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ZFWG 2017, 333
Koenig 

Austrittswege der Länder aus dem unionsrechtswidrigen Glücksspielstaatsvertrag

Abbildung 1

Der Koalitionsvertrag von CDU, GRÜNEN und FDP für eine gemeinsame Regierung in Schleswig-Holstein (S.-H.) von 2017 bis 2022 sieht auf Seite 11 („Glücksspiel“) vor, dass die Koalition dem Zweiten Glücksspieländerungsstaatsvertrag (2. GlüÄStV 2017) im Landtag S.-H. nicht zustimmen wird. Weiter wird dort angekündigt, dass S.-H. den Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrag (1. GlüÄStV 2012) „kündigen und mit anderen Ländern (z. B. Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen) nach einer tragfähigen, europarechtskonformen Lösung für den gesamten Bereich der Sportwetten einschließlich des Online Casinospiels sowie des Pokerspiels suchen [wird], die sich an den Regelungen des bis 2013 gültigen Glücksspielgesetzes Schleswig-Holstein orientiert“.

Dies wirft die Frage auf, wie die Kündigungsankündigung von S.-H. rechtstechnisch umsetzbar ist und ob sich nicht eine „pragmatische“ Vorgehensalternative anbietet: Statt einer förmlichen Kündigung des 1. GlüÄStV 2012 wäre angesichts der nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Februar 2016 in der Rechtssache Ince (C-336/14) in einmaliger Eindeutigkeit begründeten Unanwendbarkeit der unionsrechtswidrigen, den 1. GlüÄStV 2012 aber tragenden Regelungselemente eine Suspendierungserklärung gegenüber den anderen Ländern denkbar. Sodann könnte S.-H. durch eigenes Landesgesetz die Regelungen des bis 2013 gültigen Glücksspielgesetzes S.-H. modernisieren und ein neues, den unionsrechtskonformen „State of the Art“ kodifizierendes Landesgesetz in Kraft setzen. Das vormalige Glücksspielgesetz S.-H. hatte bereits damals den Segen der EU-Kommission im Notifizierungsverfahren nach der Richtlinie 98/34/EG erhalten. Demgegenüber ist der 1. GlüÄStV 2012 im EU-Notifizierungsverfahren und im 2015 eingeleiteten EU-Pilotverfahren 7625/15/GROW wegen der fehlenden Gesamtschlüssigkeit und damit der Unverhältnismäßigkeit der deutschen Glücksspielregulierung durchgefallen, was nunmehr ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland nach sich ziehen kann.

Der für alle Länder aufgesetzte 2. GlüÄStV 2017 wird nicht in Kraft treten, da S.-H. diesen nicht ratifizieren wird und nur für das Land Hessen ein Opting-out-Vorbehalt vorgesehen ist. Damit würde der 1. GlüÄStV 2012 über den 1. 1. 2018 hinaus (bis 2021) fortgelten, wäre dieser nicht in seinen tragenden Regelungselementen unionsrechtswidrig und damit nach der klaren Rechtsprechung des EuGH unanwendbar.

In seinem Urteil vom 4. 2. 2016 in der Rechtssache Ince hat der EuGH entschieden, dass die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) Deutschland daran hindert, die ohne Erlaubnis erfolgte Vermittlung von Sportwetten in seinem Hoheitsgebiet an einen Wirtschaftsteilnehmer, der in einem anderen Mitgliedstaat eine Lizenz für die Veranstaltung von Sportwetten innehat, zu ahnden. Dies folgert der EuGH aus der Unionsrechtswidrigkeit und damit Unanwendbarkeit der im 1. GlüÄStV 2012 vorgesehenen Erlaubnisvorbehalte und -verfahren aufgrund der insoweit festgestellten Inkohärenz, Unverhältnismäßigkeit bzw. Intransparenz.

Aber auch in Bezug auf andere Online-Glücksspiele erweist sich der 1. GlüÄStV 2012 als unionsrechtswidrig und unanwendbar. Für Online-Casinospiele ordnet der 1. GlüÄStV 2012 ein Internet-Totalverbot an (§ 4 Abs. 4). Demgegenüber sollte im Bereich der Online-Sportwetten aufgrund der Experimentierklausel des § 10a i.V.m. §§ 4 a ff. des 1. GlüÄStV 2012 ein – das staatliche Veranstaltungsmonopol ablösendes – restriktives Konzessionsmodell eingeführt werden, welches für sieben Jahre erprobt werden sollte (aller¬ZfWG 2017 S. 333 (334)dings ohne dass die vorgesehenen 20 Probekonzessionen wegen der unions- und verfassungsrechtlich begründeten Blockade der hessischen Verwaltungsgerichte bisher erteilt werden konnten).

Gegen die regulatorische Ungleichbehandlung zwischen Online-Sportwetten und Online-Casinospielen hat bereits die Europäische Kommission in ihrer Stellungnahme vom 20. 3. 2012 zu dem notifizierten Entwurf des 1. GlüÄStV 2012 und in dem im Juni 2015 eingeleiteten EU-Pilotverfahren 7625/15/GROW erhebliche unionsrechtliche Bedenken angemeldet. Bemängelt werden offenkundige Insuffizienzen hinsichtlich der Erfüllung der mitgliedstaatlichen Darlegungs- und Nachweispflicht zur Erforderlichkeit und Kohärenz eines Totalverbots von Online-Casinospielen (und Online-Poker) ohne einen diesbezüglichen empirischen Gefährlichkeitsnachweis. Der Inkohärenzvorwurf der Europäischen Kommission betont insbesondere, dass den Online-Casinospielen (und Online-Poker) nach inzwischen gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Therapie- und Prävalenzstudien kein den zulassungsfähigen Online-Sportwetten, geschweige denn den gewerberechtlich (insbesondere in Gaststätten liberal) zugelassenen Automatenglücksspielen zukommender höherer Suchtgefährlichkeitsgrad attestiert werden kann. Damit verletzt das Online-Casinospiele treffende Totalverbot nach § 4 Abs. 4 des 1. GlüÄStV 2012 die vom EuGH aufgestellten Verhältnismäßigkeits- und Kohärenzmaßstäbe.

Die Unionsrechtswidrigkeit bedingt die Unanwendbarkeit der den 1. GlüÄStV 2012 tragenden Verfahrens- und Verbotsregelungen. Nach der ständigen und klaren Rechtsprechungslinie des Gerichtshofs von dem Urteil Placanica (2007) bis zu dem Urteil Ince (2016) schließt dies die Unanwendbarkeit jedweder Sanktionsregelungen gegenüber den unionsrechtswidrig von einer Zulassung ausgeschlossenen Anbietern ein. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Wirkung des Internetverbots (§ 4 Abs. 4) sowie auf den für Online-Casinospiele unüberwindbaren Erlaubnisvorbehalt (§ 4 Abs. 1). Die Aufsichtsbehörden dürfen bis zu einer unionsrechtskonformen Neuregelung der regulatorischen Bedingungen und Auflagen der Veranstaltung und Vermittlung von Glücksspielen im Internet gegen bisher ausgeschlossene Anbieter aus anderen Mitgliedstaaten keine – auf das unionsrechtswidrige Online-Verbot bzw. auf den unüberwindbaren Erlaubnisvorbehalt gestützte – Sanktionen, wie sofort vollziehbare Untersagungsverfügungen, erlassen.

Folge der unionsrechtlichen Unanwendbarkeit des 1. GlüÄStV 2012 ist, dass über 2018 hinaus ein Regulierungsvakuum und ordnungsrechtliches Vollzugschaos besteht und angesichts des drohenden verwaltungsgerichtlichen Klage-Tsunamis noch dramatischer bevorsteht. Dieser dann bis zum Außerkrafttreten des 1. GlüÄStV 2012 im Juli 2021 bestehende „anarchische“ Zustand ist rechtsstaatlich wie unionsrechtlich nicht hinnehmbar. So hat der EuGH insbesondere mit seinem Ince-Urteil klargestellt, dass alle staatlichen Stellen gehalten sind, selbst für eine Übergangsphase einen unionsrechtskonformen Zustand herzustellen, ggf. durch eine interimsweise Einführung eines „fiktiven“ Erlaubnisverfahrens, welches den unionsrechtlichen Transparenzanforderungen vollumfänglich genügen muss. Die Länder sind damit dringend aufgerufen, auf gesetzlicher Grundlage eine unionsrechtskonforme – wenn auch nur vorläufige – Glücksspielregulierung zu etablieren. Ob dies durch unilaterale Landesgesetze, staatsvertraglich oder „im abgestimmten Länderblock“ geschieht, ist zweitrangig.

Auf gar keinen Fall können staatsvertraglich restriktiv gehaltene Kündigungsregelungen oder das staatsvertragliche „pacta sunt servanda“ weder S.-H. noch die anderen Länder zwingen, unionsrechtswidrige Normen anzuwenden. Denn der allgemeine Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda“ ist staatsvertraglich wie verwaltungs- und zivilrechtlich dem Vorbehalt der Vereinbarkeit des Vertrages mit höherrangigem Recht und damit auch dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts unterworfen.

Der 1. GlüÄStV 2012 sieht in § 35 Abs. 3 eine explizite Kündigungsregelung nur für den Fall der – durch Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz möglichen – Fortgeltung des Staatsvertrages nach seinem Ablaufdatum des 30. Juni 2021 vor. Erst danach regelt § 35 Abs. 3 eine Kündigungsmöglichkeit der Länder „zum Schluss eines Kalenderjahres“. Angesichts des unbedingten Anwendungsvorrangs des Unionsrechts kann den Ländern indes nicht aufgegeben werden, an dem in seinen tragenden Regelungen unionsrechtswidrigen und damit nach der klaren Rechtsprechung des EuGH unanwendbaren 1. GlüÄStV 2012 bis zu seinem Ablaufdatum am 30. Juni 2021 festzuhalten. Neben dem allgemeinen Rechtsgrundsatz einer Vertragsauslegung nach Treu und Glauben (bona fides) gebietet es der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, den Ländern – auch ohne explizite Regelung im 1. GlüÄStV 2012 – das Recht zur fristlosen Kündigung mit sofortiger Wirkung aus zwingendem Grund einzuräumen.

Ein von der Unionsrechtswidrigkeit des 1. GlüÄStV 2012 überzeugtes Bundesland sollte unter ausführlicher Bezugnahme auf dessen Unanwendbarkeit diesen mit sofortiger Wirkung fristlos, aber förmlich aus zwingendem Grund (unbedingter Anwendungsvorrang des Unionsrechts) kündigen. Dagegen liefe eine bloße Unanwendbarkeitserklärung Gefahr, Fragen zur Weitergeltung des 1. GlüÄStV 2012, insbesondere in Bezug auf rein innerstaatliche Regulierungssachverhalte ohne grenzüberschreitenden Bezug, aufzuwerfen, zumal der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur die Unanwendbarkeit, nicht aber eine Ungültigkeit (Nichtigkeit) unionsrechtswidriger Normen bewirkt. Sodann könnte ein neues, den unionsrechtskonformen „State of the Art“ kodifizierendes Landesgesetz in Kraft gesetzt werden.

Univ.-Prof. Dr. Christian Koenig, LL.M. (LSE), Bonn*

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