Schienenkartell V: Einwand des passing-on bei Streuschäden u. U. ausgeschlossen
Dr. Patrick Hauser
Kartellschadensersatzprozesse in Deutschland dauern zu lang und sind zu teuer. Die mit der Richtlinie 2014/104/EU bzw. deren Umsetzung mittels der 9. GWB-Novelle eingeführten Erleichterungen der klägerischen Schadensdarlegung spielen in der Gerichtspraxis noch(!) keine Rolle. Dem BGH war es daher in den bisherigen Schienenkartell-Urteilen offenbar ein Anliegen, die Schadensbezifferung zu erleichtern und Kartellverfahren zu beschleunigen. Der BGH betonte u. a. den Spielraum der Gerichte bei der Beweiswürdigung hinsichtlich des „Ob“ des Schadens (BGH, 28.01.2020 – KZR 24/17, WRP 2020, 614 Rn. 33 ff. – Schienenkartell II), erleichterte die klägerische Beweisführung bezüglich des Umfangs der gesamtschuldnerischen Haftung der Kartellanten (BGH, 19.05.2020 – KZR 70/17, WRP 2020, 1430 Rn. 30 ff. – Schienenkartell III), gab Hinweise zur Darlegung von Preisschirmeffekten (BGH, 19.05.2020 – KZR 8/18, WRP 2020, 1435 Rn. 37 ff. – Schienenkartell IV) und wirkte der Tendenz zum Erlass von Grundurteilen entgegen (BGH, 28.01.2020 – KZR 24/17, WRP 2020, 614 Rn. 51 ff. – Schienenkartell II).
Die fünfte BGH-Entscheidung im Schienenkartell (BGH, 23.09.2020 – KZR 4/19, WRP 2021, 205, in diesem Heft – Schienenkartell V) reiht sich in diese Serie ein. Eine ausführliche Würdigung des Urteils kann hier nicht erfolgen. Wegweisend sind aber jedenfalls die Hinweise zum Vorteilsausgleich, denen der BGH (obiter) 36 (von 71) Randnummern widmet: Grundsätzlich ist eine klägerische Weiterwälzung des kartellbedingten Preisaufschlages auf die nächste Marktstufe (passing-on) nach den Grundsätzen des Vorteilsausgleichs (§ 242 BGB) zu berücksichtigen und mindert den Schadensersatzanspruch entsprechend. Bislang war jedoch umstritten, ob dies auch bei Streuschäden gilt, wenn also der Schaden auf eine Vielzahl nachgeordneter Marktteilnehmer abgewälzt wurde, die aufgrund ihrer jeweiligen sehr geringen Schäden ein rationales Desinteresse an einer klageweisen Durchsetzung haben. Solange wirksame kollektive Rechtsschutzmöglichkeiten fehlen, besteht bei Anerkennung des Vorteilsausgleichs in dieser Situation die Gefahr, dass die Beklagten nicht alle entstandenen Schäden ersetzen müssen, sofern der Nachweis des pass-on gelingt. Die Versagung des Vorteilsausgleiches hingegen kann zur Überkompensation der Kläger führen und konfligiert mit dem schadensrechtlichen Bereicherungsverbot. Der BGH hatte zuvor zwar bereits eine Tendenz erkennen, die Frage aber offengelassen (BGH, 19.05.2020 – KZR 8/18, WRP 2020, 1435 Rn. 62 – Schienenkartell IV). Nun bezieht er Stellung: Der Passing-on-Einwand komme im Streitfall aus Rechtsgründen nicht in Betracht (Rn. 48).
Anschaulich skizziert der BGH den vorgenannten Zielkonflikt und löst diesen überzeugend zu Gunsten der Schadensersatz fordernden Klägerin auf. Eine mehrfache Inanspruchnahme der Schädiger müsse zwar weitestgehend vermieden werden, eine Nicht- oder nur Teilhaftung der Kartellbeteiligten sei aber mit dem Zweck des Kartellschadensersatzanspruchs, der nicht nur der Kompensation, sondern auch dem Schutz der Wettbewerbsintegrität dient, nicht zu vereinbaren (Rn. 50). Eine Anerkennung des Vorteilsausgleichs würde die Kartellbeteiligten unbillig entlasten, da die mittelbar Geschädigten ihre individuell zu geringen Schäden nicht klageweise durchsetzten (Rn. 51, 58).
Pauschale Urteile verbieten sich indes. Richtigerweise betont der BGH, dass die Umstände des Einzelfalles maßgeblich sind (Rn. 51). Nur wenn eine doppelte Inanspruchnahme der Kartelltäter ausscheidet, kommt eine Versagung des Passing-on-Einwands in Betracht. Die Argumentation des BGH ist nicht notwendig auf Streuschäden beschränkt, sondern kann wohl auch in anderen Konstellationen herangezogen werden, in denen eine unbillige Schädigerentlastung droht.
In der Richtlinie 2014/104/EU ist der Zielkonflikt zwischen der Vermeidung der Überkompensation des Geschädigten (Art. 3 Abs. 3, Art. 12 Abs. 2) und der Verhinderung der Nichthaftung des Rechtsverletzers (Art. 12 Abs. 1) ebenfalls angelegt und nicht aufgelöst. Da die Richtlinie auf den entschiedenen Fall nicht anwendbar ist, musste der BGH zur Richtlinienkonformität keine Stellung nehmen, benennt aber die dafür streitenden Gründe (Rn. 52 f.). Der EuGH betont in ständiger Rechtsprechung (siehe nur EuGH, 12.12.2019 – C-435/18, WRP 2020, 179 Rn. 24 – Otis u. a./Land Oberösterreich u. a.) die Bedeutung des Kartellschadensersatzanspruchs zur Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften, so dass auch unionsrechtlich eine Überkompensation des Geschädigten eher akzeptabel erscheint als eine ungerechtfertigte Schädigerentlastung (Kersting, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, 4. Aufl. 2020, § 33c GWB Rn. 15). Das Urteil dürfte daher auch unter Zugrundelegung der Rechtslage nach der 9. GWB-Novelle Bestand haben und auch die anstehende 10. GWB-Novelle bringt in dieser Hinsicht nichts Neues. Aus Sicht der beklagten Kartelltäter dürfte es daher nur ein schwacher Trost sein, dass die instruktiven Ausführungen des BGH zur Darlegung des passing-on (Rn. 37 ff.) einen substantiierten Vortrag desselben zukünftig erleichtern dürften.
Die Versagung des Vorteilsausgleichs erleichtert die gerichtliche Schadensberechnung, was wohl ein willkommener (Neben-)Effekt sein dürfte. Allein diese Erwägung würde die Entscheidung des BGH indes nicht tragen (vgl. auch Rn. 56 f.), da einzig der begünstigte Kläger über die erforderlichen Informationen zur Bezifferung des pass-on verfügt. Zur Verfahrenseffizienz beitragen kann auch die Vorgehensweise des LG Dortmund, das kürzlich die Höhe des entstandenen (Mindest-)Kartellschadens ohne Zuhilfenahme eines Sachverständigengutachtens geschätzt hat (LG Dortmund, 30.09.2020 – 8 O 115/14 (Kart), BB 2020, 2575, Rn. 132 ff. – Schienenkartell). Eine Befassung des BGH mit dieser Thematik kann mit Spannung erwartet werden. Da Schienenkartell VI und VII wohl bereits vor dem BGH verhandelt wurden, wird die Serie jedenfalls sicher fortgesetzt.
Dr. Patrick Hauser, Düsseldorf