Erweiterte Missbrauchsaufsicht für große Digitalkonzerne – Erste Entscheidungen auf Basis des neuen § 19a GWB
Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes
Im Juli 2022 hat das Bundeskartellamt festgestellt, dass Amazon ein Unternehmen mit „überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb“ ist. Amazon ist damit der dritte große Digitalkonzern nach Google bzw. Alphabet und Meta (ehemals Facebook), der auf Basis des mit der 10. GWB-Novelle im Januar 2021 eingeführten § 19a GWB einer erweiterten Missbrauchsaufsicht unterliegt. Ein entsprechendes Verfahren gegen Apple läuft aktuell noch. § 19a GWB – von manchen Kommentatoren als revolutionäre Veränderung der Missbrauchsaufsicht eingestuft (Haucap/Schweitzer, Editorial WRP Heft 7/2021) – soll dem Bundeskartellamt ein effektiveres und frühzeitigeres Eingreifen bei Wettbewerbsgefährdungen durch große Digitalkonzerne ermöglichen.
§ 19a GWB sieht ein zweistufiges Vorgehen vor, bei dem das Bundeskartellamt in einem ersten Schritt feststellen kann, dass ein Unternehmen eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb innehat. In einem zweiten Schritt können einem solchen Unternehmen dann bestimmte Verhaltensweisen untersagt werden. Bei einer Entscheidung nach § 19a Abs. 1 GWB, dass ein Unternehmen als Normadressat einzustufen ist, wird die marktübergreifende Bedeutung des Unternehmens insgesamt in den Blick genommen. Es bedarf hierbei nicht zwingend einer marktbeherrschenden Stellung. Gleichzeitig können marktübergreifende Wechselwirkungen von Diensten innerhalb eines digitalen Ökosystems berücksichtigt werden. Dies erkennt an, dass in der Digitalwirtschaft regelmäßig Marktgrenzen verschwimmen können und es durch Expansionsstrategien zu beständigen Erweiterungen kommen kann. Auch können Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung innerhalb ihres Ökosystems beispielsweise über die Möglichkeit verfügen, die Zugangsbedingungen und damit die Wettbewerbsmöglichkeiten festzulegen oder zumindest stark zu beeinflussen.
In allen drei bisher entschiedenen Fällen lag der Feststellung nach § 19a Abs. 1 GWB der Umstand zugrunde, dass das jeweilige Unternehmen über eine Machtposition verfügt, die ihm vom Wettbewerb nicht hinreichend kontrollierte marktübergreifende Verhaltensspielräume eröffnet. So war etwa in der jüngsten Entscheidung in Bezug auf Amazon maßgeblich, dass Amazon der Schlüsselspieler im Bereich des E-Commerce ist. Mit seiner Handelsplattform amazon.de hat Amazon eine zentrale strategische Position im deutschen Online-Einzelhandel inne. Bei Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler in Deutschland verfügt Amazon über einen umsatzbezogenen Marktanteil von über 70 Prozent und ist damit nach Auffassung des Bundeskartellamtes marktbeherrschend. Verstärkt wird die enorme Bedeutung der Amazon-Handelsplattform durch die eigene Einzelhandelstätigkeit auf der Plattform. Daneben verfügt Amazon nicht nur über einen hervorragenden Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten und sonstigen Ressourcen, sondern auch über eine Regelsetzungsmacht, die dafür sorgt, dass Amazon den Zugang anderer Unternehmen zu Absatz- und Beschaffungsmärkten kontrollieren und dabei seine Doppelrolle als Händler und Marktplatz ausspielen kann. Sein breites Portfolio an Geschäftstätigkeiten hat Amazon, vor allem durch das Prime-Angebot, zu einem stark integrierten digitalen Ökosystem verbunden, das dazu beiträgt, Nutzergruppen in diesem Ökosystem zu halten.
Beim Bundeskartellamt laufen aktuell eine Reihe von Verfahren, die sich auf § 19a Abs. 2 GWB stützen und damit konkrete, potentiell wettbewerbsgefährdende Verhaltensweisen in den Blick nehmen. Bei Google beschäftigen wir uns zum einen mit der diensteübergreifenden Datenverarbeitung und den diesbezüglichen tatsächlichen Wahlmöglichkeiten der Nutzer. Zum anderen prüfen wir das Angebot Google News Showcase u. a. hinsichtlich der Frage, ob mit der ursprünglich angekündigten Einbindung in die allgemeine Suche eine Selbstbevorzugung Googles droht. In einem dritten Verfahren befassen wir uns mit der Google Maps Platform und prüfen u. a., ob Google die Kombination seiner Kartendienste mit Kartendiensten Dritter einschränkt. Bei Meta schauen wir uns die Verknüpfung von Oculus-Virtual-Reality-Produkten – nunmehr vertrieben unter dem Namen Meta Quest – mit dem sozialen Netzwerk Facebook an, da eine Kopplung an ein Facebook-Konto wettbewerblich problematisch sein könnte. Schließlich untersuchen wir, ob Apples Tracking-Regelungen für Dritt-Apps im Zusammenhang mit dem sog. App Tracking Transparency Framework (ATTF) eine Selbstbevorzugung und/oder Behinderung anderer Unternehmen durch Apple darstellen.
Auf europäischer Ebene verfolgt der bald in Kraft tretende Digital Markets Act (DMA) grundsätzlich ähnliche Ziele wie der § 19a GWB. Jedoch bleibt auch in Zukunft die Anwendung des europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts unverzichtbar. Beispielsweise ist hier an Konstellationen zu denken, in denen ein betroffener Dienst von der Liste der zentralen Plattformdienste im DMA nicht erfasst ist oder wenn einem Unternehmen eine Pflicht auferlegt werden soll, welche über die konkret umgrenzten Verhaltenspflichten des DMA hinausgeht. Aufbauend auf dem etablierten European Competition Network werden sich die nationalen Wettbewerbsbehörden dabei untereinander, vor allem aber mit der für die DMA-Durchsetzung zuständigen Europäischen Kommission, eng austauschen.
Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes, Bonn