht.

Schließlich bleibt die Frage, ob der börsenrechtliche Satzungsgeber befugt ist, über die gesetzlichen Vorgaben des § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG hinaus die in Börsenordnung vorgesehenen Anforderungen an den Anlegerschutz subjektivrechtlich aufzuladen, so dass zwar nicht § 39 Abs. 2 S. 2 BörsG, wohl aber die auf der Grundlage von § 39 Abs. 2 S. 4 BörsG erlassenen satzungsrechtlichen Bestimmungen verwaltungsgerichtlichen Individualrechtsschutz vermitteln könnten.

V. Schon die vorstehenden Schlaglichter machen deutlich, dass es dringend geboten ist, den öffentlich-rechtlichen Gehalt des Anlegerschutzes beim Delisting von Wertpapieren, die zum Börsenhandel im regulierten Markt zugelassen sind, zu entfalten und von den gesellschaftsrechtlichen Anforderungen abzugrenzen. Dies gilt umso mehr, solange der Gesetzgeber die erforderliche Klarheit nicht schafft und nicht regelt, welche Aufgaben dem Gesellschaftsrecht und welche dem öffentlich-rechtlichen Börsenrecht zukommen sollen. Davon unabhängig muss der öffentlich-rechtliche Anlegerschutz durch die Praxis und durch die Verwaltungsrechtswissenschaft (deutlich) stärker als bisher in den Blick genommen und fortentwickelt werden. Während die Verwaltungsgerichte hierbei darauf angewiesen sind, dass sie durch Klagen mit solchen Fragen befasst werden, ist die Verwaltungsrechtswissenschaft frei, sich solcher Themen anzunehmen. Schon ein Blick auf die Zahl der einschlägigen verwaltungsrechtlichen Veröffentlichungen offenbart indes, dass hier erkennbare Defizite bestehen. Das gilt nicht nur für den hier behandelten Themenbereich „Delisting“, sondern etwa auch für Fragen wie die Kontrolle des Beteiligungserwerbs nach § 6 BörsG, § 2c KWG. Zu groß ist offenbar die Zurückhaltung vor wirtschaftsrechtlichen Sachverhalten. Im Ergebnis liegt damit für die öffentlich-rechtliche Forschung ein Gebiet brach, welches in gleicher Weise praktisch bedeutsam wie theoretisch interessant ist und Ertrag verspricht. Es ist zu hoffen, dass die Verwaltungsrechtswissenschaft dies bald erkennt, dass sie ihre bisherige Zurückhaltung aufgibt und sich künftig verstärkt derartigen Themen (wieder) zuwendet.

Thomas Mayen

1

BGBl. I, S. 529.

2

BGBl. I, S. 1330.

3

Nachweise bei Rosskopf, ZGR 2014, 487, 488 in Fn. 3 sowie 490 ff.

4

So die (Ergebnis-)Wiedergabe der Stellungnahme des 8. Senats des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/09 in BVerfGE 132, 99, Rdn. 35.

5

VG Frankfurt a.M., Beschluss v. 2. 11. 2001 – 9 G 3103/01 (V), AG 2003, 218; Urteil v. 17. 6. 2002 – 9 E 2285/01 (V), WM 2002, 1658; VG Düsseldorf – Beschluss v. 29. 8. 2007 – 20 L 1172/07 (juris); VG Frankfurt a.M., Beschluss v. 25. 3. 2013 – 2 L 1073/13.F, AG 2013, 847.

6

BGHZ 153, 47, 54 f., 56 f.

7

BGHZ 153, 47, 57.

8

BGHZ 153, 47, 56.

9

BVerfGE 132, 99, Rdn. 50 ff.

10

BVerfGE 132, 99, Rdn. 51.

11

BVerfGE 132, 99, Rdn. 71 ff.

12

BGH WM 2013, 2213

13

BGH WM 2013, 2213, Rdn. 13. Kritisch dazu etwa Habersack, JZ 2014, 147 ff.

14

BGH WM 2013, 2213, Rdn. 16.

15

Ebda.

16

Vgl. nur BVerfGE 45, 142, 170 f., 172 f.; 105, 252, 277 f.

17

BVerfGE 132, 99, Rdn. 53.

18

BVerfGE 132, 99, Rdn. 35.

19

BVerfGE 132, 99, Rdn. 35.

20

Die Stellungnahme des BVerwG ist wie üblich auch nicht veröffentlicht.

21

VG Frankfurt a.M., Beschluss v. 25. 3. 2013 – 2 L 1073/13.F, AG 2013, 847: „Der Wortlaut des § 15 Abs. 6 BörsG ist insoweit eindeutig und lässt keine andere Auslegung zu.“

22

BT-Drs. 14/8017, S. 74.

23

Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig, GG, Losebl., 72. Erg.-Lfg. Stand: Juli 2014, Art. 19 Abs. 4 Rdn. 11.

24

BGH WM 2013, 2213, Rdn. 16.

25

Ähnlich LG München I DB 1999, 2458, 2459.

26

So namentlich Paschos/Klaaßen, AG 2014, 33, 34; Stöber, BB 2014, 9, , 13; Hellwig/Bormann, ZGR 2002, 465, 476 ff.

 
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