Eine Generationenaufgabe: Kartellrecht zwischen GAFAs und Innovationspolitik
Prof. Dr. Rupprecht Podszun
Eigentlich ist Pathos nicht die Sache von Johannes Laitenberger, der als Generaldirektor Wettbewerb in der EU-Kommission seiner Chefin Margrethe Vestager den Rücken freihielt. Doch bei einer Konferenz im Januar 2019 in Brüssel sprach Laitenberger ein Schlusswort mit Gänsehaut-Potenzial:
„We are at a watershed and what is shaped and what is not shaped today will again define things for generations to come.“
Laitenberger meinte die Reformen des Kartellrechts im Angesicht der Digitalisierung – eine Generationenaufgabe. Mit Google, Amazon, Facebook und Apple, den sogenannten GAFAs, haben sich Gatekeeper im Internet entwickelt, deren Geschäftsmodelle nicht mehr darauf ausgerichtet sind, sich im Wettbewerb an der Spitze zu behaupten. Wettbewerb ist für diese Akteure so überflüssig wie ein langweiliges Zwischenlevel in einem Computerspiel. Sie setzen auf den schnellen Durchmarsch: Markteintritt – Skalierung – Monopol. In der Plattformwirtschaft ermöglichen Netzwerkeffekte solche Erfolge; inzwischen bauen die GAFAs zudem digitale Ökosysteme auf, in denen Verbraucher und andere Unternehmen gefangen werden. Vom Log-in zum Lock-in.
Kartellrecht – das zur Erinnerung – soll den Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen verhüten – so steht es in Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 des Grundgesetzes. Der 1. Kartellsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf hat in seiner Facebook-Entscheidung (OLG Düsseldorf, 26.08.2019 – Kart 1/19 (V), WRP 2019, 1333 ff.) ausbuchstabiert, was das bedeutet: Kartellrecht soll die Freiheit des Leistungswettbewerbs und die Offenheit der Marktzugänge sichern. Geht das mit den Regeln aus den 1950er Jahren noch?
Es fällt schwerer. Aber auch mit verschärften neuen Regeln werden viele der mit den GAFAs assoziierten Probleme nicht gelöst. Fake News, Datenlecks oder das Sterben der Innenstädte wegen der Ausbreitung des Onlinehandels, all das sind ernstzunehmende Themen. Mit wirtschaftlicher Freiheit haben sie aber nur am Rande zu tun. Das eigentliche Ziel der anstehenden Novellierungen von GWB und Gruppenfreistellungsverordnungen ist ein anderes: Die europäische Wirtschaft soll den Anschluss an die Digital-Konzerne im Silicon Valley und in China schaffen. Dazu braucht sie Zugang zu Daten und eine erleichterte Zusammenarbeit für vernetzte Anwendungen. Die digitalen Marktbeherrscher hingegen brauchen ein Mindestmaß an Ordnungsrahmen für ihre Tätigkeit.
Das mag nach industriepolitischer Vereinnahmung klingen, aber natürlich ist Kartellrecht legitimer Teil wirtschaftspolitischer Strategien. Vernünftige Wirtschaftspolitik setzt nicht auf Industriepolitik mit der Brechstange (Stichwort: Ministererlaubnis), sondern auf die Ermutigung kleiner und mittlerer Unternehmen und die Ermöglichung von Innovationen.
Das ist in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage durchaus eine Generationenaufgabe. Erfolg hat eine solche Strategie aber nur, wenn das Verfahrensrecht nicht aus dem Blick gerät. Die Durchschlagskraft des Kartellrechts entscheidet sich nicht so sehr am materiellen Recht, sondern am institutionellen Design. Bislang dauern Verfahren zu lange, sie sind häufig zu aufwändig, Abhilfemaßnahmen greifen eher zufällig. Das bleibt eine Dauerbaustelle, Beispiel: Zugang zu Daten. Wenn im GWB ein Anspruch darauf etabliert wird, sind die problematischen Folgefragen noch nicht gelöst: Welche Daten, in welcher Form, in welcher Aktualität, für welchen Zeitraum, gegen welches Entgelt? Das wird die Praxis in quälende Auseinandersetzungen verwickeln. Der Hold-up von Innovationen wird nicht gelöst, wenn das Verfahrensrecht nicht Schritt hält.
In der aktuellen Reformdebatte bleibt die private Rechtsdurchsetzung unterbelichtet, obwohl sie einen gewichtigen Beitrag leisten könnte. Bei kartellrechtlichen Schadensersatzprozessen ist offenkundig, dass die Hoffnungen nicht erfüllt wurden, die durch die Richtlinie 2014/104/EU geweckt wurden. Aber auch bei Klagen im Digitalsektor droht Stillstand, wenn die Anforderungen in behördlich initiierten Verfahren immer höhergeschraubt werden. Eine Norm wie § 20 GWB ist nur so stark, wie sie im private enforcement gemacht wird.
Sind die Reformen also vergebene Liebesmüh? Keineswegs! Die Grenzen des Kartellrechts werden behutsam erweitert, und damit werden die Chancen verbessert, Leuchtturmverfahren zu führen. Flächendeckende Wirkung erzielen die großen Verfahren nicht, aber in ihnen werden Marktverhältnisse transparent, Probleme markiert und ökonomisch sinnvolle Prinzipien entwickelt. Der nächste Schritt ist dann häufig die Verallgemeinerung in Richtlinien und Verordnungen – siehe P2B-Verordnung. Das Kartellrecht wird dann zum Schrittmacher der Regulierung.
Schon dieses Wort lässt manche Freunde des freien Wettbewerbs zusammenzucken. Doch Freiheit auf Märkten entsteht nicht durch Abwesenheit von Regulierung. Fehlt eine freiheitssichernde Ordnung – mit klugen materiellen Vorgaben und einem effizienten, zweigleisigen Durchsetzungsregime –, setzen die Mächtigen ihre Regeln durch. Das ist eine alte Erkenntnis – „Freiheitsparadoxon“ haben Platon, Popper und Fikentscher das genannt. Auch alte Erkenntnisse muss sich aber jede Generation neu erkämpfen.
Prof. Dr. Rupprecht Podszun, Düsseldorf